Erath, Kirstin

Prediger, Susanne

Weinert, Henrike

Eldorado - Ressourcen aus und für Lehre, Studium und Forschung

A. Frank, S. Krauss & K. Binder (Hrsg.),Beiträge zum Mathematikunterricht 2019. Münster: WTM-Verlag.Seite 1287Kirstin ERATH, Susanne PREDIGER & Henrike WEINERT, Dortmund Erfassung von Interaktionsqualität zur Erklärung der Wirksamkeit von fach- und sprachintegrierten Förderungen Der Zusammenhang von Sprachkompetenz und Mathematikleistung ist viel-fach statistisch belegt: Sprachlich schwache Lernende zeigen schwächere Mathematikleistungen als sprachlich stärkere Peers (u. a. Prediger, Wilhelm, Büchter, Gürsoy & Behnholz, 2015; Ufer, Reiss & Mehringer, 2013). Daher ist die Integration von sprachlichem und fachlichem Lernen für Bildungspo-litik und Unterrichtsentwicklung hoch relevant (Darsow, Paetsch, Stant & Felbrich, 2012; Short, 2017). Doch welche Bedingungen für die lernwirk-same Ausgestaltung einer solchen Integration im Einzelnen relevant sind, ist bislang wenig untersucht. Ausgangspunkt der vorgestellten Überlegungen ist das DFG-Projekt MESUT, in dem die Lernwirksamkeit einer fach- und sprachintegrierten Förderung von 5 x 90 Minuten zum konzeptuellen Ver-ständnis von Brüchen nachgewiesen werden konnte (Prediger & Wessel, 2018), sich jedoch große Unterschiede in den einzelnen Fördergruppen zei-gen. Im Rahmen des Angebots-Nutzungs-Modell (Helmke, 2009) werden daher die Gelingensbedingungen in der interaktiven Realisierung der Lehr-Lern-Prozesse in den Förderungen genauer untersucht. Theoretischer Hintergrund: Dimensionen von Interaktionsqualität Studien zur Erfassung von Unterrichtsqualität beziehen sich bislang oft auf Redezeiten oder die kognitive Aktivierung und betonen, dass diese Elemente um ihre fachdidaktischen Dimensionen angereichert werden sollten (u. a. Li-powsky, Drollinger-Vetter, Klieme, Pauli & Reusser, im Druck). Um die In-teraktionsqualität zu operationalisieren, wurden auf Grundlage von Litera-turrecherche und qualitativen Analysen der videographierten Lehr-Lernpro-zesse im Projekt MESUT vier Dimensionen für die individuellen lernenden-seitigen Nutzungsintensitäten und lehrendenseitigen Aktivierungsintensitä-ten als potentiell bedeutsam identifiziert (Erath & Prediger, 2018): (1) Die kommunikativ-quantitative Dimension bezieht sich auf Redezeiten aller Interaktionsteilnehmenden und erfasst insbesondere die Anteile der Re-dezeit von Lehrkraft und Lernenden. Ihre Bedeutung wird vielfach betont und liegt beispielsweise auch der TIMSS-Videostudie zugrunde (Hiebert et al., 2003). (2) Die konzeptuelle Dimension bezieht sich auf die Teilhabe an bzw. den Fokus auf der Erarbeitung von konzeptuellem Wissen, also z.B. der Redezeit in Phasen der Diskussion von Aufgaben mit konzeptuellem Schwerpunkt (Hiebert & Grouws, 2007). A. Frank, S. Krauss & K. Binder (Hrsg.),Beiträge zum Mathematikunterricht 2019. Münster: WTM-Verlag.Seite 1288(3) In der diskursiven Dimension wird die Qualität der Diskurspraktiken er-fasst, deren Bedeutung für das Mathematiklernen herausgearbeitet wurde (u. a. Moschkovich, 2015; Erath, 2017). Zentral wird gesetzt, dass die Ler-nenden unterstützt und ermutigt werden auch an anspruchsvollen Diskurs- praktiken wie dem Erklären oder Argumentieren teilzuhaben und somit ins-besondere nicht nur Antworten auf Wort- und Halbsatzebene zu geben. Diese Dimension betrifft somit den Anteil der diskursiv anspruchsvollen Re-debeiträge. (4) Die lexikalische Dimension kommt insbesondere für sprachlich schwa-che Lernende hinzu. Um ihnen die Teilhabe an den bereits beschriebenen Dimensionen von Unterricht zu ermöglichen, benötigen sie zusätzliche Un-terstützung auf lexikalischer Ebene (u. a. Gibbons, 2002). In der lexikali-schen