Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung / Journal of East Central European Studies (ZfO)

Veszprémy, László

 Maximilian Diesenberger: Politik der Bedrohung. Die Ungarn und die Desintegration des Frankenreichs um 900. (Relectio. Karolingische Perspektiven, Bd. 6.) Jan Thorbecke Verlag. Ostfildern 2023. 257 S. ISBN 978-3-799-52806-1. (€ 29,–.)  Der an der Universität Wien lehrende Maximilian D i e s e n b e r g e r  untersucht in sei-nem Buch die Rolle ungarischer Stämme im Prozess des Zerfalls des Karolingerreiches ge-gen Ende des 9. Jh. Diese nomadischen Stämme fanden in den westlichen Quellen erstmals 862 Erwähnung, aber lange Zeit rechnete niemand damit, dass sie später eine ernsthafte Bedrohung darstellen würden. Sie besetzten fast unbemerkt das Karpatenbecken, und aus diesem Grund schockierte der Beginn ihrer Raubzüge Richtung Westen nach 899 die die dortigen Eliten. Seit 862 erscheinen die Ungarn immer häufiger in lateinischen Quellen (den Annales, Liudprand von Cremona, Theotmar von Salzburg, Salomon von Konstanz, Regino von Prüm), die D. in chronologischer Reihenfolge analysiert. Die Geistlichen jener Zeit interessierten sich verständlicherweise dafür, woher die Ungarn kamen, und die Iden-tifizierung der scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten Ungarn und ihre Einordnung in die Tabelle der damals bekannten Völker waren von großer Bedeutung. Die ausführlichste Antwort auf diese Fragen findet sich in einem Brief an Dado, den 923 verstorbenen Bischof von Verdun, der auch als „Ungarnbrief“ (Epistola de Hungaris) bekannt ist. In der bisherigen Fachliteratur wird der Brief lediglich als eine unter mehreren frühen Erwähnun-gen der Ungarn genannt, obwohl D. bereits in einer früheren Studie auf dessen politische Bedeutung aufmerksam gemacht hat.1 Das Rückgrat des Quellenkapitels des Bandes bildet die philologische Analyse des Un-garnbriefs (S. 47–136), während dessen politischer Kontext in den abschließenden Kapi-teln des Bandes erörtert wird (S. 137–226). Der Adressat, der Verfasser und das Datum des Briefes waren umstritten, da die Namen nur mit Siglen bezeichnet werden. Mehrere Manu-skripte des Briefes sind erhalten geblieben, Es liegen vier kritische Ausgaben des Briefes vor (Josef Konrad Heilig 1933,2 András Németh 2001,3 Robert B. C. Huygens 1956, 20004), von denen D. der vollständigsten aus dem Jahr 2000 folgt und seine deutschsprachige Übersetzung darauf aufbaut. In Anleh-nung an Heilig und Huygens sieht D. Remigius von Auxerre als Verfasser des Briefes an, während die ungarische Forschung im Anschluss an Németh als Herkunftsort noch immer das Germanuskloster in Montfaucon annimmt und die Autorenschaft von Remigius ver-wirft.5 Da Remigius um das Jahr 908 gestorben ist, müsste der Brief demnach geschrieben worden sein, bevor die regulären Westfeldzüge der Ungarn begonnen und sie sich dem Ge-biet um Verdun genähert hatten, aber gleichzeitig im Wissen um ihren großen Italienfeld-zug (899–900). In diesem Kontext ist das um 904/905 verfasste Briefgedicht Salomons an                                                                 1  MAXIMILIAN DIESENBERGER: Die Steppenreiter aus dem Osten. Eine exegetische He-rausforderung, in: ROMAN ZEHETMAYER (Hrsg.): Im Schnittpunkt frühmittelalterlicher Kulturen. Niederösterreich an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, St. Pölten 2008, S. 150–168. 2  KONRAD JOSEF HEILIG: Der Brief des Remigius von Auxerre um 900 über die Ungarn, in: A Gróf Klébelsberg Kunó Magyar Történetkutató Intézet évkönyve / Jahrbuch des Graf Klebelsberg Kuno Instituts für Unagr. Geschichtsforschung in Wien 3 (1933), S. 7–30. 3  ANDRÁS NÉMETH: A Dado verduni püspökhöz írt levéI [Der Brief an Bischof Dado von Verdun], in: ANDRÁS RÓNA-TAS (Hrsg.): Források a korai magyar történelem ismeretéhez, Budapest 2001, S. 121–127. 4  R. B. C. HUYGENS: Un témoin de la crainte de l’an 1000. La lettre sur les Hongrois, in: Latomus 15 (1956), S. 225–239; R. B. C. HUYGENS (Hrsg.): Serta mediaevalia. Textus varii saeculorum X–XII in unum collecti, Turnhout 2000, S. 30–33. 5  DÁNIEL BÁCSATYAI: A kalandozó hadjáratok nyugati kútfői [Westliche Quellen zu den ungarischen Militäreinfällen im 10. Jahrhundert], Budapest 2017, S. 125–130.  Dado zu sehen, insbesondere die Zeilen über die ungarischen Verwüstungen in Italien, in denen sich derselbe Schock widerspiegelt wie in dem Ungarnbrief. D. analysiert äußerst detailliert die im Brief aufgestellten Behauptungen über die Un-garn: die Etymologie ihres Namens, die Legende, die er über ihre Herkunft erfahren hat, ihre Kampfweise, die moralische, die exegetische, apokalyptische (die Ungarn seien nicht das Volk von Gog und Magog gewesen) und geografische Argumentation des Briefes. Ebenso trägt die hier gründlicher als je zuvor vorgenommene Identifizierung der literari-schen Quellen des Briefes zu einem besseren Verständnis des Textes bei. Die große Zahl der Quellenangaben lässt auf einen hochqualifizierten geistlichen Autor mit einer ausge-zeichneten Bibliothek schließen. Besonders faszinierend ist die in dem Ungarnbrief enthaltene Fabel von der origo gentis der Ungarn, derzufolge sie sich nach einer Hungersnot auf die Wanderschaft begeben hät-ten, wovon ihr Name („Ungarus“ – „Hunger“) zeuge. Diese Geschichte wurde in den frän-kischen Hofkreisen jener Zeit als moralisches Beispiel erzählt und geht keineswegs auf eine zeitgenössische ungarische Quelle zurück. Sie ist insofern einzigartig, als die Ungarn nicht als ein „unbekanntes“ Volk betrachtet werden, sondern als ein Volk, das bereits in der Region, an den Grenzen des Reiches, gelebt habe, aber ausgewandert sei. D. vergleicht die Beschreibung von Regino von Prüm, der ebenfalls in Lothringen tätig war, mit dem Ungarnbrief und stellt fest, dass ihre Autoren ähnliche Absichten verfolgten und die beiden Quellen zeitlich und geografisch nahe beieinander liegen, ohne dass ihre Autoren die Texte des jeweils anderen kannten. Die bisherige Forschung hat die Passagen des Ungarnbriefs über die Ungarn in der Regel ausgeklammert und sich nicht mit der sozialen Einbettung des Briefschreibers, d. h. Remigius, der politischen Korrespondenz der Zeit und den poli-tisch destabilisierenden Auswirkungen der heidnischen Angriffe beschäftigt. D. führt den Leser in die äußerst turbulente politische Geschichte Lothringens in den Jahren um 900 ein. Zu dieser Zeit spielte Verdun eine wichtige Rolle, was erklärt, warum der dortige Bischof in Briefen über Ereignisse in der Ferne informiert wurde, darunter die Vernichtun-gen durch die Ungarn. Die Beschreibung der politischen Situation in Lothringen liefert den breiteren Hinter-grund für die Entstehung des Ungarnbriefs. Lothringen stand im Kreuzfeuer der fränki-schen Ambitionen im Osten und Westen, die noch verschärft wurden durch die Kämpfe der Adelsfamilien, die Karl den Einfältigen und Ludwig das Kind unterstützten (Konradi-ner und Matfridinger). Zu letzteren gehörte auch Dado, dessen familiäre Beziehungen und kirchliche Laufbahn ebenfalls ausführlich beschrieben werden. Die katastrophale Niederlage des fränkischen Feldzugs gegen die Ungarn im Osten im Jahr 907 (Schlacht von Pressburg) war ein entscheidender Wendepunkt in diesem ange-spannten Machtkampf. Sie erschütterte die Herrschaft Ludwig des Kindes grundlegend und zerstörte die Hoffnungen seiner Untertanen auf einen starken Herrscher. In dieser Situ-ation warnte nicht nur der Verfasser des Ungarnbriefs seine Zeitgenossen vor der Gefahr einer politischen Spaltung, sondern auch Regino von Prüm und Salomon von Konstanz. Im zweiten, zweifellos spannendsten Teil des Bandes untersucht D. eingehend den poli-tischen Hintergrund und die Botschaft des Briefes. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Ungarn in den Quellen als politisches Argument erscheinen. Die geistlichen Autoren waren dabei nicht nur von ethnografischem Interesse geleitet, sondern sie wollten durch ihre Berichterstattung über die ungarischen Einfälle, wie zuvor bereits geschehen bei der Bedrohung durch die Normannen, die Bevölkerung mobilisieren und damit die um 900 zerrüttete kirchliche und weltliche Zusammenarbeit der Franken wiederherstellen.  In dieser verzweifelten Situation konnten die kirchlichen Autoritäten, wie z. B. die Mönche Remigius und Salomon von Konstanz, sich an den einflussreichen Dado wenden und sich auf die Notwendigkeit der Reichseinheit berufen, um den Ungarn zu widerstehen. Damit gingen sie über die traditionelle Sicht auf das Heidentum als bloße Folge der Sün-den der Christen hinaus. D. weist überzeugend nach, dass bischöfliche Synoden ein wirk-sames Mittel zur kirchlichen Einbindung waren, jedoch mit einer Ausnahme unter Ludwig  dem Kind eingestellt wurden. Der Ungarnbrief ist eine scharfe Kritik an den ostfränki-schen Prälaten, denen der Autor Untätigkeit, moralische Sünden und mangelnde Solidarität vorwirft. Allerdings boten die Angriffe der Ungarn dem ostfränkischen Hof einen taktischen Vorteil, um sich über die innenpolitischen Spannungen hinwegzusetzen. In Lothringen wurde dies von den kirchlichen Würdenträgern zur Kenntnis genommen, und der Brief-schreiber hoffte, dass Prälaten wie Dado ihnen dabei helfen würden, ihre ostfränkischen Kollegen zu mobilisieren. Sie wurden durch die Tatsache ermutigt, dass die karolingische Reichstradition in Gestalt des königlichen Hofes des Westfränkischen Reiches und beson-ders in der Tätigkeit der Kirchensynoden weiterlebte. Ein gutes Beispiel für letzteres ist die Synode von Trosly aus dem Jahr 909, deren Beschlüsse die in dem Ungarnbrief be-schriebene moralische Krise widerspiegeln. Es ist klar, dass die Ungarngefahr letztlich die in sie gesetzten Hoffnungen als politisches Kapital nicht erfüllte, die Krisenbewältigung der Ostfranken scheiterte und Lothringen im Ergebnis der Desintegration bis 911 verloren ging.  D. weist überzeugend nach, dass es im Ungarnbrief, der gleichzeitig ein Trost- und Warnbrief war, nur zum Teil um die Ungarn geht, sondern vielmehr um die politischen Verwerfungen und die Desintegration der zeitgenössischen Franken, zu denen der Verfas-ser des Briefes eine eindeutige Meinung formulierte, die von seinen Zeitgenossen noch gut verstanden wurde. D. gelingt es in hervorragender Weise, diese bisher im Hintergrund ge-bliebene Quelle im Diskurs der kirchlichen Intellektuellen jener Zeit zu verorten, und es bedurfte seiner Jahrhunderte später mit großer Gelehrsamkeit verfassten Monografie, um sie zu interpretieren. Budapest László Veszprémy  Peter Hilsch: Die böhmischen Länder im Mittelalter. (Geschichte in Wissenschaft und Forschung.) Kohlhammer. Stuttgart 2023. 321 S., Kt., graph. Darst. ISBN 978-3-17-041704-5. (€ 36,–.) Wenige deutschsprachige Mediävist:innen wären berufener, für die Kohlhammer-Reihe Geschichte in Wissenschaft und Forschung einen Überblick über die Geschichte der böh-mischen Länder im Mittelalter zu verfassen, als der Tübinger Emeritus Peter H i l s c h. Seine etwas mehr als 300 Seiten starke Darstellung der Entwicklung der historischen Län-der Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien im Mittelalter versteht die böhmische Ge-schichte prononciert als eine „europäische Geschichte“ (S. 11), die insbesondere eng mit der Geschichte des mittelalterlichen Reiches verflochten ist. Die chronologisch organisier-te Darstellung schreitet die erwartbaren ereignisgeschichtlichen Eckpunkte ab (erste Nach-richten aus der Antike und dem Frühmittelalter, Altmähren, Christianisierung und frühe Přemysliden, staufischer Einfluss und Erhebung zum Königreich, späte Přemysliden, ins-besondere Wenzel II. und Otakar II., Etablierung der Luxemburger, Karl IV., Wenzel IV., Hus und Hussitische Revolution), setzt aber auch eigene Akzente (Königin Emma, Ge-schichte der Prager Bischöfe, Geschichte der Juden, Frauen im Hussitismus). Das Buch endet mit dem vorläufigen Ende der Hussitischen Revolution und dem Tod Kaiser Sigis-munds 1437, gefolgt von einem kurzen Ausblick auf das Nachleben des Hussitismus im 19. und 20. Jh. Dass das übrige 15. Jh., in dem der fortbestehende Religionskonflikt und das Ringen um die Nachfolge auf dem böhmischen Thron hohe Wellen in ganz Mittel-europa schlugen, außen vor geblieben ist, darf man bedauern.  Besonders positiv hervorzuheben sind die konsequent über die böhmischen Länder im engeren Sinn hinausblickende Konzeption des Werkes sowie die Rezeption und fachkun-dige Einordnung der aktuellen tschechischen Forschung durch den Vf. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf das Potenzial der Monografie für die Lehre an deutschspra-chigen Universitäten hinweisen. Die Geschichte der östlichen und südöstlichen Nachbar-länder ist, nicht zuletzt aufgrund sprachlicher Barrieren, häufig immer noch eine terra in-

