Wie aus dem Satz „Manchmal habe ich zu viel Energie!“ das Projekt vom „Energie-Kind“ entstand. Drei Ergotherapiestudentinnen der ZHAW starteten im Oktober 2020 im Rahmen der Projektwerkstatt ein besonderes Unterfangen: ein Projekt mit der Schule Schachen, welches die Schüler und Schülerinnen einer 2. Klasse maßgebend mitgestalten konnten

Echsel, Angelika

Keller-Hoehl, Franca

Köppel, Selina

Wüst, Nathalie

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praxis ergotherapie | Pädiatrie  4 | 2021 215„Energie-Kinder“ lassen Drachen steigenNathalie Wüst, Selina Köppel, Franca Keller-Hoehl, Angelika EchselWie aus dem Satz „Manchmal habe ich zu viel Energie!“ das Projekt vom „Energie-Kind“ ent-stand. Drei Ergotherapiestudentinnen der ZHAW starteten im Oktober 2020 im Rahmen der Projekt-werkstatt ein besonderes Unterfangen: ein Projekt mit der Schule Schachen, welches die Schüler und Schülerinnen einer 2. Klasse maßgebend mitge-stalten konnten.>>„Klientenzentriertes Arbeiten“ ist in der Ergothera-pie ein Kernthema und bedeutet, dass die Perspek-tive und die Anliegen der behandelten Personen in die Therapie miteinbezogen werden. Die Studieren-den nahmen sich diesen therapeutischen Grund-satz zu Herzen und erarbeiteten basierend auf den Zielen und Wünschen der Schüler*innen und der Lehrerin eine Projektidee für die ganze Klasse. Da-raus entstand ein dynamisches Projekt mit dem Ziel, die Selbstwahrnehmung der Kinder durch Zwi-schensequenzen im Unterricht zu fördern. Als theo-retischer Hintergrund wurde unter anderem das Alert-Programm der zwei Ergotherapeutinnen Mary Sue Williams und Sherry Shellenberger (2009) ein-gesetzt. Ziel der schulbasierten Ergotherapie ist es, die Partizipation am Schulalltag für alle Schulkinder zu ermöglichen. Das Projekt der Studierenden greift dieses Ziel auf und zeigt, wie schulbasierte Ergothe-rapie in der Zukunft aussehen kann.1. Projektwerkstatt an der ZHAWDer praktische Schwerpunkt des dritten Semesters des Studiengangs Ergotherapie ist die Projektwerkstatt, ein Praxismodul, welches den Studierenden realen Klientenkontakt ermöglicht. Das übergreifende The-ma aller Projektideen ist „Betätigung ermöglichen“. Das Ziel besteht darin, eine Projektidee zu entwickeln und mit Praxispartnern umzusetzen. Praxispartner können beispielsweise Schulen, Altersheime oder psychiatrische Einrichtungen sein. Ein Projektpartner der Hochschule ist die Schule Schachen in Winterthur, welche zuvor bereits zweimal mit angehenden Ergo-therapeut*innen zusammengearbeitet hatte und sich für die Projektwerkstatt im Herbst 2020 zu einer er-neuten Zusammenarbeit bereiterklärte. 2. Schulbasierte ErgotherapieDas Projekt mit der Schule Schachen zählt zum Be-reich der schulbasierten Ergotherapie. Das ergothe-rapeutische Rahmenwerk zur schulbasierten Ergo-therapie, SB-OT-PF, sieht einen partnerschaftlichen, klientenzentrierten Problemlöseprozess zwischen Ergotherapeut*innen, Lehrpersonen, Kindern und Eltern vor. Der gesamte Prozess von Befunderhe-bung und Zielformulierung über Intervention bis hin zur Evaluation im Schulkontext wird gemeinsam und partnerschaftlich erarbeitet und umgesetzt (Baum-garten & Strebel 2016).3. Theoretischer HintergrundDas „Energie-Kind“ Konzept ist dem „Alert Pro-gramm“, welches von Mary Sue Williams und Sherry Shellenberger (2009) entwickelt wurde, angelehnt. Jedes Kind lernt dabei, sein eigenes Erregungs-niveau (level of arousal) zu erkennen und dieses – angepasst an die Betätigung oder Situation – zu regulieren (Williams & Shellenberger 2009). „Erregung“ wird dabei als Zustand des Nervensystems angesehen, der beschreibt, wie aufmerksam