40 research outputs found

    Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang : Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800

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    „Seht, wie der Mensch mitten unter allen niedrigen Geschöpfen, die ihn umringen, voll Selbstgefühls da steht (...); mit welchen weitreichenden Blicken er alles, was um ihn her ist, überschauet, sondert, ordnet, verbindet, umfasset", schreibt GJ. Zolligkofer in seinen „Predigten über die Würde des Menschen" von 1784. Aufrechter Gang, aufrechte Haltung sind im ausgehenden 18. Jahrhundert wichtige Synonyme für das bürgerliche Selbstbewußtsein. Die Frage eines dem aufsteigenden Bürgertum angemessenen Habitus wird zum Gegenstand einer Diskussion, die medizinische, pädagogische, philosophische und politische Ebenen in ausdrückliche Beziehung zueinander setzt; und es lassen sich - gewiß nur bei einer Avantgarde - auch entsprechende Veränderungen der Körpersprache konstatieren, in denen teilweise Prinzipien einer erst viel später, ja bis heute nicht eingelösten demokratischen Kultur des Körperverhaltens erprobt werden. Gleichzeitig zeigt sich dies Bürgerlich-Aufrechte von Anfang an als Vereinigung mehrerer und mehrdeutiger Körperprinzipien, die in der weiteren Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet, auseinandergetrieben und doch immer wieder als scheinbar einsinnig artikuliert werden

    Der Mann - voran! Beobachtungen zur Gehkultur

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    Nach einer Umfrage aus dem Jahre 1986 machten 10% der Bundesbürgerinnen täglich oder fast täglich einen Spaziergang oder eine Wanderung. Und die Frauen lagen dabei mit 11,7% deutlich vor den Männern mit 8,1% - wobei Einkaufsgänge ausgeklammert waren. Ist das Flanieren also keine Männerdomäne mehr? Gehen Frauen heute womöglich ebenso oft alleine zum Stadtbummel oder Parkspaziergang wie Männer - zumindest bei Tageslicht und in frequentierten Gegenden? Und wie sieht es aus, wenn sie mit Männern zusammen gehen: Schreiten die Frauen inzwischen pari passu, in gleichberechtigtem Schritt und Tritt, mit den Männern einher, oder gilt für Paare auf der Straße immer noch die schon von einem Anstandsbuch der 50er Jahre belächelte Regel „Er links vorn weg, sie schräg rechts hinterher"

    Die Gogenwitze oder Tübinger Volkskultur in der Moderne

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    Der >Durchbruch< der Gogenwitze im Ersten Weltkrieg, so läßt sich resümieren, verdankt sich einer bildungsbürgerlichen Öffnung gegenüber Volkskultur, die mehrdeutigen Charakter hat. Politisch gesehen, enthält die neue Sympathie für die »Gogen« gewiß eine antiständische, ja demokratische und soziale Komponente; doch wird diese zumindest in den vorliegenden Zeugnissen von einer Kriegsgemeinschaftsidee dominiert, hinter der schon die spätere »Volksgemeinschaft« (mitsamt Theodor Haerings »Rede auf Alt-Tübingen« von 1937) lauert — eine Gesellschaft, in der sich in Wahrheit die Intelligenz gar nicht Volksbedürfnissen öffnet, sondern zusammen mit dem Volk nur sogenannten nationalen oder völkischen Interessen unterworfen wird. Sozialpsychologisch betrachtet, markiert die öffentliche Kenntnisnahme der Gogenwitze ein gewisses Zurückdrängen wilhelminisch-viktorianischer Doppelmoral, eine partielle Ermäßigung von Körpertabus und Körperlichkeitsverleugnung; aber in der Freude über die »Derbheit« und »Natürlichkeit« der Tübinger Weingärtner steckt auch Sadomasochismus: Das Bekenntnis dazu, daß der Mensch auch Fleisch sei, scheint in manchem Lachen über die Gogenwitze von dem Zynismus überschrien zu werden, daß der Mensch ja gar kein Mensch, sondern bloß ein Stück Fleisch sei — oder, wie Paul Englisch es in seinem Buch über Skatologica meinte, »ein Häuflein Dreck«(71)

