Die Arbeitnehmerbeteiligung ist in Europa aus unterschiedlichen Elementen geformt. Bei den einen gibt es mehr Streikrechte, dafür aber weniger Aufsichtsratssitze. Oder umgekehrt. Von daher ist die deutsche Mitbestimmung nicht einzigartig stark. Sie ist unser spezifisch deutscher Pfad

Biedenkopf, K.

Streeck, W.

Wißmann, H.

MPG.PuRe

Titel28 Mitbestimmung 3/2007Europäische MitbestimmungAm deutschenVorbild orientiertDie Arbeitnehmerbeteiligung ist in Europa aus unterschiedlichen Elementen geformt.Bei den einen gibt es mehr Streikrechte, dafür aber weniger Aufsichtsratssitze. Oderumgekehrt. Von daher ist die deutsche Mitbestimmung nicht einzigartig stark. Sie istunser spezifisch deutscher Pfad.. Die deutsche Unternehmensmit-bestimmung ist Teil einer europä-ischen Vielfalt unterschiedlicher For-men der Beteiligung der Arbeitneh-mer an Entscheidungsprozessen vonKapitalgesellschaften. Die in den ver-schiedenen Ländern auf diesem Ge-biet gefundenen Regelungen sindüber lange Zeiträume gewachsenund haben sich in ihren Grundzügengegenüber allen Vereinheitlichungs-versuchen als resistent erwiesen. InLändern mit traditionell konfliktge-prägten Arbeitsbeziehungen wie Ita-lien und Großbritannien bestehenkeine gesetzlichen Regelungen zurArbeitnehmerbeteiligung auf Unter-nehmensebene; hier ziehen es die Ge-werkschaften vor, sich bei der Vertre-tung ihrer Mitglieder gänzlich auferstreikbare Tarifverträge zu stützen.Dagegen sieht die in Deutschlandnach dem Zweiten Weltkrieg entstan-dene Wirtschafts- und Sozialordnungfür größere Unternehmen eine Ver-tretung der Arbeitnehmer im Auf-sichtsrat vor, die in Unternehmen mitmehr als 2000 Beschäftigten die Hälf-te der Mitglieder des Aufsichtsratsumfasst. Ob und inwieweit die in Deutsch-land vorgeschriebene paritätischeBesetzung der Aufsichtsräte großerUnternehmen im europäischen Kon-text eine besonders weitgehende Formder Unternehmensmitbestimmungdarstellt, steht angesichts weit rei-chender Mitgestaltungsmöglichkeitender Arbeitnehmvertreter im Board-system zum Beispiel in skandinavi-schen Ländern dahin und war vonder Kommission nicht zu klären. Un-bestritten ist, dass wegen des Zweit-stimmrechts des Aufsichtsratsvorsit-zenden von Parität nur in numeri-scher Hinsicht die Rede sein kann.Unbestritten ist ferner, dass die inDeutschland für Unternehmen mit500 bis 2000 Arbeitnehmern vorge-schriebene Drittelbeteiligung im euro-päischen Rahmen nicht ungewöhnlichist: Sie findet sich etwa in Dänemark,Von Kurt Biedenkopf, Wolfgang Streeck,Hellmut WißmannProf. Kurt Biedenkopf ist Jurist und Ministerpräsi-dent a.D.; Prof. Dr. Wolfgang Streeck leitet dasMax-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln; Prof. Hellmut Wißmann ist Präsident desBundesarbeitsgerichtes a. D. Die Autoren sind die wissenschaftlichen Mit-glieder der Kommission zur Modernisierung der Unternehmensmitbestimmung. Der Textdokumentiert das Kapitel „Die deutsche Unter-nehmensmitbestimmung im europäischenVergleich“ (ohne Fußnoten) S. 29 – 33. Volltextdes Berichts unter www.bundesregierung.de(auf der Startseite rechts oben den SuchbegriffMitbestimmung eingeben) 29Mitbestimmung 3/2007Luxemburg, den Niederlanden, Ös-terreich, Tschechien und Ungarn. ImÜbrigen werden die in Europa beste-henden Ausformungen der Unter-nehmensmitbestimmung durch diegesetzlichen Beteiligungsquoten nurunzureichend beschrieben:. In einer Reihe von Ländern, vorallem in Skandinavien, wird vomGesetz statt einer Beteiligungsquoteeine absolute Zahl von Arbeitneh-mervertretern festgelegt. Dies kannBeteiligungsquoten zur Folge haben,die ein Drittel übersteigen.. Ebenfalls vor allem in Skandina-vien sind die bestehenden Mitbestim-mungsrechte auf