Nichtintendierte Folgen der Kritik

Abstract

Als wesentlicher Mechanismus der Entstehung einer Weltgesellschaft ist in der historisch orientierten soziologischen Theorie die Herausbildung globaler Kategorien (Rudolf Stichweh) beschrieben worden. Während in der westlichen Soziologie die Tendenz besteht, diesen Prozess als relativ einseitigen Prozess der Diffusion westlicher Konzepte in nicht-westliche Gesellschaften zu interpretieren, erwächst aus der postkolonialen Kritik eine andere Gefahr: Angetreten, die Universalität und Hegemonie westlicher Konzepte zu hinterfragen und deren Vorkommen kritisch auf ihre Genealogie hin zu untersuchen, schlägt dies um in die Tendenz, pauschal von der Imposition westlicher Konzepte auf nicht-westliche Gesellschaften auszugehen. Dabei wird die Verbreitung von Kategorien unmittelbar mit dem Prozess kolonialer Expansion und der gewaltsamen Durchsetzung von Nationalstaaten verknüpft. Die Herausbildung globaler Kategorien wird damit gleichbedeutend mit kolonialer Gewalt. Dies hat Folgen für die Analyse des Gegenstands wie für die Konzeption der beteiligten Akteure. Ein Beispiel für diese Problematik ist die sozialwissenschaftliche Debatte um die Unterscheidung zwischen Religiösem und Säkularem bzw. um den „secularism“. Der Vorstoß des Anthropologen Talal Asad zählt zu den wohl folgenreichsten kritischen Ansätzen im Rahmen der Forschung zu Religion, der die seit langem bestehende Kritik an westlichen Säkularisierungs- und Modernisierungstheorien in eine grundsätzliche genealogische Kritik des religious-secular-divide überführt hat. Dieser Ansatz ist vor allem, aber nicht nur in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften breit aufgegriffen worden und verbindet sich dort mit der Kritik an der Politik der eigenen Gesellschaft. Der Beitrag diskutiert anhand eines Überblicks über die neuere Forschung die (in der Regel wohl nicht intendierten) Folgen dieser Rezeption postkolonialer Ansätze im Gefolge Asads. Die These ist, dass das, was als Anstoß zur Historisierung und Kontextualisierung der Verbreitung westlicher Konzepte begonnen hat, umgeschlagen ist in neue Essentialisierungen. Diese betreffen (1) ein unterstelltes, relativ einheitliches Konzept eines westlichen „Säkularismus“; (2) die Konzeption dieses Säkularismus als historischer Akteur (Diskurs, Apparatus); (3) die Präsentation nichtwestlicher Gesellschaften als bloße Opfer dieser westlichen Imposition; (4) die implizite Präsentation dieser Gesellschaften und ihrer Religionen als – im Gegenzug zu den als westlich attribuierten „divides“ und „violences“ – tendenziell holistisch, friedlich und tolerant. Diese Ausrichtung der Forschung zeigt sich besonders deutlich dort, wo es um Gesellschaften geht, die islamisch oder hinduistisch geprägt sind. Der Beitrag argumentiert, dass die Forschung im Zuge dieser Politisierung in die Nähe zu identitären Politiken gerät. Fragen der Werturteilsfreiheit werden angesichts dieser Lage neu virulent. Diskutiert wird schließlich die Frage, wie sich eine historisch informierte Soziologie positionieren kann, die die historisierenden und kontextualisierenden Anliegen der postkolonialen Kritik aufgreift, ohne in die beschriebenen Fallstricke zu geraten. Das heißt auch, die Frage nach der Universalisierbarkeit von Konzepten – etwa von Differenzierung – zu stellen, ohne die Genealogie von deren konkreter Ausformung aus dem Auge zu verlieren. Der Beitrag behandelt diese Fragen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungsansätze im Rahmen der Kollegforschungsgruppe „Multiple Secularities: Beyond the West, Beyond Modernities“ an der Universität Leipzig

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