jemand ist. Die drei verschiedenen Erregungsniveaus des Alert Programms sind in „hoch“, „genau richtig“ und „nied-rig“ eingeteilt. Um sich konzentrieren und Aufgaben ausführen zu können, bedarf es eines der Situation angepassten Erregungszustandes. Um das Erregungsniveau zu verändern und den opti-malen Erregungszustand zu erreichen, ist „Selbstre-gulierung“ notwendige Voraussetzung. Diese wird als Fähigkeit beschrieben, einen passenden Erregungs-praxis ergotherapie | Pädiatrie  4 | 2021216zustand zu erreichen, aufrechtzuerhalten oder zu ver-ändern. Veränderungen des Erregungsniveaus werden hauptsächlich mit sensomotorischen Aktivitäten wie beispielweise Bewegung oder Musik ermöglicht (Wil-liams & Shellenberger 2009). 4. UmsetzungDas Projekt wurde mit einem ersten Treffen mit ei-ner Lehrperson der Schule Schachen gestartet. Das Ziel des Treffens war gegenseitiges Kennenlernen, Klärung der Fragen und Vorstellung des genauen Ablaufs des Projektes. Für die Studierenden war wichtig, vorgängig mit der Lehrperson ein gemein-sames Verständnis des Projektes zu erarbeiten. Dies bildete die Grundlage, das Projekt gemeinsam mit der Klasse sowie der Lehrperson zu entwickeln und den klientenzentrierten Ansatz zu verfolgen. 4.1 COPM mit der LehrpersonNoch am gleichen Tag führten die angehenden Ergo-therapeutinnen mit der Lehrperson das Canadian Occupational Performance Measure (Law et al. 2015) durch. Das COPM ist ein halbstrukturiertes Interview und dient dazu, Betätigungsprobleme zu erfassen. Die Lehrerin beschrieb den Schulalltag im Detail und nannte wichtige Punkte, bei welchen sie Verbesse-rungspotential sah. Die größte Schwierigkeit stellte die Selbstwahrnehmung und Konzentration der Schü-ler*innen dar. Im Schulalltag zeigte sich dies laut der Lehrerin dadurch, dass es während des Unterrichts oft unruhig war und einige Kinder sich und ihr Verhalten schlecht einschätzen konnten.4.2 Beobachtung in der KlasseDie benannten Punkte waren auch für die Studieren-den während der Beobachtung der Performanzfertig-keiten nach OTIPM (Fisher 2018) im Unterricht sichtbar. Die größten Schwierigkeiten konnten hier dem „Fokus halten“ und „Regulieren“ zugeordnet werden, was sich mit den Beobachtungen der Lehrerin deckte. Beim ersten Treffen mit der Klasse lag der Fokus darauf, die Ergotherapie und deren Aufgabengebiet kindgerecht zu beschreiben. Danach fand eine Beobachtung der Schüler*innen beim ruhigen Arbeiten statt, damit sich die Studierenden ein Bild davon machen konnten, wie sich die Klasse im Unterricht verhielt.4.3 Zielformulierung mit den Schüler*innenBasierend auf den Beobachtungen und den Antwor-ten im COPM erstellten die angehenden Ergothe-rapeutinnen einen ersten offenen Fragebogen. Die Schüler*innen konnten darin ihre Ressourcen und Schwierigkeiten notieren. Die meistgenannten Schwie-rigkeiten wurden den Bereichen Selbstwahrnehmung, Konzentration und Pausengestaltung zugeordnet. Die Antworten deckten sich interessanterweise mit den im COPM erfassten Themen. Zu diesen drei Überthemen erstellten die Studierenden neun passende Aussagen. Beim nächsten Treffen erhielten die Schüler*innen die Aufgabe, aus diesen neun Aussagen, die drei bis fünf auf sie am besten zutreffenden auszuwählen und auf ein Plakat zu kleben. Die Auswertung der Plakate zeigte, dass die meisten Schüler*innen die folgenden zwei Aussagen gewählt hatten: „Manchmal habe ich im Unterricht zu viel Energie“ und „Ich möchte mich im Unterricht mehr bewegen“. Dies führte zu folgen-dem Ziel: Bis zum Ende des Projektes verbessert sich die Selbstwahrnehmung der Schüler*innen, damit sie merken, wenn sie im Unterricht zu viel oder zu wenig Energie haben. Das Mittel, welches zur Zielerreichung genutzt wurde, waren geführte Kurzpausen im Unter-richt. 