German

Maximilian Diesenberger: Politik der Bedrohung. Die Ungarn und die Desintegration des Frankenreichs um 900

Nešťáková, Denisa

 Monika Vrzgulová: Oral History and the Holocaust in Slovakia. (The Holocaust and Its Context.) Springer. Cham 2024. IX, 165 S. ISBN 978-3-031-73674-2. (€ 130,–.)  Monika V r z g u l o v á’s Oral History and the Holocaust in Slovakia is a significant contribution to Holocaust studies, memory studies, and oral history methodologies. The book critically examines the role of oral history in understanding the Holocaust in Slo-vakia, shedding light on survivor testimonies, societal remembrance, and the evolution of historical narratives. Through a meticulous analysis of interviews with Holocaust survivors and non-Jewish witnesses, V. provides a nuanced perspective on collective and individual memory, as well as the socio-political frameworks that shape Holocaust remembrance in Slovakia. The book’s foundation in the methodology of oral history is both its strength and its central contribution. The author, an expert in the field, reflects on nearly three decades of conducting interviews, offering both theoretical and practical insights. She details her in-volvement in two major research projects: “Oral History: The Fates of Those Who Sur-vived the Holocaust (1995–1997),” and “Crimes Against Civilian Populations during WWII (2011–2016),” both of which focused on gathering testimonies from Jewish survi-vors and non-Jewish eyewitnesses. The book also explores the ethical dilemmas of oral history, particularly in relation to survivor trauma, interview dynamics, and the responsi-bilities of researchers in shaping historical narratives. V.’s reflections on interview tech-niques, including her emphasis on an empathetic and participatory approach, provide valu-able insights into the challenges of working with traumatic memories. Her discussions on the reliability and subjectivity of memory are particularly compelling, demonstrating how survivors’ narratives are shaped by both historical events and contemporary socio-political discourses. One of the book’s central themes is the portrayal of non-Jewish Slovakians in survivor testimonies. V. carefully analyses how survivors retroactively constructed their identities in relation to their non-Jewish neighbors. She identifies four key phases in Jewish-Gentile relations during the Holocaust: (1) coexistence and integration, (2) exclusion and margin-alization, (3) deportation and destruction, and (4) post-war attempts at reintegration. The narratives reveal a complex and often contradictory image of the Slovak majority, ranging from passive bystanders to active collaborators, as well as those who risked their lives to help Jews. Another critical aspect of the book is its exploration of Holocaust remembrance in Slo-vakia from 1945 to the present. V. examines how Holocaust memory has been shaped by shifting political regimes, from the post-war Communist silence to contemporary national-ist narratives that attempt to downplay Slovakia’s role in the Holocaust. Her analysis of media, education, and political discourse highlights the ongoing tensions between collec-tive guilt, national identity, and historical responsibility. In the introduction, the author outlines her 30-year engagement with oral history as a method for studying Holocaust survivors’ testimonies, including her early involvement in a ground-breaking research project in 1996, which was part of the Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies. V. discusses how oral history became central to her academic identity and introduces the book’s structure and key themes, including memory, identity, and the socio-political context of Holocaust remembrance. In the next chapter, V. provides her own perspective on conducting oral history re-search in Slovakia. She explores the ethical challenges, such as navigating trauma, the role of the interviewer, and the reliability of memory. The chapter also contrasts oral history with traditional historiography and discusses how non-Jewish witnesses remember the Holocaust. Chapter 3 “Images of the Non-Jewish Majority in Holocaust Survivors’ Memories” ex-amines how Jewish survivors retrospectively construct their perception of Slovak society during the Holocaust. V. categorizes Jewish-Gentile relations into four phases: coexistence before the war; exclusion and marginalization; deportation and violence; post-war attempts  at reintegration. The book describes how survivors recall a complex and often contradicto-ry portrayal of Slovak non-Jews, highlighting both bystanders and active perpetrators. The chapter also examines how survivors’ memories are shaped by contemporary socio-political discourses. In the following Chapter, V. flips the perspective, analyzing how non-Jewish Slovaks remember their Jewish neighbors. She identifies key themes, including the pre-war percep-tion of Jews as ordinary community members; the role of local Slovak collaborators in de-portations and expropriations; the “bystander dilemma”—some non-Jews justified their in-action, while others later expressed guilt or regret. Through interviews, the author explores how collective memory constructs an “us-them” divide, and how guilt and silence persist in post-war narratives. In the fifth and final chapter, the author shifts focus to Slovakia’s evolving memory of the Holocaust, analyzing state-sanctioned remembrance and public narratives from 1945 to today. She breaks down memory into three historical periods: 1945–1948, a brief period of Jewish reintegration and acknowledgment of the Holocaust, 1948–1989 (State Socialist era), the suppression of Jewish identity in favor of a broader anti-fascist narrative, and post-1989, a complex and sometimes contested process of remembering, with nationalist resistance to acknowledging Slovakia’s role in World War II. This chapter also examines how public discourse, education, and media influence Holocaust remembrance. V.’s conclusion emphasizes the importance of continued research on Holocaust memory and calls for more acknowledgment of Slovakia’s historical responsibility. The book ends with a discussion on the challenges of integrating survivor and eyewitness tes-timonies into mainstream historical narratives. While V.’s work is undeniably a crucial contribution to Holocaust and memory studies, some limitations warrant discussion. Firstly, although the book presents a thorough analy-sis of Jewish and non-Jewish narratives, there is limited engagement with other marginal-ized groups affected by the Holocaust, such as the Roma population. Given the growing body of scholarship on Romani Holocaust experiences, integrating these perspectives could have provided a more comprehensive understanding of wartime persecution in Slo-vakia. Additionally, the book’s structure, though methodical, can at times feel overly de-tailed, particularly in its discussions of research methodologies. While these insights are valuable for oral history researchers, some scholars from other disciplines might find cer-tain sections overly technical. There are a number of key facts about Slovak history which might be helpful to readers unfamiliar with the subject, yet those with a knowledge of the region and time period might find them distracting. However, despite some areas that could have been expanded, this book is a commend-able and thought-provoking study that enriches the discourse on Holocaust remembrance and historiography in Slovakia. Overall, it’s an essential text for scholars of the Holocaust, oral history, and Central European studies. V.’s meticulous research, ethical reflections, and engagement with survivor testimonies offer profound insights into ways history is re-membered and reconstructed. The book serves as a reminder of the power of oral history to challenge dominant narratives, recover lost voices, and contribute to a more nuanced un-derstanding of historical trauma.  Marburg Denisa Nešťáková  Johannes Spohr: Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegs-wende. Metropol. Berlin 2021. 558 S. ISBN 978-3-86331-600-6. (€ 34,–.)  Das ukrainische Dorf Pen’kivka im Verwaltungsbezirk Vinnycja südlich von Žytomyr zählte bei Kriegsbeginn 1941 etwa 1.700 Einwohner, die überwiegende Mehrheit war christlich-orthodoxen Glaubens. Seit 1921 gehörte das Gebiet zur Ukrainischen Sozialisti-schen Sowjetrepublik, was – wie andernorts auch – nicht nur Zwangskollektivierung, son-dern in den 1930er Jahren auch stalinistische Repressionen bedeutete. Während der Hun-

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Monika Vrzgulová: Oral History and the Holocaust in Slovakia.

