Die Gogenwitze oder Tübinger Volkskultur in der Moderne

Abstract

Der >Durchbruch< der Gogenwitze im Ersten Weltkrieg, so läßt sich resümieren, verdankt sich einer bildungsbürgerlichen Öffnung gegenüber Volkskultur, die mehrdeutigen Charakter hat. Politisch gesehen, enthält die neue Sympathie für die »Gogen« gewiß eine antiständische, ja demokratische und soziale Komponente; doch wird diese zumindest in den vorliegenden Zeugnissen von einer Kriegsgemeinschaftsidee dominiert, hinter der schon die spätere »Volksgemeinschaft« (mitsamt Theodor Haerings »Rede auf Alt-Tübingen« von 1937) lauert — eine Gesellschaft, in der sich in Wahrheit die Intelligenz gar nicht Volksbedürfnissen öffnet, sondern zusammen mit dem Volk nur sogenannten nationalen oder völkischen Interessen unterworfen wird. Sozialpsychologisch betrachtet, markiert die öffentliche Kenntnisnahme der Gogenwitze ein gewisses Zurückdrängen wilhelminisch-viktorianischer Doppelmoral, eine partielle Ermäßigung von Körpertabus und Körperlichkeitsverleugnung; aber in der Freude über die »Derbheit« und »Natürlichkeit« der Tübinger Weingärtner steckt auch Sadomasochismus: Das Bekenntnis dazu, daß der Mensch auch Fleisch sei, scheint in manchem Lachen über die Gogenwitze von dem Zynismus überschrien zu werden, daß der Mensch ja gar kein Mensch, sondern bloß ein Stück Fleisch sei — oder, wie Paul Englisch es in seinem Buch über Skatologica meinte, »ein Häuflein Dreck«(71)

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