Unternehmensebeneals Gewerkschaftsrechte ausgestaltet.Damit erhalten die Gewerkschaften,die zugleich Tarifpartei sind, direktenZugang zu unternehmerischen Ent-scheidungsprozessen. In Deutschlanddagegen ist das Recht auf Unterneh-mensmitbestimmung ein Belegschafts-recht, und Rolle und Einfluss der Ge-werkschaften bei der Mitbestimmungauf Unternehmensebene werden vomGesetz eng begrenzt.. Zugleich werden in Deutschlanddie Gewerkschaften dadurch in diewirtschaftliche Verantwortung fürdas mitbestimmte Unternehmen ein-gebunden, dass das Gesetz eine Min-derzahl der Aufsichtsratssitze fürArbeitnehmervertreter für von denGewerkschaften nominierte Perso-nen reserviert. Stärker konfliktori-entierte Gewerkschaften in romani-schen und angelsächsischen Ländernlehnen jede derartige Einbindung alsBehinderung bei der unabhängigenVertretung der Interessen ihrer Mit-glieder nachdrücklich ab.. Die für das Einsetzen von Mitbe-stimmungsrechten geltenden Schwel-lenwerte sind in zahlreichen europäi-schen Ländern deutlich niedriger alsin Deutschland. So beginnt die Unter-nehmensmitbestimmung in Schwe-den bereits bei 25 Beschäftigten, inDänemark bei 35, in Tschechien bei50, in Finnland bei 150 und in Un-garn bei 200. In Österreich entsendenArbeitnehmer Vertreter in den Auf-sichtsrat, sofern es einen Betriebsratgibt, der bereits ab 5 Beschäftigtengewählt werden kann. Insgesamt be-steht ein Zusammenhang zwischenMindestgröße und Beteiligungsquote:Ist Letztere niedrig, so wird als Vor-aussetzung der Unternehmensmit-bestimmung in der Regel eine ver-gleichsweise geringe Mindestzahl vonArbeitnehmern gefordert.Zieht man alle diese Umstände inBetracht, so stechen für die deutscheUnternehmensmitbestimmung vorallem die numerische Parität der Be-teiligung jenseits von 2000 Beschäf-tigten sowie die allgemein sehr ho-hen Schwellenwerte hervor, nicht je-doch die Tatsache der Arbeitnehm-erbeteiligung als solche. Dies wirdauch von den jüngsten Entwicklun-gen in anderen europäischen Län-dern sowie im europäischen Gemein-schaftsrecht bestätigt. So ist bemer-kenswert, dass in Ländern wie derSlowakei, Slowenien, Tschechien undUngarn in den 90er Jahren zum Teilsehr weitgehende Arbeitnehmerrech-te auf Mitbestimmung im Unterneh-men neu eingeführt wurden. Unterdieser Perspektive kann nicht die Re-de davon sein, dass es sich bei derdeutschen Unternehmensmitbestim-mung um eine einzigartige Erschei-nung handelt. Dies gilt nach Überzeugung derwissenschaftlichen Mitglieder umsomehr, als jede Form der Mitbestim-mung auf Unternehmensebene nurim Gesamtzusammenhang der in ei-ner Gesellschaft bestehenden Arbeits-beziehungen bewertet werden kann.»In Deutschland ist das Recht aufUnternehmensmitbestimmungein Belegschaftsrecht –Rolle und Einfluss derGewerkschaften werdenvom Gesetz eng begrenzt.«»In Schweden beginnt dieUnternehmensmitbestimmungbereits bei 25 Beschäftigten,in Dänemark bei 35, in Tschechienbei 50, in Finnland bei 150 – undin Deutschland erstbei 500 Beschäftigten.« ZTitel30 Mitbestimmung 3/2007Diese sind dadurch gekennzeichnet,dass dort, wo eine Unternehmens-mitbestimmung besteht, neben die-ser zur Interessenwahrnehmung derArbeitnehmer regelmäßig auch ver-schiedene Formen der Beteiligung anbetrieblichen Entscheidungsprozessensowie Rechte aus der Tarifauto-nomie zur Verfügung stehen. Dabeihandelt es sich um einander ergän-zende Systeme kollektiven Interes-senausgleichs, die in den einzelnenStaaten meist unterschiedlich gestal-tet sind und je für sich von Staat zuStaat auch oft unterschiedliches Ge-wicht haben. So kann, wie in einem Systemkommunizierender Röhren, eine imVergleich zum deutschen Rechtschwache Ausprägung institutionel-ler Arbeitnehmerbeteiligung in Be-trieb und