Dimension wird daher der Umgang mit Wortschatzarbeit und ihre Nut-zung fokussiert, z.B. ob sie als Selbstzweck oder diskursiv eingebettet er-folgt. Auch wenn zahlreiche qualitative Studien Hinweise auf die Relevanz einzel-ner Aspekte geben, ist bislang die hier verfolgte Forschungsfrage unbearbei-tet, welche Aktivierungs- und Nutzungsintensitäten (unter Kontrolle der Lernvoraussetzungen) die stärksten Zusammenhänge mit dem konzeptuellen Lernzuwachs aufweisen (Erath & Prediger, 2018). Forschungsdesign Die videographierten Lehr-Lern-Prozesse werden in einem Prä-Post-Design auf differentielle Wirksamkeiten bezüglich des konzeptuellen Verständnis-ses untersucht. Dabei werden die Angebots- und Nutzungsintensitäten von 16 Förderkleingruppen mit je vier bis sechs Lernenden verglichen. Die In-tensitäten in kommunikativ-quantitativer, konzeptueller, diskursiver und le-xikalischer Dimension wurden in teils niedrigen, teils hoch inferenten Ra-tings der Videos und Transkripte erfasst. In Regressionsmodellen, die die Mehrebenen-Struktur berücksichtigen, wurden die Intensitäten zu Lernzu-wächsen in den untersuchten Fokusaufgaben (auf die sich die untersuchten Fördersitzungen inhaltlich beziehen) in Beziehung gesetzt. Empirische Ergebnisse: Aktivierung scheint wichtiger als Nutzung Auch wenn bislang erst die Daten für 16 Fördergruppen ausgewertet sind (statt der für Mehrebenenmodelle wünschenswerten 30 Gruppen) und damit die Schätzung der Regressionskoeffizienten und Standardfehler erst begrenzt verlässlich sind, zeichnen sich bereits sehr interessante Ergebnisse ab. Die Lernzuwächse vom Vor- zum Nachtest unterscheiden sich zwischen den Fördergruppen erheblich, es lassen sich laut ICC 15,9 % der Variabilität der A. Frank, S. Krauss & K. Binder (Hrsg.),Beiträge zum Mathematikunterricht 2019. Münster: WTM-Verlag.Seite 1289Lernzuwächse durch Gruppenzugehörigkeiten erklären. Auch bezüglich der Angebots- und Nutzungsmerkmale zeigen die Gruppen trotz intensiver ge-meinsamer Schulung der Förderlehrkräfte sehr große Schwankungen.  In Regressionsmodellen wurden unter Berücksichtigung der Gruppenstruk-turen signifikante Zusammenhänge zwischen Lernzuwachs und den indivi-duellen Nutzungs- bzw. gruppenbezogenen Angebotsintensitäten identifi-ziert: • Konzeptuelle Aktivierung (operationalisiert als Anteil des Erklärens / Argumentierens an der Time-on-Task) mit 1.45 Punkten geschätzter Zu-wachs im Nachtest pro 10 % mehr Aktivierung im Regressionsmodell • Kommunikative Aktivierung mit 0.48 Punkten (Anteil der Redezeit der Lernenden an der Time-on-Task) • Diskursive Aktivierung mit 0.34 Punkten (Anteil der Bearbeitungszeit von Aufgaben mit anspruchsvollen schriftlichen diskursiven Anforde-rungen an der Time-on-Task) • Lexikalische Aktivierung mit 0.28 Punkten (Anteil der Lehrendenim-pulse zur Wortschatzarbeit an allen Impulsen) Die individuellen Nutzungsmerkmale (wie z.B. die gemessene aktive Rede-zeit der einzelnen Lernenden) zeigen dagegen keine signifikanten Zusam-menhänge mit dem Lernzuwachs. Beide Befunde bestätigen sich auch im gemeinsamen Regressionsmodell unter Kontrolle der Lernvoraussetzungen Sprachkompetenz und kognitive Grundfertigkeiten. Diskussion Fach- und sprachintegrierte Förderung wird dann besonders lernwirksam, wenn die Moderation der Lehrkraft konzeptuell, kommunikativ, diskursiv und ggf. auch lexikalisch aktivierend ist. Die Lernenden können dabei indi-viduell auch passiv sein, ihre Nutzungsintensitäten scheinen die Lernzu-wächse deutlich weniger zu beeinflussen. Diese Befunde können zur Relati-vierung von zu simplen Operationalisierungen von Beteiligung (durch Re-dezeit) und zur fachbezogenen Ausdifferenzierung von kognitiver Aktivie-rung beitragen (vgl. Forderung