    Zu Hans Robert Jauß' Programm einer Rezeptionsästhetik

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    In der gegenwärtigen Reform der Germanistik zeigt sich eine starke Hinwendung zur Kommunikations- und vor allem Wirkungsforschung. Zumindest objektiv koinzidiert das mit dem herrschenden Interesse, kulturelle Güter im Dienst des Profits oder, indirekter, des Profitsystems an den Mann zu bringen und überhaupt ästhetisch vermittelte Sozialtechniken für sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu entwickeln. Doch stuft sich diese Wissenschaftsrichtung nicht nur von Auftragsüber Grundlagenforschung bis hin zu ihrer selbst nicht bewußter Anlehnung an gesellschaftliche Tendenzen in der Methodologie; sondern dieser Trend trifft sich auch mit dem - meist von den Studierenden getragenen - zu einer Literaturwissenschaft als Gesellschaftswissenschaft, wobei z. T. sogar erkannt wurde, daß diese ohne Einbeziehung zumindest einiger marxistischer Erkenntnisse nicht mehr auskommt

    Banane

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    Unter der Überschrift "Als wir den goldenen Westen betraten" beschreibt Renate Fabel den ersten Tag, den sie nach ihrer Ausreise aus Ostdeutschland in Westberlin verbrachte: "An einem Wagen mit Obst, wo es auch wirklich welches gab und trotzdem keine Schlange davor stand, kaufte Mutti drei Bananen. Sie schmeckten sehr weich und nach Mehl, und danach hatte man keinen Hunger mehr." Die Geschichte hat zumindest drei verborgene Pointen. Die erste, daß ihre Autorin eigentlich mehr für Mandarinen als für Bananen schwärmt, sei mit Rücksicht auf die Titelfrucht dieses Beitrags übergangen. Die zweite ist, daß die Szene nicht, wie man vermuten könnte, Ende 1989 spielt, als die Banane - Gottfried Korff hat es dargestellt - zum vielbelachten Symbol für die ostdeutsche Bedürfnislage gemacht wurde, sondern gegen Ende des Jahres 1949. Das führt auf eine richtige Fährte: In der Tat ist die deutsche Frage von Anfang an auch eine Bananenfrage, und der östliche Mangel an der Süd- oder besser Westfrucht Banane ist schon in den 50er Jahren "ein häufig gebrauchtes Argument gegen die Ostzone". Die dritte Pointe liegt darin, daß 1949 das Jahr war, in dem auch viele westdeutsche Kinder zum ersten Mal nach einer Banane greifen konnten. Im Sommer 1949 trafen in den Westzonen die ersten größeren Bananenimporte seit dem Kriege ein. Die Banane als Symbol der Wiedervereinigung mit dem Weltmarkt, der Bananengeschmack als Geschmack von Freiheit und Abenteuer: diese den Ostdeutschen 1989/1990 zugeschriebenen Empfindungen waren - mutatis mutandis - 1949/1950 ein westdeutsches Massenerlebnis

    Die relative Autonomie der Literatur

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    Das vorliegende Referat will sich dem Problem der literarischen Autonomie weder durch eine Einzelanalyse noch durch eine methodologische Erörterung, sondern durch einen entwicklungsgeschichtlichen Überblick nähern. Dieser Überblick soll einigen anfangs aufzustellenden Behauptungen nachgehen, aus denen sich auch Anforderungen an die Literaturwissenschaft ergeben; sie sollen am Ende des Vortrags formuliert werden

    Autonomie und Indienstnahme - Zu ihrer Beziehung in der Literatur der bürgerlichen Gesellschaft