Becker, Maximilian

 werden (S. 159). Ebenso fehlten Beweise, dass er ein „Freund und Retter der Polen [war], als der er sich darstellen wollte“ (S. 165). H. stellt fest, dass der Beamte Weihenmaier „offensichtlich anstandslos Befehlen gehorchte“ (S. 138), und kommt zu dem Schluss, dass er dem Unrechtssystem des Völkermords gedient“ habe und durchaus „wusste, was in Polen geschah“ (S. 186 f.). Seine Frau und die vier zwischen 1938 und 1942 geborenen Kinder ließ er wohlweislich „in der Heimat“ (S. 144).  Der Vf. begründet seine „Teilanonymisierung“ der angeblich kleine(re)n NS-Täter im GG allen Ernstes mit der Absicht, deren Nachkommen vor „einer unerträglichen Sippen-haftung“ zu bewahren (S. 12) – selbst wenn es sich, wie beim Landkommissar Walter „P***r“ in Tomaszów Lubelski, eingestandenermaßen um einen „Exzesstäter“ handelte (S. 88) oder wie beim Landkommissar Hans „L***k“ (S. 87) um den „Judensachbearbei-ter“ in seinem Kreis. H. geht damit einen Schritt zurück hinter das von Bogdan Musial ge-wählte Verfahren, in dessen Studie diese – Panzer und Leibeck – und weitere Besatzungs-funktionäre mit ihrem vollen Namen genannt werden.2 In der Darstellung steht die Analyse wiederholt im Schatten einer bloßen Wiedergabe zeitgenössischer Äußerungen, etwa wenn Weihenmaiers spätere Aussagen zu seiner Zeit als Kreishauptmann oder Ansprachen von ihm und Hans Frank mit seitenlangen Zitaten ungefiltert daherkommen. Das „Register“ ist sehr unvollständig, und leider gibt es außer dem Titelbild keine Fotos. Im Literaturverzeichnis fehlen nicht nur einschlägige Studien von Dieter Pohl, sondern auch solche, die auf Polnisch erschienen sind. Ein Hinweis auf die Quellenedition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, die in Bd. 4 und 9 auf die Zustände im GG eingeht, wäre hilfreich gewesen. Eine der von H. genutzten Quellen, das Diensttagebuch des Generalgouverneurs, erscheint hier stets als „Tagebuch“ Franks. H.s forsche Behauptung, dass bei der Unterzeichnung der Kreispartnerschaft „niemand [in Freudenstadt] von dieser historischen Verbindung“ (S. 12) gewusst habe, bedarf einer Erklärung, hatte doch Musial schon zuvor über Weihenmaier ohne Umschweife geschrie-ben: „Führte Deportationen von Juden in die Vernichtungslager durch.“3 Gegenüber diesen Mängeln ist positiv hervorzuheben, dass H. einmal mehr die Mitschuld der Besatzungs-verwaltung an den Verbrechen des NS-Regimes aufzeigt.  Marburg Klaus-Peter Friedrich                                                                2  BOGDAN MUSIAL: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouver-nement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999, S. 100, 190, 256, weitere S. 93, 331. 3  Ebenda, S. 397.   Konrad Graczyk: Ein anderes Gericht in Oberschlesien. Sondergericht Kattowitz 1939–1945. (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 119.) Mohr Siebeck. Tübingen 2021. XII, 412 S. ISBN 978-3-16-160994-7. (€ 104,–.) Die Justiz in Polen im Zweiten Weltkrieg ist gewiss kein Forschungsgegenstand, der sich zuletzt durch methodische Impulse oder eine breite Rezeption ausgezeichnet hätte. Trotzdem sind in den letzten Jahren mit den Arbeiten von Hubert Melnik und Oscar Szerkus bemerkenswerte Studien zur nichtdeutschen Gerichtsbarkeit im Bezirk Lublin des Generalgouvernements und über die Gerichte des polnischen Untergrundstaats erschienen.1 Konrad G r a c z y k s juristische Dissertation zum (deutschen) Sondergericht im oberschle-                                                                1  HUBERT MIELNIK: Sądownictwo polskie (nieniemieckie) w dystrykcie lubelskim Gene-ralnego Gubernatorstwa w latach 1939–1944 [Die polnische (nichtdeutsche) Justiz im Distrikt Lublin des Generalgouvernements in den Jahren 1939–1944], Lublin 2020; OSCAR SZERKUS: Die Sondergerichtsbarkeit des Polnischen Untergrundstaates, Berlin 2019.  sischen Kattowitz reiht sich in diesen Forschungskontext ein, zu dem auch Andrzej Wrzyszczs Untersuchung der Strukturen der deutschen Gerichtsbarkeit im Generalgouver-nement und die Studie des Rezensenten über die Justiz in den eingegliederten Ostgebieten zählen.2  Mit dem Sondergericht Kattowitz hat G. ein Justizorgan als Untersuchungsgegenstand gewählt, von dessen Einzelfallakten laut Vf. etwa 69 Prozent überliefert sind – die Gene-ralakten dagegen, die Aufschluss über die Organisation des Gerichts geben, sind fast voll-ständig vernichtet. Im Mittelpunkt seiner Studie steht somit die Rechtsprechung des Son-dergerichts, der die drei Hauptkapitel zu den Verfahren, der Rechtsprechung und den Todesurteilen gewidmet sind. Doch trotz der eingeschränkten Quellengrundlage verfolgt der Vf. die Absicht, alle Aspekte des Bestehens des Sondergerichts sowie dessen Nachge-schichte zu untersuchen – dabei gelingt es ihm, in vielen Details die mehr als 50 Jahre alte Studie Alfred Koniecznys zur NS-Justiz in Oberschlesien zu korrigieren und zu ergänzen.3 Der lokale rechtshistorische Kontext, den schon Konieczny skizziert hat, war dabei u. a. von massiven polizeilichen Eingriffen in die Justizzuständigkeit, der Germanisierungspoli-tik von Gauleiter Fritz Bracht, und dem Genozid an der jüdischen Bevölkerung geprägt.  In seiner Einleitung legt G. Forschungsstand und Quellenlage dar. Zu seiner Vorge-hensweise schreibt er, dass er neben der „formal-dogmatischen und historischen“ vor allem der „statistische[n] Methode“ (S. 5) folgen werde – und tatsächlich beleuchtet der Vf. das Sondergericht und sein Personal vor allem durch die Präsentation umfangreicher Zahlenangaben auf der Basis eigener Auswertungen der Fall- und Personalakten, die er mit viel Fleiß aus mehreren polnischen und deutschen Archiven zusammengetragen hat. Zu-nächst jedoch ordnet er das Sondergericht Kattowitz in eine zeitlich weit in die Vergan-genheit ausgreifende Darstellung der Sondergerichtsbarkeit ein. Im folgenden Kapitel geht G. auf die Errichtung und den Ausbau des Sondergerichts Kattowitz bis 1945 ein, um sich anschließend dem Personal zuzuwenden. Neben den allgemein üblichen statistischen Aus-wertungen zu Religionszugehörigkeit, Alter, Examensnoten oder NSDAP-Mitgliedschaft, die G. – was positiv ist – nach den Beitrittsjahren differenziert, bezieht der Vf. weitere Aspekte wie die Nebentätigkeiten der Richter ein. Gleichzeitig zeigt sich hier jedoch auch exemplarisch eine grundlegende Schwäche des Buches: der unkritische Umgang mit den Quellen. Besonders die Art und Weise, wie G. die ideologische Konformität des Personals einschätzt, ist heikel und methodisch angreif-bar. So dienen ihm die politischen Beurteilungen von Vorgesetzten aus den Personalakten als zentraler Beleg für die ideologische Konformität der Richter; tatsächlich jedoch handelt es sich hierbei meist um Standardfloskeln, die nur sehr begrenzten Beweiswert haben. Nach dem auf hohe Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus hindeutenden Attribut „gottgläubig“ als Bezeichnung derjenigen, die keiner Kirche mehr angehörten, fragt G. nicht, so dass offen bleibt, wie viele der Justizjuristen des Sondergerichts sich so bezeich-neten (oder ob dies überhaupt vorkam); auch eine Auswertung der Übernahme von Ehren-ämtern in der Partei oder in NS-Organisationen wird nicht vorgenommen. Fast schon naiv für einen Juristen ist es, wenn G. seine Beurteilung der fachlichen Qualifikation der                                                                 2  ANDRZEJ WRZYSZCZ: Okupacyjne sądownictwo niemieckie w Generalnym Guberna-torstwie 1939–1945. Organizacja i funkcjonowanie [Die deutsche Besatzungsjustiz im Generalgouvernement 1939–1945. Organisation und Funktionsweise], Lublin 2008; MAXIMILIAN BECKER: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den einge-gliederten Ostgebieten 1939–1945, München 2014; polnische Fassung: Sądownictwo niemieckie i jego rola w polityce okupacyjnej na ziemiach polskich wcielonych do Rzeszy 1939–1945 [Die deutsche Justiz und ihre Rolle in der Besatzungspolitik in den ins Reich eingegliederten polnischen Gebieten], Warszawa 2020. 3  ALFRED KONIECZNY: Pod rządami wojennego prawa karnego Trzeciej Rzeszy. Górny Śląsk 1939–1945 [Unter der Herrschaft des Kriegsstrafrechts des Dritten Reiches. Oberschlesien 1939–1945], Warszawa – Wrocław 1972.  Justizjuristen alleine auf deren Examensnoten stützt. Hinzu kommen immer wieder lang-atmige Nacherzählungen von Quellen ohne inhaltliche Analyse; so rekapituliert G. an an-derer Stelle über mehrere Seiten die das Sondergericht Kattowitz betreffenden Passagen aus den Lageberichten des Oberlandesgerichtspräsidenten und des Generalstaatsanwalts, die weder quellenkritisch gewürdigt noch in Beziehung zu den eigenen Auswertungen des Vf. gestellt werden, obwohl sich in den Berichten Angaben zur Tätigkeit des Gerichts fin-den. Im Kapitel über die Verfahren vor dem Sondergericht Kattowitz gelingt dem Vf. hinge-gen, durch eine Kombination aus statistischen Auswertungen, konkreten Fallbeispielen und Beschreibung der in Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, Allgemein- und Rundver-fügungen des Reichsjustizministeriums festgelegten Verfahrensweisen eine überzeugende und anschauliche Darstellung der juristischen Verfahrensweisen von der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens über die Anklageerhebung und Hauptverhandlung bis zur Voll-streckung des Urteils. So vermag es G., die Forschung zum NS-Justizsystem um zahlreiche Details zu ergänzen. Hier und in den beiden folgenden Kapiteln über die Rechtsprechung und die Todesurteile des Sondergericht Kattowitz geht der Vf. auf nahezu alle Aspekte der Tätigkeit des untersuchten Gerichts ein. Trotzdem bleiben Lücken, etwa die Frage nach der Verfolgung der schlesischen Aufständischen, die G. andernorts behandelt.4 In den bei-den zuletzt genannten Kapiteln stützt er sich dabei vor allem auf seine umfassenden statis-tischen Auswertungen u. a. zu den Angeklagten, der Anklage und der Rechtsprechung. G. leitet daraus nicht nur die Sozialstruktur der vor dem Sondergericht Stehenden ab, sondern auch Unterschiede zwischen Anklagen und Urteilen – das Gericht übernahm nämlich nicht einfach die Feststellungen der Staatsanwaltschaft, was zwar aus anderen Studien bereits bekannt ist, hier aber umfassend mit Zahlen untermauert wird.  Gleichzeitig vernachlässigt er aber die Einordnung in den lokalen Kontext. So streift G. etwa die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Gericht und Polizei oder das Verhältnis von Justiz und NSDAP nur in wenigen Sätzen; das Standgericht der Gestapo Kattowitz, das dem Sondergericht ab Sommer 1942 die Zuständigkeit für die Fälle mit polnischen Angeklagten streitig machte, kommt so gut wie gar nicht vor. Dabei ist gerade die Klärung des Verhältnisses zwischen Standgericht und Sondergericht zentral für das Verständnis der nationalsozialistischen Rechtspflege in Ostoberschlesien. Insgesamt hat G. ein verdienstvolles Buch vorgelegt, dass vor allem mit seinen sta-tistischen Auswertungen auch bislang kaum beachtete Aspekte der Justiz in der NS-Diktatur beleuchtet und durch die detaillierte Darstellung juristischer Verfahrensweisen über die Lokalgeschichte hinaus an Wert besitzt. Doch gerade in Bezug auf die oberschle-sische Justizgeschichte lässt es manche Fragen offen, was zu weiteren Forschungen ein-lädt. München  Maximilian Becker                                                                 4  KONRAD GRACZYK: Der Verband der Schlesischen Aufständischen als eine „Organisa-tion, die Verbrechen gegen das Leben zu begehen bezweckte“. Die Mitglieder des Ver-bandes der Schlesischen Aufständischen und des Schützenbundes vor dem Sonder-gericht Kattowitz, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 21 (2021), 1, S. 157–177.        

Konrad Graczyk: Ein anderes Gericht in Oberschlesien. Sondergericht Kattowitz 1939–1945