von Lipowski et al., im Druck). Dass sich nicht individuelle Nutzungsmerkmale, sondern die gruppenbezogenen Akti-vierungsmerkmale als signifikant herausstellen, trägt zur Theoriebildung zu Gelingensbedingungen von fach- und sprachintegriertem Unterricht bei, die neben kommunikativ-quantitativen Redeanteilen auch die diskursive Quali-tät des Lernmilieus einbeziehen muss. A. Frank, S. Krauss & K. Binder (Hrsg.),Beiträge zum Mathematikunterricht 2019. Münster: WTM-Verlag.Seite 1290Projektkontext. Das Projekt MESUT 2: Mathematisches Verständnis Entwickeln mit Sprachunterstützung - Empirische Studie zu differentiellen Gelingensbedingungen fach- und sprachintegrierter Förderungen im Angebots-Nutzungs-Modell (Projektlei-tung Prediger & Erath, PR662/14-2 & ER880/1-2) wurde durch die Deutsche For-schungsgemeinschaft gefördert. Literatur Darsow, A., Paetsch, J., Stanat, P. & Felbrich, A. (2012). Ansätze der Zweitsprachför-derung: Eine Systematisierung. Unterrichtswissenschaft, 40(1), 64–82.  Erath, K. (2017). Talking about conceptual knowledge. Case study on challenges for students with low language proficiency. In B. Kaur, W. K. Ho, T. L. Toh & B. H. Choy (Hrsg.), Proceedings of PME 41 (Band 2, S. 321–328). Singapore: PME. Erath, K. & Prediger, S. (2018). What characterizes quality of mathematics classroom interaction for supporting language learners? Disentangling a complex phenomenon. In N. Planas & M. Schütte (Hrsg.), Proceedings of ETC4 – Fourth ERME Topic Confer-ence ‘Classroom-Based Research on Mathematics and Language’ (S. 49–56). Dres-den: ERME / HAL. Gibbons, P. (2002). Scaffolding language, scaffolding learning. Portsmouth: Heinemann. Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze: Kallmeyer. Hiebert, J. & Grouws, D. A. (2007). The effects of classroom mathematics teaching on students’ learning. In F. K. Lester (Hrsg.), Second handbook of research on mathe-matics teaching and learning (S. 371–404). Charlotte, NC: Information Age. Hiebert, J., Gallimore, R., Garnier, H., Bogard Givvin, K., Hollingsworth, H., Jacobs, J., … Stigler, J. (2003). Teaching mathematics in seven countries. Results from the TIMSS 1999 Video Study. Washington, D.C.: U.S. Department of Education. Lipowsky, F., Drollinger-Vetter, B., Klieme, E. Pauli, C. & Reusser, K. (im Druck). Ge-nerische und fachdidaktische Dimensionen von Unterrichtsqualität – Zwei Seiten einer Medaille? In M. Martens, K. Rabenstein, K. Bräu, M. Fetzer, H. Gresch, I. Hardy & C. Schelle (Hrsg.), Konstruktionen von Fachlichkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.  Moschkovich, J. (2015). Academic literacy in mathematics for English learners. Journal of Mathematical Behaviour, 40, 43–62. Prediger, S. & Wessel, L. (2018). Brauchen mehrsprachige Jugendliche eine andere fach- und sprachintegrierte Förderung als einsprachige? Zeitschrift für Erziehungs-wissenschaft, 21(2), 361–382. doi:10.1007/s11618-017-0785-8 Prediger, S., Wilhelm, N., Büchter, A., Gürsoy, E. & Benholz, C. (2015). Sprachkompe-tenz und Mathematikleistung – Empirische Untersuchung sprachlich bedingter Hür-den in den Zentralen Prüfungen 10. Journal für Mathematik-Didaktik, 36(1), 77–104. Short, D. J. (2017). How to integrate content and language learning effectively for Eng-lish language learners. EURASIA Journal of Mathematics, Science and Technology Education, 13(7b), 4237–4260. doi:10.12973/eurasia.2017.00806a Ufer, S., Reiss, K. & Mehringer, V. (2013). Sprachstand, soziale Herkunft und Bilingu-alität: Effekte auf Facetten mathematischer Kompetenz. In M. Becker-Mrotzek, K. Schramm, E. Thürmann & H. J. Vollmer (Hrsg.), Sprache im Fach (S. 167–184). Münster: Waxmann. 

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