VORWORT: Ikonisch verdichtet sich auf dem Umschlag dieser Broschüre das Selbstbild Dresdens. Von der Brühlschen Terrasse, „Balkon Europas“ genannt, geht der Blick auf die Kunstakademie, mit der gläsernen Kuppel des Kunstvereins, die mit einer eigenartigen Figur an ihrer Spitze besetzt ist, die sich beim näheren Hinsehen als Chimäre aus Nike und Fama zu erkennen gibt. Auf dem Sockel in der Bildmitte steht Gottfried Semper, der jene Oper baute, die heute medial auch als „das schönste Brauhaus Deutschlands“ bekannt ist. Und am hinteren Bildrand werden das neu errichtete Coselpalais, benannt nach der berühmten Mätresse August des Starken, und die wiedererrichtete Frauenkirche sichtbar. Sie ist das Stein gewordene Symbol für die Rekonstruktion des „alten“ Dresden und zugleich Objekt eines neu-alten Bürgerstolzes.
Betrachtet man dieses Bild, mag es verständlich erscheinen, dass manche sagen, Dresden sei gar keine Stadt, sondern ein Mythos. Indes, so wäre zu entgegnen, macht der Mythos erst die Stadt. „Elbflorenz“ – das ist die Erzählung von barocker Schönheit, Liebe zur Kunst und Prunk der alten Residenz. Es ist ein Erinnerungsmythos, zugleich aber auch ein Mythos der Wiederbegründung. Zwischen beide schiebt sich der Mythos des Opfers: die Zerstörung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945.
In den Konflikten um die Kirchen- und die Stadtrekonstruktion, um die Restituierung von räumlicher Mitte und urbaner Identität, hat sich eine die Bürgerschaft mobilisierende Energie zu erkennen gegeben. Sie hat es vermocht, dass mehr als drei Viertel der Kosten für den Wiederaufbau der Kirche von privaten Geldgebern gespendet wurde. Zugleich hat diese gemeinsinnige Kraft aber auch bei der Bebauung der die Frauenkirche umgebenden Brachen zu einer Emphase historistischer Rekonstruktionstreue auf dem Neumarkt geführt. In der Erzählung von Zerstörung und Wiederauferstehung verschränken sich mithin mythische Eigentranszendierung der Stadt und aktuelle Gemeinsinnsbehauptungen in einer höchst spannungsvollen Weise.
Dresden illustriert die Fragestellung des Sonderforschungsbereichs, der in dieser Stadt auch seinen Sitz hat. Der Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ wurde im Mai 2009 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt und besteht seit dem 1. Juli 2009 an der Technischen Universität Dresden. Er umfasst 20 Teilprojekte aus drei Fakultäten und neun Instituten der TU Dresden sowie von Partnern der italienischen Universitäten Turin und Matera und der Universität Zürich, Schweiz. Zudem besitzt der SFB 804 ein Integriertes Graduiertenkolleg zur Ausbildung von Doktoranden und internationalen Stipendiaten. Das Forschungsprogramm sieht vor, jenseits herkömmlicher Epocheneinteilungen Ordnungsformationen wie Stadt, Republik, Demokratie, Nation, bürgerliche Gesellschaft, Adel und Hof, religiöse und nicht-religiöse Gemeinschaften miteinander zu vergleichen. Stets geht es um die Analyse des spannungsvollen Zusammenspiels von Transzendenzformen und Gemeinsinnsvorstellungen bei Entstehung, Stabilisierung und Scheitern von vormodernen und modernen sozialen und politischen Ordnungen. Mit dieser interdisziplinär und international vernetzten Fragestellung setzt der SFB 804 die erfolgreiche Grundlagenforschung der Dresdner Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften fort, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit dem Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ und einem Internationalen Graduiertenkolleg begonnen hat.
Die folgenden Seiten beabsichtigen, den gemeinsamen Forschungsansatz und die Ziele der einzelnen Projekte des SFB 804 der wissenschaftlichen und interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Sie möchten auch zu Anregung und Auseinandersetzung einladen.:6 Hans Vorländer: Einleitung
16 Maria Häusl: Trennung und Öffnung. Alttestamentarische Diskurse um die Konstituierung des nachexilischen Israel
22 Matthias Klinghardt: Mahl und Kanon. Gemeinschaftsbildung im frühen Christentum
28 Martin Jehne: Die Investition eigener Ressourcen in die Gemeinschaft von der mittleren Republik bis in die hohe Kaiserzeit
34 Fritz-Heiner Mutschler: Tradition, Vernunft, Gott. Zur wechselnden Fundierung gemeinsinnigen Handelns vom Ausgang der Republik bis in die Umbruchphase des 3. Jahrhunderts
40 Cristina Andenna/Gert Melville: Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter
46 Bruno Klein: Die Kirche als Baustelle. Großstädtische Sakralbauten im Mittelalter
52 Jürgen Müller: Das subversive Bild. Religiöse und profane Deutungsmuster in der Kunst der Frühen Neuzeit
58 Gerd Schwerhoff: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit
64 Winfried Müller: Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770 - ca. 1848)
70 Hans Vorländer: Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn
76 Werner J. Patzelt: Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion
82 Karl-Siegbert Rehberg: Kunstsakralisierung und Gemeinsinn
88 Hans-Georg Lippert: Das Planbare und das Unverfügbare. Modelle von Transzendenz und Gemeinsinn in Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert
94 Thomas Hänseroth: Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880 - 1970)
100 Christian Schwarke: Konstruktionen von Transzendenz und Gemeinsinn in Technik und Theologie
106 Karl Lenz: Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen
112 Thomas Rentsch: Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie
118 Pier Paolo Portinaro: Die Sakralisierung der Kulturnation im italienischen Risorgimento
124 Georg Kohler: Die Kontingenz des Unverfügbaren - Die „Willensnation Schweiz“
130 Marina Münkler: Das Ethos der Freundschaft
136 Gerd Schwerhoff: Integriertes Graduiertenkolleg
138 Kontakt und Impressu