Kordel, Jacek

 sprechen. Diese lässt sich in verschiedenen Quellentypen fassen: So versuchten Hof-ordnungen, die Passierbarkeit der Grenze z. B. in Abhängigkeit vom sozialen Status einer Person sowie der gerade aktuellen Tageszeit zu regulieren, während sich die Linie durch symbolische Handlungen, architektonische Marker und die jeweilige Topografie ins Be-wusstsein der Zeitgenossen einprägte. Zuletzt wendet sich R. der Wahrnehmung dieser Kontaktzone zu, wozu er exemplarisch zwei Reiseberichte auswertet und an ihnen die de-mütigenden oder triumphalen Erfahrungen herausarbeitet, die mit dem Übergang von der Stadt in die Residenz verbunden sein konnten. Die Aufsätze von Lenka B o b k o v á und Petr K o z á k eröffnen die dritte und letzte Sektion „Residenzen in der Landschaft“. Während B. ein spätmittelalterliches Netzwerk königlicher (Gelegenheits-)Residenzen in den Ländern der Böhmischen Krone konstatiert, untersucht K. das System befestigter Herrensitze des jagiellonischen Prinzen Sigismund (1467–1548), bevor dieser 1507 den polnischen Thron bestieg. Den im vorhergehenden Aufsatz sehr prominenten Begriff „Netzwerk“ lehnt er angesichts einer mangelnden Struk-turierung und Hierarchisierung der zahlreichen Aufenthaltsorte Sigismunds explizit ab. Ei-nen möglichen heuristischen Mehrwert, der aus dem stattdessen präferierten Ausdruck „Residenzenlandschaft“ resultiert und diese feine terminologische Differenzierung recht-fertigt, deutet K. allenfalls an. Methodisch wichtiger erscheint dem Rezensenten ohnehin die sich bei der Lektüre beider Texte aufdrängende Frage, welche Kriterien den gelegent-lichen Aufenthaltsort eines Herrschaftsträgers zur Residenz erheben.  Nach dem Dreißigjährigen Krieg nahm die Frequentierung Böhmens durch die habsbur-gischen Landesherren deutlich ab. Trotzdem entwickelte sich im 17. und 18. Jh. in den Kammerherrschaften um Prag ein Ring von Nebenresidenzen. Jiří H r b e k kann in seinem Beitrag zeigen, wie soziale Praktiken und persönliche Vorlieben die Entstehung, geografi-sche Lage und Ausstattung dieser Schlösser beeinflussten. Aus den Bedürfnissen hoch-adeliger Statusrepräsentation, der individuellen Neigung zahlreicher Habsburger zum Waidwerk und der neu aufkommenden Idee, dass einem Herrscher Erholung und Vergnü-gung zustehen, resultierten Jagdschlösser nebst der erforderlichen Infrastruktur. Tatsäch-lich scheint dem Rezensenten in diesem Fall der Ausdruck „Residenzenlandschaft“ wirk-lich angebracht, da nicht nur die Baukörper der Schlösser, sondern auch die Gehege und Rastplätze sowie der künstlich hochgehaltene Wildbestand samt seinen ökologischen und ökonomischen Folgen das Landschaftsbild nachhaltig prägten. Will man die eingangs der Rezension angedeutete Kritik positiv wenden, beweisen die im vorliegenden Sammelband vereinigten Aufsätze in ihrer thematischen Bandbreite ein-drucksvoll die methodische und inhaltliche Vielfalt der aktuellen Hof- und Residenzenfor-schung. Darüber hinaus ist es ein bleibendes Verdienst der Publikation, mit Böhmen einen wichtigen – aber gleichwohl in der deutschen Forschung häufig etwas stiefmütterlich be-handelten – Teil des Alten Reichs intensiver in den Blick genommen zu haben.  Regensburg  Christian M. König   Jolanta M. Marszalska, Waldemar Graczyk: The Lost Collection of Incunabula of the Seminary Library in Płock. Biblioteka Narodowa w Warszawie. Warszawa 2023. 351 S. ISBN 978-83-8259-508-6. (PLN 90,–.)  Bei dem rezensierten Werk handelt es sich um einen Katalog der verloren gegangenen Inkunabeln aus der Seminarbibliothek in Płock, die bis zum Zweiten Weltkrieg eine der wertvollsten Sammlungen von Handschriften und alten Drucken in Polen besessen hatte. Diese Sammlung, die etwa 80 mittelalterliche Handschriftenkodizes und 422 Inkunabeln umfasste, wurde 1941 von den nationalsozialistischen Besatzungsbehörden nach Königs-berg gebracht. Ihr weiterer Verbleib ist weitgehend unbekannt. Lediglich zwei Kodizes kehrten zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurück: eine Bibel aus dem 12. Jh. und ein Ponti-fikale aus dem 13. Jh.  Die Sammlung der Płocker Inkunabeln setzte sich aus den Beständen mehrerer bedeu-tender Bibliophilen zusammen, darunter der Weihbischof von Płock, Piotr Lubart (1474–1522), die Kanoniker Mikołaj Bartnicki aus Płock (†1516) und Albert Stanisław Brzeski aus Nieborów (17. Jh.) sowie der Bischof von Płock, Piotr Dunin-Wolski (1530–1590), der eine der größten privaten Bibliotheken im damaligen Polen besaß, und der Bischof von Posen, Wawrzyniec Goślicki (~1530–1607). Auch die Sammlungen des Domkapitels in Płock und des Stiftskapitels in Pułtusk, die über Jahrhunderte hinweg wichtige kulturelle und intellektuelle Zentren der Diözese wa-ren, gelangten in die Seminarbibliothek. Zudem wurde die Sammlung durch Exemplare aus den Bibliotheken aufgelöster Klöster erweitert, darunter jene der Benediktiner in Płock, der Bernhardiner in Przasnysz, Ratowo und Skępe sowie der Dominikaner und Je-suiten in Płock und Pułtusk. Jolanta M. M a r s z a l s k a und Waldemar G r a c z y k haben auf der Grundlage von Ar-chivquellen – insbesondere durch den umtriebigen Warschauer Bibliothekar Kazimierz Piekarski gesammelte Materialien, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den wissenschaft-lichen Mitarbeitern der Abteilung für Alte Drucke der Nationalbibliothek in Warschau er-gänzt wurden – eine Rekonstruktion des verlorenen Buchbestandes vorgenommen. Piekar-ski verwendete eine standardisierte Vorlage zur Beschreibung von Inkunabeln, die die Sig-natur, die bibliografische Referenznummer aus Ludwig Hains Repertorium bibliographi-cum,1 Angaben zu Provenienz, Einbandart und Erhaltungszustand umfasste. Er notierte beispielsweise Unvollständigkeit (fehlende Blätter), Beschädigungen durch Insekten oder Feuchtigkeitsspuren. Selten nannte er den Drucktitel oder Verlagsangaben; stattdessen schrieb er Textfragmente ab, um die spätere Identifizierung der jeweiligen Ausgabe zu er-leichtern. Inkunabeln, die in Piekarskis Repertorium nicht enthalten waren, wurden u. a. anhand des zweiten Bandes des Katalogs Incunabula quae in bibliothecis Poloniae asser-vantur identifiziert.2 Der Beitrag der Vf. des vorliegenden Bandes bestand darin, die lako-nischen Notizen Piekarskis weiterzuentwickeln, die Titel zu ergänzen, die verwendeten Abkürzungen zu interpretieren bzw. zu entschlüsseln sowie die Beschreibungen zu syste-matisieren und zu vervollständigen.  Das Buch enthält eine ausführliche Einführung in englischer Sprache, die sowohl die Geschichte der Seminarbibliothek in Płock als auch die Erforschung dieser Sammlung durch Piekarski näher beleuchtet. Dabei werden die bedeutendsten Bestände der Bibliothek beschrieben, einschließlich besonders wertvoller Bücher und deren Einbände. Zudem wer-den die Quellenbasis, auf die die Autoren zurückgreifen konnten, sowie die methodologi-schen Ansätze des Katalogs detailliert erläutert. Nach der Einführung folgt der Hauptteil des Katalogs, der 386 Inkunabeln und 29 Pos-tinkunabeln umfasst. Dieser Abschnitt bietet umfassende Informationen zu den Autoren, Titeln, Verweisen auf Inkunabelkataloge, Provenienzen und Einbänden. In den Fällen, in denen Piekarski den physischen Zustand der Werke dokumentiert hat, werden auch diese Merkmale aufgeführt. Der Katalog wird ergänzt durch ein Abkürzungsverzeichnis, ein Verzeichnis der in den Inkunabeln enthaltenen Glossen, einen Provenienzindex, einen to-potypografischen Index sowie eine Signaturkonkordanz mit Verweisen auf den Katalog Incunabula quae in bibliothecis Poloniae asservantur und den seit 1925 erscheinenden Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Darüber hinaus enthält er einen Index der Drucker, Bib-liothekare, Buchbesitzer und Geografica.                                                                 1  LUDWIG HAIN: Repertorium bibliographicum in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum MD typis expressi, ordine alphabetico vel simpliciter enume-rantur vel adcuratius recensentur, Bd. 1–2, Stuttgartia – Lutetia Parisiorum 1826–1838.  2  Incunabula quae in bibliothecis Poloniae asservantur. Bd. 2: Addenda, indices, hrsg. von ALODIA KAWECKA-GRYCZOWA, in Zusammenarbeit mit MARIA BOHONOS, MICHAŁ SPANDOWSKI und ELIZA SZANDOROWSKA, Wratislaviae 1993.  Die Publikation verdient aus mehreren Gründen besondere Beachtung. Sie liefert we-sentliche Informationen über eine der bedeutendsten Inkunabelsammlungen Polens und re-konstruiert einen äußerst wertvollen, jedoch heute verlorenen Bücherbestand. Darüber hin-aus kann sie bei der Identifizierung wiederentdeckter Inkunabeln von unschätzbarem Wert sein und veranschaulicht eindrucksvoll das Martyrologium der polnischen Bibliotheken während des Zweiten Weltkriegs. Diese Arbeit wird sich zweifellos als ein wichtiges Refe-renzwerk etablieren und könnte als Vorbild für zukünftige Studien dienen. Zusätzlich un-terstreicht sie die Notwendigkeit, weitere Kataloge zu veröffentlichen – sowohl von noch existierenden als auch von mittlerweile verlorenen Bibliotheken, sofern entsprechende Aufzeichnungen vorliegen. Warszawa  Jacek Kordel  Justyna Kiliańczyk-Zięba: Printers’ Devices in the Polish-Lithuanian Common-wealth. Iconographic Sources and Ideological Content. (Library of the Written World, Bd. 117; The Handpress World, Bd. 95.) Brill. Leiden – Boston 2024. XL, 260 S., Ill. ISBN 978-90-04-67959-7. (€ 148,73.)  Justyna K i l i a ń c z y k - Z i ę b a bietet dem Leser eine profunde Einführung in ein Ge-biet, das heute zwar weitgehend nur für Spezialisten interessant, aber für die Kenntnis der Programme der Offizinen, ihr gesellschaftliches Umfeld und deren geistes-, kunst- und kulturgeschichtlichen Hintergrund von entscheidender Bedeutung ist. Ohne das Wissen um die Buchgestaltung, hier im Besonderen die Druckermarken (Signets), können die veröf-fentlichten Werke des 15. bis 18. Jh. nicht angemessen beurteilt und in ihrem Wert kaum richtig eingeschätzt werden. Die „Republik der Polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen“ (Rzeczpospoli-ta Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego) bestand von 1569 bis 1795 und war, allein schon durch ihre Ausdehnung, ein Staat, der in Europa von erheblicher Macht und großem Einfluss war. Gleichwohl war der Buchdruck nicht so verbreitet wie etwa in Italien oder Frankreich. Die Drucker (die, wie überall, zugleich meist auch Gelehrte wa-ren) nahmen sich die Produktionen der Offizinen in Westeuropa zum Vorbild und schufen Signets, die strukturell mit den von dort stammenden vergleichbar sind. Es sei dazu be-merkt, dass die humanistische Gelehrtenwelt keine Grenzen kannte; der Bezug auf die An-tike und die Bibel als form- und inhaltgebende Vorbilder war in Spanien genauso wie in Litauen allgemein üblich. Persönlichkeiten wie Jan Kochanowski, der sich vor allem an Horaz orientierte und mit seiner poetischen Sprache das Polnische unerhört bereicherte, oder Jan Łaski, der in Ostfriesland, London und am Niederrhein wirkte, sind nur zwei Bei-spiele von Gelehrten bzw. Theologen, die mit internationaler Wirkung tätig waren. In die-sen geistesgeschichtlichen Rahmen fügt sich auch die Buchkunst in Polen-Litauen ein. Die Vf. geht systematisch vor. Nach einem knappen, aber breit angelegten Forschungs-überblick bespricht sie Typologie, Terminologie und Funktion der Signets und wendet sich der Frage zu, woran man sie erkennen und von Illustrationen anderer Art unterscheiden kann. So lässt sich gut nachvollziehen, wie sich eine bildliche Darstellung, die vielleicht einmal auf das behandelte Thema eines Buches bezogen war, zu einem Signet wandelt. Methode und Auswahl der Objekte (nach geografischer und chronologischer Ausbreitung) bilden den Abschluss der Einleitung. Ein umfangreiches Kapitel ist der heraldischen Tradition gewidmet. Dabei geht die Vf. auch auf die Unterscheidung zu Händlerzeichen ein bzw. arbeitet heraus, wie diese über-nommen und in Druckersignets umgewandelt werden. Ein wichtiger, ja zentraler Bereich ist die Tradition antiker Bildlichkeit. Die Vf. macht das am Beispiel des römischen Gottes Terminus, des Hermesstabes (caducaeus) und der Sagengestalt Bellerophon deutlich. Dabei wird auch die herausragende Bedeutung von An-drea Alciatos Emblembuch Emblemata (Lyon 1550) erläutert, das in ganz Europa durch Nachdrucke Verbreitung fand. 

Jolanta M. Marszalska, Waldemar Graczyk: The Lost Collection of Incunabula of the Seminary Library in Płock.

