'Sena Cor Magis Aperit'. Diese Inschrift liess Grossherzorg Cosimo de Medici auf dem Stadttor von Siena anbringen, nachdem er die Stadt seinem Reich einverleibt hatte. Bis auf den heutigen Tag deuten viele Fremde, auf die Siena einen unauslöschlichen Eindruek gemaeht hat, diese Worte ganz anders, als Cosimo sie gemeint hat. Weit entfernt davon, den Spott des Tyrannen, der sein Ziel erreicht hat, herauszuhören, denken sie nur an Sienas Grösse, an das stolze Bürgertum, an Künstler und Heilige, und geben sich der Illusion hin, dass Siena sie willkommen heisst mit einem der Mystik entlehnten bildlichen Ausdruck. Siena bietet ihnen mit seinen Bauwerken, in der Anlage der Stadt, in Kirchen und Museen, Archiven und Bibliotheken, so viele und so greifbare Erinnerungen an das Mittelalter wie keine andere Stadt in Italien. Dem Historiker klingen die einladenden Worte auf dem Stadttor yerführerisch lockend wie das Lied der Circe in den Ohren. Stärker als anderswo ergreift ihn hier ein romantisches Verlangen nach einer allesumfassenden Rekonstruktion der Vergangenheit. Beinahe alle Geschiehtsschreiber von Siena haben dies es Ziel im Auge gehabt. Sie befassen sich, soviel in ihrem Vermögen liegt, gleichzeitig mit der sozial-ekonomischen und der politischen Entwicklung, mit Kirchen-und· Dogmengeschichte und mit der Kunstgeschichte. Weil er sich des historischen Zusammenhanges so stark bewusst war, kam der Historiograph von Siena Langton Douglas dazu, kulturhistorische Betrachtungen über Kunstwerke zu fordern in einer Zeit, in der die kunstgeschichtliche Forschung völlig im Banne der autonomen Stilbegriffe stand (History of Siena, London 1902, 2 ff.). Auch diese Untersuchung erdankt ihre Entstehung einem Antrieb, den ich den Zauber des historischen Zusammenhanges nennen möchte. Mein Ausgangspunkt ist die Ikonographie von Maria, der Schutzheiligen der Stadt Siena. Drei verschiedene Themen, die Verkündigung, die Madonna dell'Umiltà und die Assunta werden behandelt, und dabei werden auch die Zusammenhänge zwischen ihnen untersucht. Es handelt sich um Hauptthemen der sienesischen Malerei, und ausserdem um Vorstellungen, von denen die eine die andere voraussetzt und ergänzt..