4.4 Gestaltung InterventionUm eine geeignete, auf die Klasse zugeschnittene Intervention zu gestalten, wendeten die Studierenden Die Studentinnen im Austauschpraxis ergotherapie | Pädiatrie  4 | 2021 217viel Zeit auf. Sie wollten die Intervention mit der gan-zen Klasse durchführen, jedoch sollte sie auch jedem Kind individuell von Nutzen sein. Unter Berücksichti-gung all dieser Faktoren entstand das „Energie-Kind“-Konzept.4.5 „Energie-Kind“-KonzeptDas „Energie-Kind“-Konzept ist dem Alert-Pro-gramm angelehnt und verschafft jedem Kind einen Zugang zu seinem eigenen Energie-Level. Jedes Kind weiß beim Abschluss des Projektes, wie es sein indi-viduelles Energie-Level mit gezielten Kurzpausen im Unterricht beeinflussen kann. Für die strukturierte Umsetzung im Unterricht ent-standen folgende Regeln: Pro Tag sucht die Lehr-person zwei  Kinder aus, welche den besonderen Posten des „Energie-Kindes“ belegen. Verspürt eines dieser Kinder, dass seine Energie zu tief liegt oder überbordet, legt es eine farbige Karte auf den Tisch. Diese signalisiert, dass es sich eine zehnminü-tige Zwischensequenz  wünscht. Das „Energie-Kind“ wählt dann zwischen einer aktiven oder passiven Sequenz, an welcher die ganze Klasse teilnimmt. Als aktive Zwischensequenzen eignen sich Bewegungs- oder Gleichgewichtsübungen, als passive Sequen-zen können Fantasiereisen oder  Körperwahrneh-mungsübungen  gewählt werden. Diese Aktivitäten wurden in einem Katalog gesammelt,  damit  die Lehrerin das Projektkonzept nach  Abschluss  der Projektwerkstatt weiterführen kann.  Vor  und  nach der Sequenz stellen die Schüler*innen  auf einem Barometer ihren aktuellen Energie-Level ein. Dieses Barometer basiert auf der Metapher des Drachen Neon. Der Drache braucht genügend Wind, um flie-gen zu können. Bei zu viel Wind lässt er sich kaum Eines der beiden Plakate zur Zielsetzung mit den Schüler*innenEnergie-Barometerpraxis ergotherapie | Pädiatrie  4 | 2021218steuern, bei zu wenig Wind hebt er nicht ab. Das Ba-rometer stellt die drei Stufen zu viel, genau richtig und zu wenig Wind dar. Wichtig bei der Metapher ist ebenfalls, dass es sich bei dem Wind um einen ex-ternen Faktor handelt, so wie es die Kurzpausen im „Energie-Kind“-Projekt ebenfalls sind. Die Metapher des Drachen Neon wurde dem  Erregungsniveau des Alert-Programmes angelehnt. 5. EvaluationDie Studierenden stellten die Energie-Pausen im Ver-lauf von drei Wochen im Unterricht vor. Für die Pro-jektevaluation bewerteten die Kinder mit einer Smi-ley-Skala ihre Zufriedenheit mit dem Konzept und der Umsetzung. Das Projekt erhielt mehrheitlich positives Feedback durch die Schüler*innen. Die Aussage einer Schülerin lautete beispielweise: „Beim Arbeiten am Wochenplan bin ich unruhig und nach einer Energie-Pause bin ich wieder ruhig.“ Das Mitbestimmungs-recht bei der Auswahl des Zeitpunktes der Energie-Pausen sowie des Pausentyps wurde von den Kindern als sehr positiv bewertet. Als Kritikpunkt erhielt das Projekt von einigen Schüler*innen, dass der gewähl-te Pausentyp für die ganze Klasse nicht immer ihrem persönlichen Energieniveau und ihrem persönlichen Pausenwunsch entsprach. Am Ende des Projektes wurde der Lehrperson ein Pausenkatalog mit über 80 lebendigen und ent-spannten Energie-Pausen überreicht. Diese sind leicht verständlich und benötigen kein Zusatzmate-rial. Da das Konzept den Kindern gut bekannt und die Integration in den Unterricht für die Lehrper-son ebenfalls klar war, konnte das Projekt überge-ben und weitergeführt werden. Seit Januar 2021 hat die Lehrperson das Projekt bereits einige Male im Unterricht durchgeführt. Die Kinder erkannten das Energie-Barometer, auf welchem sie ihren Energie-Level einstellen konnten, wieder. In der Evaluation mit der Lehrperson wurde die kurze Reflexion mit den Kindern nach den Energie-Pausen „Wie hat sich die Pause auf dein Energie-Level ausgewirkt?