Kołpak, Piotr

 Grenzen quantitativer Wirtschaftsgeschichte gewesen. Ärgerlich sind auch einige sachliche Fehler, etwa die These, Polen habe im Russländischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg weitgehende Autonomie genossen, und seine Grenzen seien nach 1918 durch die Nachbar-staaten problemlos anerkannt worden (S. 236), oder die Verlegung der EU-Osterweiterung (ohne Polen und Ungarn) und sogar der Auflösung des RGW auf das Jahr 2008 (S. 384, 388).  Dennoch werden neben Studierenden sowohl Wirtschaftshistoriker als auch Osteuropa-historiker viele Beiträge des Bandes mit großem Gewinn lesen. Dabei sollte die auf den ersten Blick strenge thematische Arbeitsteilung Leser mit speziellen Erkenntnisinteressen nicht davon abhalten, mehrere Beiträge zu lesen. Zum einen sind viele Entwicklungspro-zesse. wie etwa der Strukturwandel, auch von der Wirtschaftspolitik und der internationa-len Verflechtung geprägt worden. Zum anderen findet man sowohl sehr faktenreiche Bei-träge mit auch für Experten neuen Informationen als auch anregende theoretische Aus-führungen, beispielsweise über das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und Staats-interventionismus (Michael P a m m e r, Ali C o ş k u n  T u n ç e r, S. 90 f.), die systemi-schen, politischen und externen Ursachen für den ökonomischen Zusammenbruch des Staatssozialismus (Andrei M a r k e v i c h , Tamás V o n y ó, S. 315–319) sowie die Frage, warum einige Länder die nach 1989 historisch einmalige Chance der Konvergenz zum Westen nutzen konnten und andere nicht (László C s a b a, S. 413–430).  Leipzig  Uwe Müller  Doing Memory. Medieval Saints and Heroes and Their Afterlives in the Baltic Sea Re-gion (19th–20th Centuries). Hrsg. von Cordelia H e ß  und Gustavs S t r e n g a. De Gruyter. Berlin – Boston 2024. 300 S., Ill. ISBN 978-3-11-135062-2. (€ 99,95.) Diese Anthologie ist das Ergebnis des Projekts „Saints and Heroes from Christianiza-tion to Nationalism: Symbol, Image, Memory (Nord-West Russia, Baltic and Nordic countries)“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Gleich zu Beginn sollte hervorgehoben werden, dass die Autoren der Publikation weit über die tradi-tionellen Studien zu Heiligenkulten und der Erinnerung an Helden hinausgehen, die übli-cherweise auf die Analyse von Legenden und hagiografischen Überlieferungen sowie die Bedeutung solcher Kulte in früheren Jahrhunderten fokussiert sind. In der riesigen Fülle derartiger Veröffentlichungen stellt das von Cordelia H e ß  und Gustavs S t r e n g a  her-ausgegebene Buch eine äußerst interessante Sammlung von Beiträgen dar. Die Autoren der zwölf Studien enthüllen die Prozesse hinter der Heroisierung und Sak-ralisierung mittelalterlicher Figuren im Ostseeraum im 19. und 20. Jh. Allgemein gespro-chen geht es um die Neuinterpretation der Bedeutung von Heiligen und Helden im histori-schen Gedächtnis ausgewählter Gemeinschaften und infolgedessen um ihren Einfluss auf die Gestaltung moderner Identitäten. Dass es gelingt, ein facettenreiches Bild von diesen Transformationen zu gewinnen, wird durch die Integration unterschiedlicher lokaler Per-spektiven in den globalen Kontext der Forschung zum Mediävalismus des 19. und 20. Jh. ermöglicht. Die Hrsg. verbinden nicht ohne Grund die Persönlichkeitstypen „Heilige“ und „Helden“, da sie eine äußerst wichtige gemeinsame Eigenschaft besitzen: Sie sind außer-gewöhnlich – oder werden zumindest so wahrgenommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um reale oder fiktionale Figuren handelt. Die Prozesse ihrer Sakralisierung und He-roisierung verlaufen ähnlich: Eine Person wird aus dem Bereich der alltäglichen Sorgen (profanum) in den Bereich des Außergewöhnlichen (sacrum) erhoben. Trotz der tiefgrei-fenden Unterschiede in ihren Biografien genießen mittelalterliche Heilige und Helden ho-hes Ansehen, das die Erinnerung an sie über Jahrhunderte fortbestehen lässt. Viele von ihnen erlangten den Status eines „Nationalhelden“ oder zumindest einer Figur von großer Bedeutung für die Geschichte einer Nation. Dies verbindet scheinbar so unterschiedliche Figuren wie William Wallace und die Hl. Brigitta oder Jeanne d’Arc und dem lettischen  Krieger Imanta. Ihr „Leben nach dem Tod“ diente der Schaffung nationaler Identitäten im Prozess des doing memory, das in der Epoche der Romantik besonders stark präsent war. Sari K a t a j a l a - P e l t o m a a  hebt die Rolle der Erinnerung an die Hl. Brigitta als In-strument zur Schaffung kollektiver Identität und des doing memory im nachreformatori-schen Finnland hervor und zeigt, wie Heilige in den Debatten über nationale und lokale Identität eingesetzt wurden. Kristina J õ e k a l d a  analysiert auf eindrucksvolle Weise den Kontrast zwischen der Jungfrau Maria und Linda (einer Figur aus der estnischen Mytholo-gie) als konkurrierende Symbole im baltischen Raum und betont ihre unterschiedlichen Ursprünge, Funktionen und ihre Nutzung in nationalen Narrativen. Strenga beschreibt die Entwicklung des Bildes von Imanta von einem mittelalterlichen Bischofsmörder zu einem lettischen Nationalhelden und verdeutlicht, wie die romantische Fiktionalität und die natio-nalen Bedürfnisse jener Zeit seine Beständigkeit als Symbol des Freiheitskampfes beein-flussten. Steffen H o p p e  zeigt, wie die Figur König Knuts IV. des Heiligen in Odense heutzutage zur Schaffung einer städtischen Identität verwendet wird, und beschreibt die vielfältigen Interpretationen seiner Geschichte und Symbolik. Im Aufsatz von Marianna S h a k h n o v i c h  lesen wir über den Kult der Hl. Olga und darüber, wie die Volksreligion komplexe theologische Ideen an die alltäglichen Bedürfnisse und Traditionen lokaler Ge-meinschaften anpasste. Anna R i p a t t i  und Henrik Å g r e n  befassen sich nicht mit lokalen, sondern mit na-tionsbildenden Themen. Die Autoren analysieren, auf welche Weise historische Persön-lichkeiten wie Tyrgils Knutsson und der Hl. Erik in unterschiedlichen politischen und ideologischen Kontexten neu interpretiert wurden: Die Erinnerung an Knutsson wurde in Finnland genutzt, um Diskussionen über Kolonisation und nationale Autonomie zu führen, während Erik unter dem Einfluss der Aufklärung als nationales Symbol marginalisiert wurde. Die drei folgenden Texte von Mart K u l d k e p p, Jan R ü d i g e r  und Kati P a r -p p e i  bieten tiefgehende Analysen dazu, wie mittelalterliche Figuren und Ereignisse im Kontext von Nationalismen, sich verändernden Grenzen und politischen Spannungen neu interpretiert wurden. Zusammenfassend betont Anti S e l a r t, wie Heilige und Helden im Ostseeraum in Reaktion auf sich wandelnde gesellschaftliche und politische Bedürfnisse neu interpretiert wurden und eine zentrale Rolle bei der Schaffung nationaler Identitäten und historischer Narrative im 19. und 20. Jh. spielten. Wichtig im Kontext globaler Studien ist der Blick auf die Ostseeregion, deren Ge-schichte stets heterogen und dynamisch war. Vom Mittelalter bis heute war die Region Schauplatz dramatischer politischer Ereignisse und zahlreicher Konflikte, wobei die Erfah-rungen aus den mittelalterlichen Geschehnissen spätere Einstellungen grundlegend form-ten. Ich persönlich verstehe jedoch nicht, warum das Thema des doing memory über Heili-ge und Helden bezüglich zweier nationaler Kulturen des Ostseeraums – der polnischen und der litauischen – in diesem Band nicht aufgegriffen wurde. Gerade auf dem Gebiet der ehemaligen „Republik beider Nationen“ prägten im 19. und 20. Jh. Heiligenkulte und die Erinnerung an mittelalterliche Helden Generationen von Polen und Litauern, wurden in der Tagespolitik genutzt und waren eines der wichtigsten Topoi in der Massenkultur. Der li-tauische Großfürst Vytautas, einer der Sieger der Schlacht bei Tannenberg (Grunwald, Žalgiris), symbolisierte eine unnachgiebige Haltung sowohl gegenüber den Polen als auch später gegenüber den Deutschen. Er war eine der beliebtesten Figuren in Romanen und Theaterstücken, die das historische Gedächtnis der Litauer prägten. In den polnischen Tei-lungsgebieten im 19. Jh. war die Figur des Hl. Stanislaus, des Bischofs von Krakau, eine der historischen und frommen Motive, auf die sich die Träume der Polen von der Wieder-erlangung der Unabhängigkeit stützten. Bereits im Mittelalter wurde sein Kult mit der For-derung nach der Wiedervereinigung des in Herzogtümer zersplitterten Königreichs Polen in Verbindung gebracht, und in Zeiten nationaler Unterdrückung kehrte diese Idee mit doppelter Kraft zurück. Die Figur des Hl. Stanislaus wurde später sogar von der kommu-nistischen Propaganda genutzt, jedoch in einem negativen Licht, als hartnäckiger Feind staatlicher Strukturen.  Trotz dieser großen Lücke leistet das Buch einen bedeutenden Beitrag zur Forschung über die Rezeption des Mittelalters in der Moderne in ausgewählten Regionen des Ostsee-raums. Die Autoren analysieren die Prozesse der Heroisierung und Sakralisierung, die die Bildung nationaler Identitäten beeinflussten, und weisen auf die Vielfalt ihrer lokalen Aus-prägungen hin. Zukünftige Forschungen sollten die Problematik der Wechselwirkungen zwischen lokalen und globalen Narrativen beim Aufbau des Gedächtnisses über mittel-alterliche Heilige und Helden weiterentwickeln, um ein vollständigeres Bild dieser Prozes-se zu liefern. Warszawa  Piotr Kołpak   Science Interconnected. German-Polish Scholarly Entanglements in Modern History. Hrsg. von Jan S u r m a n. (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, Bd. 40.) Verlag Her-der-Institut. Marburg 2022. VII, 345 S. ISBN 978-3-87969-466-2. (€ 57,–.) Ostmitteleuropa ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus einer transna-tional orientierten Wissenschaftsgeschichte gerückt. Gleichsam in nuce lässt sich, so die verbreitete Annahme, anhand der Region untersuchen, wie sich politische und soziale Um-stände auf die Produktion und Zirkulation von Wissen auswirken, die auch im globalen Maßstab eine zentrale Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte haben: das Neben-, Mit- und Gegeneinander verschiedener sprachlicher, ethnischer und religiöser Gruppen, die Konkurrenz imperialer und nationaler Ordnungsentwürfe sowie die Machtasymmetrien zwischen sozioökonomischen Zentren und Peripherien. Der vorliegende Sammelband, der auf eine Konferenz des Marburger Herder-Instituts im Jahr 2015 zurückgeht, zeichnet in diesem Zusammenhang ein sehr vielschichtiges Bild der neuzeitlichen Geschichte wissen-schaftlicher Verflechtungen zwischen Deutschland und Polen und greift dabei Trends der globalen Wissenschaftsgeschichte auf. Einen wesentlichen Beitrag zur Innovativität der Publikation leisten zwei einführende Texte des Hrsg., die zusammen rund ein Viertel des Bandes ausmachen. In seiner Einlei-tung stellt Jan S u r m a n  zunächst einige methodische Annahmen dar, die dem For-schungsansatz des Bandes zugrunde liegen. Er entwirft ein Paradigma der Erforschung transnationaler Zirkulation von Wissen, das zwar die prägende Kraft des modernen Natio-nalstaats und die Bedeutung internationaler Machtasymmetrien für die Wissenschafts-geschichte anerkennt, zugleich aber die Essentialisierung nationaler Differenzen vermeidet und dadurch stereotype Vorstellungen zueinander inkommensurabler nationaler Wissen-schaftskulturen korrigiert. Mit Blick auf das deutsch-polnische Verhältnis bedeutet dies insbesondere, die verbreitete Vorstellung einer ausgeprägt asymmetrischen Verflechtung der beiden wissenschaftlichen Diskursräume zu differenzieren. S. argumentiert überzeu-gend, dass das Narrativ einer solchen Asymmetrie die Realität nicht nur reflektiert, son-dern mitgestaltet: Während auf polnischer Seite die Furcht vor deutscher Dominanz die protektionistische Reaktion zur Folge haben kann, das vermeintlich authentische „Eigene“ zu konservieren, konzentriert sich der deutsche Diskurs über die transnationale Zirkulation von Wissen häufig auf westliche, vor allem transatlantische Zusammenhänge und unter-schätzt dabei, welchen Anteil die Aneignung von Wissen aus dem benachbarten Osten an der Entwicklung der deutschen Wissenschaften hatte und hat (S. 2). Demgegenüber ist es ein Ziel des Bandes, unter dem Stichwort der interconnectedness mikrohistorisch und praxeologisch die vielfältigen, wechselseitigen Interaktionen in den Blick zu nehmen und auch zu berücksichtigen, dass die Grenze zwischen „deutscher“ und „polnischer“ Wissenschaft historisch keineswegs immer klar definiert war. In diesem Sin-ne skizziert S. in seinem zweiten Beitrag überblicksartig den neuzeitlichen Wandel deutsch-polnischer wissenschaftlicher Verflechtungen und konstatiert einen Übergang von einer primär sozial statt national determinierten Vergemeinschaftung im 18. zu einer Ver-festigung sprachlicher Gemeinschaften im 19. und schließlich zu einem staatlich vermittel-ten, eher inter- als transnational operierenden Wissenschaftsaustausch im 20. Jh. Seit 1989 

Doing Memory. Medieval Saints and Heroes and Their Afterlives in the Baltic Sea Region (19th–20th Centuries).

Krajčovič, Pavol

  Marián Ž a b e n s k ý, Silvia L e t a v a j o v á und Jaroslav Č u k a n: Die deutsche kulturelle Minderheit in Deutsch Proben (Nitrianske Pravno) und Umgebung. (Schriften zur Kulturwis-senschaft, Bd. 130.) Verlag Dr. Kovač. Hamburg 2023. 95 S., Ill., Kt. ISBN 978-3-339-13800-2. (€ 59,90.) – The temporal disparity of the arrival of different groups of German population led to the geographical heterogeneity of the German settlement in Slovakia. In general, three basic settlement areas (Bratislava and surroundings, Hauerland, Spiš) were formed on Slovak territo-ry, which were inhabited by a significant number of the Slovak Germans. From the title of the publication itself, it is obvious that its authors focus on the former settlement area of Hauerland (also called Kremnitz-Deutschprobener Sprachinsel), which was located in central Slovakia. The subjects of the research are the specific sites of Nitrianske Pravno (Deutsch Proben, Deutschproben; until 1946 slowak. Nemecké Pravno), Solka (Bettelsdorf), Vyšehradné (Bene-schhau), Malinová (Zeche), Chvojnica (Fundstollen), Tužina (Schmiedshau), and Kľačno (Gaidel). After the obligatory introduction, containing a summary of the main objectives, meth-odological and theoretical approaches and definitions of selected concepts that are further worked with in the monograph, the core of the publication is followed by three chapters, which are logically connected to each other and thus form a relatively coherent mosaic of the studied issues. The key ambition of the authors is to create an interdisciplinary work, which in its inter-disciplinary complexity draws on geography, cultural geography, cultural history, cultural stud-ies, ethnology and even geology. The first chapter describes the historical genesis of the German settlement of the studied area from the earliest times to the rapid demise of the settlement after the end of World War II. On the basis of the available materials (written sources, secondary lit-erature) it is evident that the historical beginnings of German settlement in the wider surround-ings of Nemecké Pravno date back to the fourteenth century. The very arrival of migrants from German-speaking countries was related to the exploitation of the country’s natural resources (wood, minerals). Similarly, the authors describe in this chapter the theme of seasonal work abroad undertaken by the German population of the Hauerland, which was prompted by the stagnation of the local economy and the decline of the feudal system during the nineteenth and early twentieth centuries. The second chapter focuses on the resettlement and expulsion of the German population after 1945. In this chapter, the authors work with the theoretical concepts of collective memory and cultural trauma, using oral history. The interviews thus provide an his-torical excursion into a dramatic period during which families were separated, lives and proper-ty were lost, people suffered persecution by state authorities and, last but not least, the German settlement suddenly disappeared. The final chapter describes the current status and selected cul-tural elements of the studied areas. The authors admit that nowadays, the former almost purely German settlement area is generally assimilated by the surrounding population of Slovak origin. This led to a gradual loss of German identity for most of the families who remained living in Slovakia after World War II. An integral part of both ethnic and local (German) identity was the language, or rather a specific German dialect. The authors can show that the use of the specific dialect has almost disappeared from the public life of the local population and its knowledge is limited to only a few members of the older generation. The preservation of German tradition in the area is mainly the responsibility of local museums and the cooperation of individuals or groups with the Carpathian-German Association. Using a wide range of theoretical and method-ological approaches, the monograph offers an interdisciplinary perspective on the topic of the German population in Slovakia. The main positive aspect of the publication is that its authors offer a relatively comprehensive view of the historical development, cultural processes and the current state of the former German localities in the area of Nemecké Pravno without romantici-zation. Its content can also serve as a teaching aid or a tourist-historical guide. Trnava Pavol Krajčovič  

Marián Žabenský, Silvia Letavajová und Jaroslav Čukan: Die deutsche kulturelle Minderheit in Deutsch Proben (Nitrianske Pravno) und Umgebung.