Unternehmen durch tarif-vertragliche Gestaltungsmöglichkei-ten der Gewerkschaften kompensiertwerden, die über die in Deutschlandbestehenden hinausreichen. Eine iso-lierte Betrachtung der Mitbestim-mung auf Unternehmensebene ist des-halb nur von begrenzter Aussage-kraft, was Umfang und Intensitätder Einflussnahme der Arbeitneh-merseite auf Entscheidungen derUnternehmen angeht.In der Kommission ist vorgetragenworden, dass das Nebeneinandervon betrieblicher und Unternehmens-mitbestimmung in Deutschland, dasin Europa einzigartig sei, zu einereffektiven „Überparität“ führe. DieGesetzgebung der Europäischen Uni-on hat hingegen den deutschen Dua-lismus von betrieblicher Mitbestim-mung und Unternehmensmitbestim-mung – in Gestalt des SE-Betriebs-rats einerseits und der Vertretungder Arbeitnehmer im Leitungs- oderVerwaltungsorgan der EuropäischenGesellschaft andererseits – als zweck-mäßig übernommen. Wie bereits be-tont, hat sich das Bundesverfassungs-gericht in seiner Entscheidung imJahr 1979 mit den in der Kommis-sion vorgebrachten Befürchtungeneiner „Überparität“ befasst und die-se als unbegründet zurückgewiesen.Da das Betriebsverfassungsgesetz da-mals schon sieben Jahre lang An-wendung fand und seit 1979 in sei-nen Grundzügen unverändert geblie-ben ist, sehen die wissenschaftlichenMitglieder keinen Grund, die Frageneu aufzugreifen.Den wissenschaftlichen Mitglie-dern erscheint es bemerkenswert, dassfür die neuerdings bestehenden Unter-nehmensformen europäischen Rechtsein Anspruch der Arbeitnehmer aufMitbestimmung im Unternehmenvorgesehen ist, und zwar zusätzlichzur Einrichtung von Betriebsräten.Insofern hat sich nach Einschätzungder wissenschaftlichen Mitglieder dieeuropäische Rechtsentwicklung amdeutschen Vorbild orientiert. Dies giltauch in Bezug darauf, dass das Ge-meinschaftsrecht die Belegschaft undnicht die Gewerkschaften zum Trägervon Mitbestimmungsrechten aufUnternehmensebene gemacht hat.Zugleich hat es die Vielfalt der imBereich der Unternehmensmitbestim-mung wirksamen nationalen Tradi-tionen respektiert. Hierzu gehört, dasses Vorkehrungen dagegen getroffenhat, dass Unternehmen den Über-gang in eine europäische Rechtsformdazu nutzen, sich nationalen Ver-pflichtungen zur Beteiligung ihrerBelegschaft an Unternehmensent-scheidungen zu entziehen. Allerdings hat das europäischeRecht, bei grundsätzlicher Anerken-nung eines Anspruchs der Arbeitneh-mer auf Beteiligung an Unternehmens-entscheidungen, auf die Schaffungeines einheitlichen Mitbestimmungs-modells verzichtet. Im Wesentlichenbeschränkt sich die europäische Ge-setzgebung darauf, Brücken zwischen»In Mittel- und Osteuropawurden in den 90er Jahrenzum Teil sehr weitgehendeArbeitnehmerrechte aufMitbestimmung im Unternehmeneingeführt – von daher istDeutschland keineeinzigartige Erscheinung.«»Bei der SE wurde derDualismus von betrieblicherMitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung übernommen. Insofern hatsich die europäischeRechtsentwicklungam deutschen Vorbildorientiert.«Z31Mitbestimmung 3/2007der Vielfalt der nationalen Regelungenzu bauen, um grenzüberschreitendeKooperation bei Erhaltung der Eigen-ständigkeit der nationalen Rechts-und Sozialordnungen zu ermöglichen.Dies geschieht vor allem dadurch,dass für Gesellschaften europäischenRechts Freiräume bei der Ausgestal-tung der Unternehmensmitbestim-mung im Einzelfall geschaffen wer-den und insoweit in erheblichemUmfang dispositives Recht maßgeb-lich ist. Auch gewährleistet das Ge-meinschaftsrecht die – nach den ein-zelstaatlichen Rechtsordnungen bis-her nicht mögliche – Beteiligung derBelegschaften von Betrieben aus un-terschiedlichen Mitgliedstaaten an derArbeitnehmervertretung in einem