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    Der entwicklungsgeschichtliche Überblick über das Problem der literarischen Autonomie, der im folgenden versucht werden soll, verweist in seinen nicht unabsichtlich beibehaltenen plädoyerhaften Zügen darauf, daß er die Weiterbearbeitung eines Referats darstellt, das vor einem Forum von Germanisten gehalten wurde. [1] Ausgegangen wurde dabei von Thesen: Zunächst der, daß das als literarische Autonomie Bezeichnete relativ in einem doppelten Sinne ist. Einmal hängt Literatur, Produkt einer besonderen Form gesellschaftlicher Arbeit, in ihren Möglichkeiten stets vom System gesellschaftlicher Praxis ab, das wesentlich von der Produktionsweise des materiellen Lebens bestimmt ist. Dies schließt, zum andern ein, daß die sogenannte autonome Literatur und mit dieser die Vorstellung genuin autonomer Werke Ausdruck der Bewegung dieses Praxiszusammenhangs selbst, also auch historisch relativ ist und als insbesondere mit der bürgerlichen Gesellschaft Entstandenes deren eigener Entwicklung folgt

    Kritik am »Viet Nam Diskurs«

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    Das Dokumentartheater gehorcht dem Mechanismus einer Identifikation mit dem Angreifer. Einmal betreibt es, dem Verschwinden bisher noch relativ autonomer Uberbaubereiche entsprechend, Mimesis von Kommunikationsweisen, als deren Kritik sich moderne Kunst einst konstituierte: »Das dokumentarische Theater ist Bestandteil des öffentlichen Lebens, wie es uns durch die Massenmedien nahe gebracht wird. «1 Als Reaktion auf die Hegemonie der Wissenschaft hinwieder neigt es dazu, deren schlechte Trennung von Kunst, welche im Theater »Kräfte, die nicht rationalisierbar sind«2, respektierte, eher zur Konzinnität als zur Vermittlung hin korrigieren zu wollen, so daß Hegels Satz, die Kunst gehöre mehr der Remission des Geistes an, gerade durch den Versuch, ästhetische Mittel zu wissenschaftlichem Zweck anzuwenden, bestätigt zu werden droht

    "Massentritt" : zur Körpersprache von Demonstranten im Kaiserreich

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    Am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut lief ein Projektseminar mit dem Titel "Als die Deutschen demonstrieren lernten", das im Wintersemester 1985/86 mit einer Ausstellung abgeschlossen wurde. Sein Gegenstand waren die Straßenkundgebungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die 1908 einsetzen und zwischen Februar und April 1910 ihren Kulminationspunkt haben. Unser Untersuchungsinteresse war ein, um es traditionell-volkskundlich auszudrücken, brauchgeschichtliches: Wir wollten etwas über die Entwicklungsgeschichte des Kulturmusters "friedliche Straßendemonstration" erfahren. Uns interessierten die Bedeutungsgehalte dieser Ausdruckshandlung, ihre emotionalen und intellektuellen Wirkungen auf Protestpartei, Protestgegner und zunächst Indifferente; und wir untersuchten die Straßendemonstrationen als Schnittpunkt, als Begegnungs- und Konfliktfeld von Volkskultur und politischer Kultur

    „Rechtwinklig an Leib und Seele" - Zur Haltungserziehung im deutschen Faschismus

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    Zugleich einen Höhepunkt und einen Tiefpunkt des Prinzips Aufrecht bringt die nationalsozialistische Bewegung. Sie führt ihren Kampf von Anfang an und mit großem Erfolg auch als Symbolkampf um die „bessere Haltung". Die SA geht dabei voran - mit starrem Blick, vorgeschobenem Kinn, herausgedrückter Brust, eingezogenem Bauch, zurückgenommenem Becken, zusammengepreßten Gesäßbacken, in strammstem Gleichschritt. In der Selbstinterpretation dieser Haltung knüpft sie an den bürgerlichen und sozialistischen Befreiungsdiskurs an: Hier erhebe sich ein Volk, hier reckten Arbeiter trotzig ihr Haupt. Doch die Gewalt, die sich diese zur äußersten Geradheit aufgerichteten Körper selbst antun, weist darauf hin, daß hier nicht der Einzelne befreit werden soll, sondern etwas „Höheres", zu dem dieser Einzelne trotz aller Anstrengung nicht emporreicht: „Deutschland" nämlich, vertreten durch einen Führer, dem die Einzelnen sich unterwerfen, um in seinem Dienste wieder unterwerfen zu dürfen
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