Turvold, Elisabeth

 wirkungsvollen Analyse zu den wirtschaftlichen Phänomenen im GG. Letzteres ist der wohl wichtigste und bekannteste Text von W. aus diesem Buch. Darin untersucht er die Wirtschaftspolitik der Besatzer und ihre Auswirkungen „in der kollektiven Psyche unserer Gesellschaft“ (S. 137), die Polen noch über Jahre nach Ende von Krieg und Besatzung weiter prägen sollten. Grundlegend für die Menschen war die Wahl, sich entweder an die Verordnungen zu halten und einen schleichenden Tod zu sterben, oder aber unter ständiger Gefahr jenseits der Verordnungen zurechtzukommen, Dinge zu organisieren, sich von der Arbeit davon zu stehlen, Schwarzmarktgeschäfte zu betreiben und die Korrumpierbarkeit der Deutschen auszunutzen. Diese Verhaltensweisen, die angesichts der Not während der Besatzungsherrschaft eingeübt wurden, blieben auch danach bestehen: „Was bleibt, ist immer noch die Hand, die sich daran gewöhnt hat zu geben, und sie wird sich neue Kandi-daten suchen“ (S. 141). Nachhaltig litten nicht zuletzt die Arbeitsmoral sowie ein generelles Verantwortungs-gefühl. In diesen Zusammenhang ordnet W. auch die Haltung vieler Polen bezüglich der Ermordung der Juden ein, eröffnete sich hier doch eine lukrative Möglichkeit, materiell zu profitieren. Die Beteiligung am Raub, der Versuch, ein möglichst großes Stück vom Besitz der ermordeten Juden zu bekommen, ließen sich gewissermaßen moralisch erhöhen, indem man sich einredete, dass besser die Polen profitieren sollten als die Deutschen. Ihnen konn-te man das Verbrechen zuschreiben, sich selbst hingegen den Profit sichern – mit den Wor-ten W.s: „Für die Deutschen – Verbrechen und Strafe, für uns – Schlüssel und Kasse. […] Was die Deutschen getan haben mit der Liquidierung der Juden, fällt auf ihr Gewissen zu-rück. D i e  R e a k t i o n e n  a b e r  a u f  d i e s e  L i q u i d i e r u n g  f a l l e n  f ü r  i m m e r  a u f  u n s e r  G e w i s s e n  z u r ü c k. Der Goldzahn, der dem Leichnam herausgebrochen wurde, wird immer blutig sein, auch wenn sich längst niemand mehr erinnern kann, woher er stammt“ (S. 157, Hervorhebung im Original). Diese schonungslose Analyse schrieb W. 1945 und veröffentlichte sie zu einem Zeitpunkt, als der verbliebene Besitz der ermordeten Juden neu verteilt wurde und alle Beteiligten genau wussten, wem die Möbel, die Woh-nungen und Häuser oder das Geschirr wenige Jahre zuvor noch gehört hatten und was mit diesen früheren Besitzern passiert war. In all seinen Analysen legt W. die deutschen Besatzer und die polnische Gesellschaft in ihren Wesenskernen frei, er zeigt ihre Deformationen ebenso wie ihre banalen Seiten und menschlichen Abgründe. „Die Besatzung, die wir erleben“, so schreibt er treffend, „ist eine Verlängerung des Krieges in seiner launischsten und aberwitzigsten Form“ (S. 13). Sie zeichne sich dadurch aus, dass „der Mensch in jedem Augenblick in ein anderes Sein gestoßen werden kann“ (ebenda). Es ist das große Verdienst des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und des Übersetzers Lothar Q u i n k e n s t e i n, der deutschen Öffentlichkeit diese wichtigen und erhellenden Analysen des Intellektuellen und Zeitgenossen W. nun zugänglich gemacht zu haben. Frankfurt am Main Markus Roth   Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Hrsg. von Ulla-Britta V o l l h a r d t  und Mirjam Z a d o f f. Wallstein Verlag. Göttingen 2023. 131 S., Ill. ISBN 978-3-8353-5492-0. (€ 15,–.)  „Wir spürten die Verantwortung. Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben“ (S. 114). Es sind diese Worte des 19-jährigen David Graber, auf die sich der Titel des von Ulla-Britta V o l l h a r d t  und Mirjam Z a d o f f  hrsg. Sammelbandes über das Untergrund-archiv des Warschauer Ghettos bezieht. Graber schrieb seinen Text in aller Eile am 2. Au-gust 1942, kurz bevor er diesen und eine große Anzahl weiterer Texte und Dokumente ge-meinsam mit Izrael Lichtensztejn und Nachum Grzwaczim im Keller einer Schule des Warschauer Ghettos verstecken konnte. Gut ein halbes Jahr später kamen weitere Texte hinzu, die an demselben Ort in Milchkannen vergraben wurden. Beide Nachlässe konnten  nach dem Krieg (1946 und 1950) geborgen werden. Ein dritter Teil, von dem man weiß, dass er im April 1943 an mehreren Orten verteilt wurde, hat sich bislang nicht wieder auf-finden lassen. Die erhaltenen Dokumente sind – nach ihrem Initiator Emanuel Ringelblum (1900–1944) – als Ringelblum-Archiv überliefert, das heute mit einem Bestand von 35.369 Blatt (S. 68) im Jüdischen Historischen Institut in Warschau (ŻIH) aufbewahrt wird. Das vorliegende Buch versteht sich als Begleitbuch einer Ausstellung über das Warschauer Untergrundarchiv, die das NS-Dokumentationszentrum München vor Ort in Kooperation mit dem ŻIH in der Zeit vom 29. Juni 2023 bis zum 7. Januar 2024 arrangierte. Bereits das Grußwort von Monika K r a w c z y k  gibt eine informative Einführung in die Thematik der Ausstellung. Das sich anschließende Vorwort von Mirjam Z a d o f f  und Piotr R y p s o n  bietet einen konzisen Überblick über die Formierung der unter dem Tarn-namen „Oneg Schabbat“ (Freude des Sabbat) operierenden Gruppe. Sie bestand aus etwa 60 Personen und hatte sich das Schreiben, Sammeln, Kopieren und Dokumentieren für das Untergrundarchiv zur Aufgabe gemacht. Den einführenden Beiträgen folgt eine knapp 50-seitige, mit Bildern versehene historische Darstellung zu den Akteuren und Zielsetzungen des Oneg Schabbat. Sie umfasst die Ereignisse von der Einrichtung des Ghettos im Herbst 1940 über die Massendeportationen im Juli/August 1942 bis zum großen Ghetto-Aufstand im April/Mai 1943 und dem Tod Ringelblums 1944. Galt schon das kulturelle Leben im Ghetto1 als „Symbol des Widerstands“ und „eine Form der Katharsis“ (S. 36), wurden die Bestände des Ringelblum-Archivs zu einer bedeutsamen Quelle der Selbstbehauptung: Texte des Archivs dienten nach dem Krieg als Beweismittel vor Gericht (so im Eichmann-Prozess 1961), den Holocaustforschenden wurden sie zur „unschätzbare[n] Ressource“ und den Oneg-Schabbat-Mitgliedern selbst zum „höheren Sinn“ (S. 61). Dem historischen Abriss folgen vier Beiträge, die auf die Beschaffenheit des Archivs (Georges D i d i - H u b e r m a n), die vielfältige Praxis der Archiv-Arbeit (Katarzyna P e r s o n), die Funktion von Gerüchten im Ghetto (Amos G o l d b e r g) und die Problema-tik der Getto-Dokumentation in Film und Fotos (Andrea L ö w) eingehen. Immer wieder durchbrochen werden diese Aufsätze durch doppelseitige, hellgrau unterlegte Auszüge aus Originaltexten und -bildern des Archivs, womit sich eine besondere Ebene der Publikation auftut: Texte über das Archiv werden durch Texte aus dem Archiv ergänzt, durchmischt, „gestört“ – nach Auffassung der Vf. ein bewusstes Verfahren, um den Originalen Respekt zu zollen. Eine zweite Auffälligkeit ist die Betonung ihrer Widerständigkeit. Die Rede ist u. a. von „herausragenden Heldentaten“ der Gruppe Oneg Schabbat (S. 6), von „Samen-körner[n] des Lebens, und sei es auch für die anderen“ (S. 83), und einem „unbedingt not-wendige[n] Korrektiv“ gegenüber der Täterperspektive (S. 123). Die Erinnerung nicht den Tätern zu überlassen, war – wie es Löw formuliert – „die große Motivation hinter dem Wirken und dem Einsatz der Mitglieder des Oneg Schabbat“ (S. 123). Dass es darüber hinaus Überlebensstrategien im Rahmen der „Gerüchtekultur“ (S. 98) gab, wird im Beitrag von Goldberg deutlich. Wer fühlte sich da nicht an Jurek Beckers Roman Jakob der Lüg-ner erinnert, wenn dieser auch nicht im Warschauer, sondern im Lodzer Ghetto spielt? Alles in allem ist der Band ein überzeugender Beitrag zum Ringelblum-Vermächtnis, der die Themenvielfalt des Gesammelten greifbar macht und neue Deutungsakzente setzt. Man darf auf die deutschsprachige Auswahledition des Warschauer Untergrundarchivs ge-spannt sein, die in einem Gemeinschaftsprojekt des ŻIH mit dem Fritz Bauer Institut (Frankfurt am Main), der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (München) vorbereitet wird.  Gießen  Elisabeth Turvold                                                                 1  Das hier erwähnte Theaterstück „Die Liebe sucht eine Wohnung“ wurde vor einigen Jahren in deutscher Sprache ediert: JERZY JURANDOT: Die Liebe sucht eine Wohnung. Eine Komödie aus dem Warschauer Getto, hrsg. von MARKUS ROTH und DAVID SA-FIER, Berlin 2017.  