Un-ternehmensorgan. Die wissenschaft-lichen Mitglieder sind der Ansicht,dass der deutsche Gesetzgeber hier-aus für die europataugliche Weiter-entwicklung der deutschen Mitbe-stimmung lernen kann.Was die Entwicklung des euro-päischen Gesellschaftsrechts im Ein-zelnen angeht, so hatte die großeVielfalt der in Europa bestehendenFormen und Traditionen der Arbeit-nehmerbeteiligung zunächst jahr-zehntelang alle Versuche zur Einfüh-rung einer Europäischen (Aktien-)Gesellschaft (SE) durch europäischeGesetzgebung vereitelt. Die ursprüng-liche Absicht, die SE mit einem ein-heitlichen Mitbestimmungsstatut zuversehen, ließ sich nicht verwirkli-chen. Daher hat die europäische Ge-setzgebung für die Arbeitnehmerbe-teiligung in der SE eine neuartige,von den nach den einzelstaatlichenRechtsordnungen bestehenden Mo-dellen grundlegend abweichende Lö-sung gewählt. Danach besteht in der SE, andersals nach deutschem Mitbestimmungs-recht, keine eigenständige, von objek-tiven Merkmalen des Unternehmenswie der Arbeitnehmerzahl abhängigeArbeitnehmerbeteiligung. Vielmehrwird die Mitbestimmung vorrangigim Wege freier Verhandlungen zwi-schen der Unternehmensleitung undeinem besonderen Verhandlungs-gremium der Arbeitnehmer verein-bart. Bei einem Scheitern der Ver-handlungen greift eine gesetzlicheAuffangregelung, die neben Infor-mations- und Konsultationsrechtenauch Mitbestimmungsrechte der Ar-beitnehmer enthält. Hierfür schreibt das Gemein-schaftsrecht eine „Vorher-Nachher-Betrachtung“ vor: Weil der bei denGründungsgesellschaften vorhandeneBestand an Beteiligungsrechten derArbeitnehmer weitgehend gesichertwerden soll, richtet sich die Mitbe-stimmung in der SE nach den dies-bezüglichen Verhältnissen bei denGründern. In gleicher Weise ist die Arbeit-nehmerbeteiligung für Unternehmenin der neu geschaffenen Rechtsformder Europäischen Genossenschaft(SCE) geregelt. Ebenso hat die euro-päische Gesetzgebung zur grenz-überschreitenden Verschmelzung vonKapitalgesellschaften das Modell derArbeitnehmerbeteiligung in der SEmit wenigen Änderungen auf die auseiner Fusion von Kapitalgesellschaf-ten unterschiedlicher Nationalitäthervorgehenden Unternehmen über-tragen.Die geschilderten Entwicklungenim Gemeinschaftsrecht können sichmittelbar auch auf die Anwendungdes innerstaatlichen Mitbestimmungs-rechts auswirken. Sie werden immerauch im Hinblick darauf beobach-tet, ob sie Unternehmen, die nachdeutschem Recht verfasst sind, dieMöglichkeit eröffnen, durch Wahleiner gemeinschaftsrechtlichen Rechts-form die für Unternehmen deutschenRechts vorgeschriebene Mitbestim-mung zu vermeiden. In diesem Zu-sammenhang wird beispielsweisegeltend gemacht, dass eine von mit-bestimmungsfreien Gesellschaften ge-gründete und daher nicht mit Ar-beitnehmerbeteiligung versehene, inDeutschland ansässige SE auch beispäterem Wachstum über die für dasMitbestimmungsgesetz maßgeblicheSchwelle von 2000 Arbeitnehmernmitbestimmungsfrei bleibt. In den durch derartige Unterschiedezwischen nationalem und Gemein-schaftsrecht eröffneten „Wettbewerbder Unternehmensverfassungen“ kannder deutsche Gesetzgeber allenfallsim Rahmen des europäischen Rechtseingreifen. Die Arbeitnehmerbetei-ligung in der SE, der SCE und den aus einer internationalen Fusion her-vorgehenden Gesellschaften ist inihren wesentlichen Elementen ge-meinschaftsrechtlich vorgegeben undinsoweit dem Zugriff des nationalenRechts entzogen. .»Durch die SE und dieFusionsrichtlinie istein ‚Wettbewerb der Unternehmensverfassungen‘eröffnet worden; hier kannder deutsche Gesetzgeberallenfalls im Rahmen deseuropäischen Rechtseingreifen.«

Am deutschen Vorbild orientiert: Europäische Mitbestimmung

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