“ als sehr positiv bewertet. Schwierig war es, im Unter-richt Zeiträume zu finden, in welchen die Energie-Pausen durchgeführt werden konnten, ohne den Unterricht zu stark zu unterbrechen. Mit dem Ener-gie-Barometer und den Energie-Pausen lernten die Schüler*innen, ihr Energie-Level zu beschreiben und ihre Selbstwahrnehmung zu verbessern. Das Konzept wird weiterhin von der Lehrperson ange-wendet und könnte in weitere Klassensettings einge-führt werden. Dabei ist stets die Klientenzentrierung zu beachten, um den Bedürfnissen und Zielen der Klient*innen gerecht zu werden.Die Ergebnisse des Studierenden-Projektes mit der Schule Schachen gleichen denen der Pilotstudie von S. Mac Cobb et al. (2014), welche darauf hinweist, dass eine Anwendung des Alert-Programms in einer Schulklasse möglich ist und auf positive Resonanz der Lehrpersonen und Schüler*innen stößt.6. FazitDas Projekt mit der Schule Schachen bot den Studie-renden eine umfangreiche Praxiserfahrung. Durch die offenen Gestaltungsmöglichkeiten konnten sie die Bedürfnisse der Schüler und Schülerinnen sowie der Lehrperson besonders berücksichtigen und so ihr Verständnis des klientenzentrierten Arbeitens erwei-tern. Dieses neue Verständnis ist für die angehenden Ergotherapeutinnen ein Kernanliegen – nicht nur für weitere Projekte, sondern auch für ihre zukünftige be-rufliche Arbeit.Der Pausenkatalog mit 80 Energiepausen kann bei Interesse per E-Mail an selinakoeppel@gmail.com kostenlos angefordert werden.DanksagungEin herzlicher Dank geht an die Schule Schachen für die bereichernde und konstruktive Zusammen-arbeit. Ein großer Dank geht an Angelika Echsel, Dozierende der ZHAW, welche stets mit ihrem Fach-wissen und Praxiserfahrung zur Seite stand und die Studentinnen während des ganzen Prozesses unterstützte. Literatur:Baumgarten, A. & Strebel, H. (Hrsg.) (2016): Ergotherapie in der Pädiatrie: Klientenzentriert – betätigungsorientiert – evidenz-basiert. 1. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner.Fisher, A. (2018): OTIPM. Occupational Therapy Intervention Process Model. 2. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner.Law, M., Baptiste, S., Carswell, A., McColl, M.A., Polataiko, H. & Pollocl, N. (2015): COPM. Canadian Ouccupational Performance Measure. 5. Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner.praxis ergotherapie | Pädiatrie  4 | 2021 219Mac Cobb, S., Fitzgerald, B. & Lanigan-O’Keeffe, C. (2014): The Alert Program for self-management of behavi-our in second level schools: results of phase 1 of a pi-lot study, Emotional and Behavioural Difficulties. https://doi.org/101080136327522014903593Williams, M. & Shellenberger, S. (2009): Wie läuft eigentlich dein Motor? 3. Auflage. Dortmund: verlag modernes lernen. Die Autorinnen:Nathalie WüstStudierende ZHAWSelina KöppelStudierende ZHAWFranca Keller-HoehlStudierende ZHAWAngelika EchselDozentin ZHAWKorrespondenzadresse:ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte  WissenschaftInstitut für Ergotherapie am Departement  GesundheitTechnikumstrasse 718401 WinterthurSchweizStichwörter: Schulbasierte Ergotherapie  Selbstwahrnehmung  Konzentration  Energie-Pausen

„Energie-Kinder“ lassen Drachen steigen

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