Wichtiger als unser Leben. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Hrsg. von Ulla-Britta Vollhardt und Mirjam Zadoff

Hartwich, Mateusz

 Aufgrund dieser zentralen Bedeutung auch für aktuelle Diskussionen ist es etwas ärger-lich, dass die Edition nur in gedruckter Form und nicht im Open Access zur Verfügung steht. Gerade für die Verwendung in der Lehre wäre eine Online-Präsentation der präzise und sorgfältig ausgewählten Dokumente essenziell. Mit 930 Seiten ist die Publikation auch wenig handlich, was ein intensives Arbeiten damit weiter erschwert. Als weitere kleine Einschränkung sei zudem auf den teils unterdimensionierten bzw. wenig aussagekräftigen Fußnotenapparat in der Einleitung verwiesen. Die inhaltlich kompakte Einleitung hätte noch mehr an Tiefenschärfe gewonnen, wäre konsequenter und umfangreicher auf die ak-tuelle österreichische und ungarische Standardliteratur verwiesen worden. Trotz dieser kleinen Einschränkungen stellt die Quellenedition einen wichtigen Beitrag zum Verständnis österreichischer Außenpolitik, ungarischer Nachkriegsgeschichte und der Revolution von 1956 dar. Sie eröffnet neue Perspektiven auf das bilaterale Verhältnis zwi-schen Österreich und Ungarn und vermag es, auch die Geschichte beider Länder in den in-ternationalen Kontext des Kalten Krieges und der europäischen Nachkriegsordnung einzu-betten. Wien Sarah Knoll    Kulturtransfer und auswärtige Kulturpolitik. Akteure und Faktoren polnisch-deutscher Beziehungen 1949–1990. Hrsg. von Julia R ö t t j e r, Regina W e n n i n g e r  und Paweł Z a -j a s. (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Bd. 38.) Harrassowitz Verlag. Wiesbaden 2023. VI, 199 S., Ill., Tab. ISBN 978-3-447-11914-6. (€ 32,–.)  Der Sammelband betrachtet einen bis dato wenig erforschten Teilaspekt der (west)-deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Anders als der Untertitel suggeriert, konzentrieren sich die Beiträge auf die Jahre um 1960, punktuell erweitert um die Jahrzehnte davor und danach. Dabei gelingen durchaus interessante Einblicke in Spe-zialthemen, die vor allem das Bild jenseits der offiziellen politischen Beziehungen zwi-schen der BRD und der Volksrepublik ergänzen und bereichern. Der knapp 200 Seiten zählende Band versammelt neun Beiträge von Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen, die unterschiedliche Bereiche der Kultur- und Ge-schichtswissenschaft vertreten. Er geht zurück auf eine Tagung, die jedoch in der Einfüh-rung nicht weiter thematisiert wird. Das ist insofern bemerkenswert, als es möglicherweise für die Leserinnen und Leser interessant gewesen wäre zu erfahren, ob dort weitere The-men präsentiert wurden, die nicht Eingang in die Publikation gefunden haben. Die vorge-legten Artikel berühren sehr vielfältige Aspekte der deutsch-polnischen Kulturbeziehun-gen, die in der vorliegenden Rezension nicht alle besprochen werden können. Ein impliziter „roter Faden“ lässt sich jedoch in der Gesamtschau identifizieren, nämlich das Wechselverhältnis von individuellen Akteuren und Institutionen. Besonders deutlich lässt sich diese Problematik anhand des Beitrags von Margarete W a c h  „Festivals, Kommunalkinos, Filmklubs. Polnisch-westdeutscher Filmtransfer im Windschatten von Tauwetter und Ostpolitik“ darstellen. So wird der Einfluss einzelner Akteure wie etwa des aus Lodz stammenden West-Berliner Filmproduzenten Artur Brauner herausgearbeitet, der grenzüberschreitende Kinoprojekte initiierte und förderte, was nicht zuletzt auf seine eigene biografische Nähe zu Polen zurückzuführen ist. Der Produzentin Renate Ziegler (ebenfalls aus West-Berlin) sei die internationale Karriere von Krzysztof Zanussi maßgeblich zu verdanken, so Wach. Ulrich und Edith Gregor, die das Programmkino „Arsenal“ gründeten und betrieben, setzten dort ihre „eigenen Wertvorstel-lungen und Anschauungen“ (S. 76) um und präsentierten dem Publikum Filmproduktionen von jenseits der Oder in regelmäßigen „Polnischen Filmwochen“. Neben solchen engagier-ten Einzelpersonen spielten auch „Vermittlungsinstanzen“ wie einerseits Filmfestivals (Interfilm Wiesbaden, Kurzfilmtage Oberhausen) und andererseits „Diskutierfilmklubs“ in der Volksrepublik, die im Rahmen staatlicher Kulturpolitik den westdeutschen Arthouse-Film dem polnischen Publikum vermittelten, eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt war die in- dividuell angeregte und institutionell verfestigte Vernetzung über die Grenze für viele, später international bekannte und anerkannte polnische Filmemacher, eine Möglichkeit, „die offizielle Ebene zu umgehen und die Zensur zu unterlaufen“, resümiert Wach (S. 99). Anschaulich beschreibt Andreas L a w a t y  die Entstehungsgeschichte des Deutschen Polen-Instituts (DPI) in Darmstadt. Hier war es zunächst auch das persönliche, ebenfalls biografisch begründete, Engagement eines Einzelnen, des Gründers Karl Dedecius, das eine kulturelle Brücke in die Volksrepublik entstehen ließ. Hierbei mussten einige institu-tionelle Hürden überwunden werden, anders als jedoch im Fall einiger von Wach be-schriebener Filmfestivalleiter, die von offiziellen Stellen in der Bundesrepublik in ihrem Engagement ausgebremst wurden, scheint Dedecius zur DPI-Gründung geradezu gedrängt worden zu sein (S. 104), denn bis dato war er nicht in institutionellen Kontexten tätig ge-wesen. Natürlich spielt der historische Kontext eine zentrale Rolle, denn nach der Auf-nahme diplomatischer Beziehungen 1970 und ersten offiziellen Annäherungen an Polen war dem Auswärtigen Amt daran gelegen, jenseits von Regierungskommissionen und -ab-kommen nicht-staatliche Verbindungen zu knüpfen. Lawaty kann gewissermaßen aus der Binnensicht eines langjährigen Mitarbeiters, der Zugang zum unveröffentlichten Schrift-verkehr des Instituts hatte, einige hochinteressante Entwicklungen im Hintergrund der Ent-stehungsgeschichte beschreiben. Weitere Beiträge, etwa zu Ausstellungswesen, zum Jazz oder zur „polnischen Kompo-nistenschule“, beleuchten weitere Aspekte der Kulturbeziehungen. Bezüglich der Kompo-nisten kann Sebastian B o r c h e r s  in anschaulicher Weise herausarbeiten, wie wiederum ein einzelner Akteur, der Musikverleger Hermann Moeck, seit Ende der 1950er Jahre ein enges Netz persönlicher und organisatorischer Verbindungen knüpfte und wie Musikfesti-vals in der Nische als „transnationale Kommunikationsräume“ (S. 148) fungierten – eine Analyse, die auch von Marianne N o w a k  in ihrem Beitrag vertieft wird. Etwas aus dem Rahmen fällt der letzte Artikel des Bandes, in dem Nawojka C i e ś l i ń s k a - L o b k o w i c z  an den polnischen Kunsthistoriker Jan Białostocki erinnert. So wichtig seine Rolle in den deutsch-polnischen Kulturbeziehungen auch war und so begrüßenswert die Absicht ist, ihn im Rahmen des Beitrags zu würdigen, erscheint er im Kontext der Publikation etwas iso-liert, auch im Hinblick auf Methodik und Stil.  Ein abschließendes Gesamturteil muss etwas zwiespältig ausfallen. Die Beiträge prä-sentieren eine große Vielfalt an Themen, die auch teils sehr detailliert beschrieben werden. Leserinnen und Leser, die sich vertieft mit Teilaspekten der westdeutsch-polnischen Bezie-hungen auseinandersetzen möchten, kommen bei der Lektüre auf ihre Kosten. Wer jedoch einen „roten Faden“ und Stringenz erwartet, wird enttäuscht. Wie bei Tagungspublikatio-nen üblich, bilden die Beiträge keine Einheit, sondern behandeln einzelne Spezialthemen, die im Nachhinein eine Klammer in Form der Einführung bekommen. Im vorliegenden Fall entsteht jedoch aufgrund der Ausführlichkeit des Beitrags der Eindruck, dass die Ein-führung als separater Artikel konzipiert wurde und nicht als zusammenhängende Darstel-lung der Bestandteile. Nur am Rande sei erwähnt, dass das Band nicht ganz frei ist von sachlichen Fehlern – etwa, wenn das Datum der halbfreien Wahlen in Polen 1989 fälsch-licherweise mit 6. Juni statt 4. Juni angegeben wird.  Berlin Mateusz Hartwich          

Kulturtransfer und auswärtige Kulturpolitik. Akteure und Faktoren polnisch-deutscher Beziehungen 1949–1990. Hrsg. von Julia Röttjer, Regina Wenninger und Paweł Zajas

Schuster, Dirk

 and even after the war—of the collection of music and instruments assembled by the preeminent twentieth-century Baroque harpsichordist Wanda Landowska. The final two essays look at the frequently awkward efforts of present-day Poles to re-integrate Jewish music into contemporary Polish life as a part of the national heritage. Magdalena W a l i g ó r s k a  presents a condensed version of her extraordinary full-length ethnography of the Polish klezmer scene, Klezmer’s Afterlife (2013), with accounts of Polish musicians navigating various paths toward seeing themselves in their country’s Jewish musical narrative. Eleanor S h a p i r o  brings an American Jewish perspective to her analysis of Poland’s “Encounters with Jewish Culture,” Jewish music festivals, and Holo-caust remembrance ceremonies. Her essay reminds us of the enormous amount of work that remains to be done, not only to unearth the considerable treasures of Jewish music still buried under the ruins of Jewish Poland but also to identify how Poland and, by extension, the rest of post-Holocaust Europe might learn to honor this substantial and unique cultural heritage appropriately. Boston Hankus Netsky   Bekenntnis und Diaspora. Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Mittel- und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. Von Angela I l i ć. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Bd. 142.) Verlag Friedrich Pustet. Re-gensburg 2021. 244 S., Ill. ISBN 978-3-7917-3227-5. (€ 29,95.) Der deutschsprachige Protestantismus in der Diaspora stellt ein Thema dar, das aus transnationaler Perspektive bis dato kaum untersucht worden ist. Es gibt beispielsweise eine Vielzahl von Arbeiten über den deutschsprachigen Protestantismus der Siebenbürger Sachsen in Rumänien. Epochen- und länderübergreifende Studien, allen voran über die Verbindungen von Deutschland zu den vielfältigen Diasporagemeinden in Mittel- und Südosteuropa, sind jedoch Mangelware. In Anlehnung an das Reformationsjahr 2017 fand ein Jahr später ein Workshop in München statt, der sich jenem Desiderat anzunähern ver-suchte und dessen Beiträge im vorliegenden Band veröffentlicht wurden. Zu Recht merkt die Hrsg. Angela I l i ć  an, dass in den umfangreichen Forschungen im Rahmen des Reformationsjubiläums jenes Gebiet, welches heutzutage als Südosteuropa bezeichnet wird, so gut wie gar keine Beachtung fand. Um die vielfältigen Verbindungen und Netzwerke des Protestantismus – oder genauer gesagt: der Protestantismen – in jener Region aufzeigen zu können, wählt I. einen transnationalen Zugang. Die zeitlichen Schwerpunkte liegen auf dem 16. sowie dem 19. und 20. Jh. (S. 10). Leider fehlt an dieser Stelle eine Begründung, warum sich die Verantwortlichen bei der Konzeption des Work-shops bzw. des Bandes ausgerechnet auf diese drei Jahrhunderte festgelegt haben. Zudem hat lediglich der Beitrag von Luka I l i ć  über die deutsch-südslawischen Interferenzen einen zeitlichen Fokus auf das 16. Jh.; die restlichen acht Artikel bewegen sich zeitlich allesamt im 19. und 20. Jh. Positiv hervorzuheben ist wiederum, dass mehrere Beiträge nicht nur prägende Persönlichkeiten und Institutionen bzw. kirchliche Entwicklungen der jeweiligen Diasporagemeinden untersuchen, sondern auch transregional agierende konfes-sionelle Organisationen wie den Gustav-Adolf-Verein. Diese haben bekanntlich durch ihre Arbeit maßgeblich die Entwicklungen des deutschsprachigen Protestantismus in der Diaspora beeinflusst und geprägt. Norbert F r i e d r i c h  stellt die verschiedenen diakonischen Mutterhäuser vor, welche seit dem 19. Jh. zur Unterstützung des (deutschsprachigen) Protestantismus in Südosteuro-pa gegründet worden sind. Neben ihrem karitativen Zweck sollten diese Häuser aber auch „die Überlegenheit des deutschen Protestantismus dokumentieren, sie sind also auch als Teil der konfessionellen Konflikte zu interpretieren.“ (S. 47) Die nachfolgenden Beiträge von Béla M a k k a i  („Cultivating Denominational and National Identity in the Evangelical Reformed Mission Churches of Slavonia and Fiume“),  Karl-Reinhart T r a u n e r  („Relations between the Protestants in Maribor and Germany“) und Martin I l l e r t  („Die deutsche evangelische Kirchengemeinde Sofia – ein protestanti-sches Netzwerk in Südosteuropa“) bieten Fallbeispiele auf regionaler bzw. lokaler Ebene. An dieser Stelle wurde leider eine Chance vertan, derartige empirische Untersuchungen durch entsprechende Vorgaben in einer Weise aufeinander abzustimmen, die nachträgliche Vergleiche – in welcher Art auch immer – ermöglicht hätte: Aus ähnlichen Schwerpunkt-setzungen der Beiträge (Epoche, Netzwerke, Umbrüche etc.) hätten mögliche Tendenzen, Unterschiede etc. abgeleitet werden können. So stehen jedoch diese – zweifelsohne sehr interessanten – Beiträge „nur“ nebeneinander, anstatt auf Grundlage empirischer Befunde einer vergleichenden Schwerpunktsetzung zu folgen. Anna B i s c h o f s  Beitrag ist – aus subjektiver Sicht des Rezensenten – besonders be-achtenswert, nimmt dieser doch einen der Hauptakteure in den Beziehungen zwischen Deutschland und den deutschsprachigen Diasporagebieten Südosteuropas am Beispiel der Slowakei in den Blick: Beim Gustav-Adolf-Verein gehörten neben konfessionellen ebenso auch nationale Interessen zum Schwerpunkt der eigenen Agenda, weshalb es zu einer en-gen Zusammenarbeit zwischen dem Verein und dem Auswärtigen Amt bezüglich der Betä-tigung in der Slowakei gekommen ist. Der Gustav-Adolf-Verein deutete die Unterstützung der deutschsprachigen Protestanten in Südosteuropa und darüber hinaus entsprechend als „Dienst am deutschen Volkstum“ (S. 142). Die Behauptung der Autorin, nach Kriegs-beginn 1939 sei es zu einer „fortschreitenden nationalsozialistischen Kirchenpolitik [ge-kommen], die den kirchlichen Einfluss auch im Ausland zurückdrängte“ (S. 143), hätte für das slowakische Beispiel jedoch einer entsprechenden Beweisführung bedurft. Generalisie-rende Aussagen, die den Säkularismus – der Trennung von Staat und Kirche – eines totali-tären Regimes automatisch als „antikirchlich“ deuten, sind stark von kirchlicher Apolo-getik sowie der Nachkriegskirchengeschichtsschreibung geprägt und müssen für den jeweiligen Fall kritisch nach den Kontexten hinterfragt werden. In Siebenbürgen kam es beispielsweise während des Zweiten Weltkrieges zu einer engen Kooperation zwischen der deutschsprachigen evangelischen Landeskirche und der SS.1 Die Hrsg. selbst hat sich ebenfalls des Gustav-Adolf-Vereins angenommen und präsen-tiert eine Bestandsaufnahme der bisherigen Arbeiten über den Verein und dessen Engage-ments in Gebieten des ehemaligen Jugoslawien. Neben den bereits geleisteten Forschun-gen illustrieren die von Ilić aufgezeigten Forschungsdesiderate, dass in dem Bereich der protestantischen Netzwerke innerhalb und nach Südosteuropa noch umfassende Untersu-chungen notwendig sind, um aus deren Befunden ein Gesamtbild erstellen zu können. Karl W. S c h w a r z  untersucht die evangelische Diaspora Sloweniens vor und nach dem Ersten Weltkrieg, wobei er sich speziell auf den Pfarrer und späteren österreichischen Bischof Gerhard May als Zeitzeugen und Interpreten fokussiert. Daniela S i m o n  widmet sich im letzten Beitrag des Bandes dem Protestantismus in Kroatien unter dem faschisti-schen Ustaša-Regime. S. kann sehr gut aufzeigen, dass den Vertretern der Regime in Berlin und Zagreb kurzfristige militärische und politische Interessen weitaus wichtiger waren als irgendwelche ideologischen Programme – ganz zu schweigen von angeblich von langer Hand geplanten antikirchlichen Maßnahmen. Es ist zu hoffen, dass der Sammelband kein Stückwerk bleibt, sondern den Ausgangs-punkt bildet für eine intensivere, länderübergreifende Erforschung des deutschsprachigen Protestantismus in Südosteuropa. Es wäre wünschenswert, wenn hierzu weitere Bände er-scheinen, deren Beiträge untereinander jedoch präziser auf einen spezifischen Themen-komplex abgestimmt sind. Wien  Dirk Schuster                                                                1  DIRK SCHUSTER: Die Evangelische Landeskirche A.B. in Rumänien als nationalkirch-licher Missionsträger in den besetzten Ostgebieten zwischen 1941 und 1944, in: Zeit-schrift für Siebenbürgische Landeskunde 36 (2013), S. 181–192.  

Bekenntnis und Diaspora. Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Mittel und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. von Angela Ilić

Ziaja, Georg

 kompakt in einem erweiterten Quellenanhang darzubieten. Insgesamt liegen hier – freilich sehr wertvolle – Materialien zu einer Biografie Bogislaws XIII. vor; ein Porträt eines Re-naissanceherzogs ist es nur bedingt. Linden Norbert Kersken  Jolanta Choińska-Mika: Konfederacja warszawska. Trudne dzieje obywatelskiego kompromisu. [Die Konföderation von Warschau. Die schwierige Geschichte eines bürger-lichen Kompromisses.]. Muzeum Historii Polski. Warszawa 2024. 150 S., Ill. ISBN 978-83-65248-92-3. (PLN 32,–.)  Das vorliegende Buch entstand aus Anlass des 450. Jahrestages der Unterzeichnung der Konföderation von Warschau vom 28. Januar 1573. Jolanta C h o i ń s k a - M i k a, eine pro-minente polnische Historikerin und Professorin an der Universität Warschau, ist eine Ex-pertin für den Parlamentarismus und die altpolnische Gesellschaft, aber auch für britische Geschichte des 16./17. Jh. Das Buch ist – angesichts der Bedeutung des Jubiläums – äußer-lich eher bescheiden aufgemacht. Dafür enthält es aber einen 24-seitigen Einleger mit 14 farbigen Abbildungen (darunter die Urkunde des Augsburger Reichs- und Religionsfrie-dens von 1555). Eine eher schematische Karte der Rzeczpospolita ist auch dabei, hier hätte man sich eine detailliertere Karte gewünscht. Die Auswahl der benutzten Quellen (u. a. Bezkrólewia ksiąg ośmioro, Volumina Constitutionum, Uchańsciana, Metryka Koronna, Akta sejmikowe) ist ausgezeichnet und deckt das Thema vollständig ab. Hingegen ist die kurze Literaturliste eher unvollständig und berücksichtigt nur polnische Bearbeitungen. Auch eine englische oder deutsche Zusammenfassung fehlt. Die Vf. beschreibt die ersten 15 Jahre der Rzeczpospolita nach dem Tod von Sigismund II. August am 7. Juli 1572, dem letzten König aus der Jagiellonen-Dynastie, die für nahezu 200 Jahre Polen regiert hatte. Der plötzliche Tod des Königs löste in der Rzeczpospolita nahezu eine Panik aus. Nun mussten rasch alle rechtlichen und organisatorischen Maßnah-men getroffen werden: Wie sollte ein neuer König gewählt werden, wer konnte gewählt werden, wo sollte die Wahl stattfinden? Und vor allem: Wie konnte man sich vor eventuel-len absolutistischen Ambitionen eines zukünftigen Königs absichern? Auch Glaubensfra-gen, einschließlich der religiösen Toleranz, wurden durchdiskutiert und die entsprechenden Urkunden (Articuli henriciani und Konfederacja warszawska) verfasst. Der zukünftige König musste die beiden Dokumente feierlich beschwören, denn: „si non iurabis, non reg-nabis“ (wenn du nicht schwörst, wirst du nicht regieren) (S. 79). Dies alles wird von der Autorin chronologisch und – wenn man den kleinen Umfang des Buches berücksichtigt – ziemlich detailliert in elf kurzen Kapiteln beschrieben: die drei Königswahlen (Heinrich von Valois 1574, Stefan Bathory 1576 und Sigismund III. Wasa 1587) und die jeweiligen Interregna. C.-M. schildert den ständigen Kampf zwischen den zwei Lagern der Katholi-ken und Protestanten (die etwa die Hälfte der Abgeordneten stellten). Die katholische Kir-che, insbesondere Primas Jakub Uchański, wollte den Protestanten keine Zugeständnisse machen und wurde dabei durch die päpstlichen Nuntien unterstützt, aber auch unter Druck gesetzt, u. a. durch die Drohung, ihm als Primas seine Rechte zur Krönung des neuen Kö-nigs abzuerkennen. Die schließlich vereinbarte Konföderation vom 28. Januar 1573 gab den Protestanten bzw. Calvinisten (vor allem in Kleinpolen und Litauen), Lutheranern (vor allem in Preußen und Großpolen) und Böhmischen Brüdern (in Großpolen) – die Anti-trinitarier wurden ausgeschlossen – das Recht, ihren Glauben frei auszuüben, und gewährte ihnen auf politischer Ebene die gleichen Rechte wie den Katholiken. Die katholische Kir-che stimmte der Vereinbarung erst zu, nachdem ihr die Beibehaltung aller bisherigen Be-sitzungen und Einnahmen garantiert worden war. Die Vf. betont mehrfach, dass die tolerante „Verfassung“ nur durch den Sejm (Adelige) verfasst und nicht von oben, vom Herrscher, aufgezwungen worden sei. Trotz der Streitig-keiten – die aber nie zu Glaubenskämpfen ausuferten (S. 54) – konnte sich der Adel der Rzeczpospolita auf einen Kompromiss verständigen. Die Gesellschaft hatte nicht nur ihre  religiösen Angelegenheiten zu regeln; auch wurde die Union zwischen Polen und Litauen von dem litauischen Adel nach dem Tod Sigismunds II. in Frage gestellt. Die Union blieb jedoch bis zu den Teilungen der Rzeczpospolita bestehen (also noch für fast 200 Jahre), auch ohne die Herrscher aus der litauischen Jagiellonen-Dynastie. Dies alles zeuge, schreibt C.-M., von einer hohen politischen Kultur der polnischen Gesellschaft des 16. Jh., die auf eine lange Tradition der Toleranz und des Parlamentarismus verweisen könne (S. 122, Anm. 134). Insgesamt ist das Buch eine wertvolle Studie, in der ein wichtiger Abschnitt der polni-schen Geschichte (1572–1587) beschrieben und erklärt wird. Anhand zahlreicher bislang wenig bekannter Details wird die Atmosphäre dieser dramatischen Zeit anschaulich und nuanciert wiedergegeben – sie schwankte nach dem Tod des letzten Jagiellonen zwischen einer Art Schockstarre, in die große Teile des Landes verfielen, und den fieberhaften Akti-vitäten des Adels zu einer möglichst raschen Beendigung des Interregnums. Bonn  Georg Ziaja   The Economic History of Central, East and South-East Europe. 1800 to the Present. Hrsg. von Matthias M o r y s. Routledge. London – New York 2021. 505 S. ISBN 978-1-138-92197-9. (£ 135,–.)  Nach mehreren Jahrzehnten ist endlich wieder eine Überblicksdarstellung zur Wirt-schaftsgeschichte des östlichen Europas erschienen. Das letzte vergleichbare Werk stammt aus den 1980er Jahren.1 Seit dieser Zeit sind nur wenige Gesamtdarstellungen zu bestimm-ten Perioden oder Subregionen sowie Artikel in Handbüchern publiziert worden.2 Synthe-sen der Wirtschaftsgeschichte einzelner ost-, ostmittel- und südosteuropäischer Länder in westlichen Sprachen sind ebenfalls sehr rar. Der zu besprechende Band mit seiner kurzen Einleitung und 17 jeweils ca. 25 Seiten langen Beiträgen stellt also eine hochwillkommene Lektüre für die universitäre Lehre dar.  Innerhalb der Forschung richtet sich „the first quantitative economic history of Eastern Europe“ (S. 2) vorrangig an die Historiografie zur globalen oder europäischen Wirtschafts-geschichte, in der diese Region zumeist wenig beachtet wird. Die Kapitel beschäftigen sich mit Wirtschaftswachstum und sektoralem Wandel, Wirtschaftspolitik, dem Verhältnis zur westeuropäischen, teilweise auch globalen Wirtschaft, sowie Bevölkerungsentwicklung und Lebensstandard. Diese vier Themen werden für vier Zeitperioden behandelt: das lange 19. Jh. bis 1914, die Zwischenkriegszeit 1918–1939, die staatssozialistische Periode 1945–1989/91 sowie die Periode der Transformation seit 1989.     Fast alle Beiträge diskutieren die Frage, inwiefern es der Wirtschaft im östlichen Euro-pa oder wenigstens einigen Regionen und Branchen gelang, den Abstand zum westlichen Europa in Bezug auf Produktivität und Wohlstand zu verringern, und welche Rolle dabei innere Faktoren einerseits sowie die Verflechtung mit der Weltwirtschaft andererseits spielten. Die Grundlage der Debatte liefert ein Artikel von Stephen B r o a d b e r r y  und Mikołaj M a l i n o w s k i  über „Living Standards in the Very Long Run: The Place of Cen-tral, Eastern and South-Eastern Europe in the Divergence Debate“. Der Vergleich der Re-allöhne in verschiedenen Städten während der frühen Neuzeit zeigt ein Wohlstandsgefälle                                                                 1  M. C. KASER, E. A. RADICE (Hrsg.): The Economic History of Eastern Europe, 1919–1975. 3 Bde., Oxford 1985–1987.  2  DEREK H. ALDCROFT, STEVEN MOREWOOD: Economic Change in Eastern Europe since 1918, Aldershot 1995; DAVID TURNOCK: The Economy of East Central Europe, 1815–1989. Stages of Transformation in a Peripheral Region, London – New York 2006; Vgl. exemplarisch: JERZY ŁAZOR, BOGDAN MURGESCU: Economic Development, in: WŁODZIMIERZ BORODZIEJ, STANISLAV HOLUBEC u. a. (Hrsg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Volume 1: Chal-lenges of Modernity, London – New York 2023, S. 313–384. 

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