Holzinger, Marc

Käser, Udo

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 Udo KÄSER & Marc HOLZINGER, Bonn Liest Du noch oder rechnest Du schon? Textbasierte Aufgabenformate werden den Anwendungsaufgaben zugeord-net. Zur erfolgreichen Bearbeitung solcher Aufgaben ist ein Modellierungs-prozess erforderlich, bei dem die außermathematische Situation der Aufgabe in die Sprache der Mathematik überführt und zurückübersetzt wird. Dies macht verschiedene Fähigkeiten erforderlich: Schülerinnen und Schüler müssen der Bearbeitung solcher Aufgaben die geschilderte Realsituation verstehen, sie strukturieren und auf das Wesentliche reduzieren, eine Mathe-matisierung vornehmen, das mathematische Problem durch einen geeigneten Algorithmus lösen sowie das Ergebnis in die Realsituation zurück übertra-gen, interpretieren, überprüfen und präsentieren (Blum, 2006). Hierdurch haben textbasierte Aufgabenformate im Mathematikunterricht ho-he Bedeutung. Ihre Verwendung eröffnet die Möglichkeit, Verstehenspro-zesse zu initiieren und zu fördern. Zugleich können Stärken und Schwächen von Schülerinnen und Schülern differenziert diagnostiziert werden können. Allerdings ist zu bedenken, dass die mathematischen Leistungen, welche in solchen Aufgaben gezeigt werden, mit Lesefähigkeit konfundiert sind. Denn der erste Schritt des Verstehens der Realsituation kann nur gelingen, wenn der gelesene Text auch verstanden wird. Leseverstehen ist eine Bedingung, welche den genuin mathematischen Fähigkeiten vorgeschaltet ist. Der Ein-fluss von Lesefähigkeit auf das Lösen textbasierter Aufgaben betrifft hierbei nicht nur Schülerinnen und Schüler, denen Lesen schwerfällt. Im Sinne der Cognitive Load Theory werden beim Lesen immer kognitive Ressourcen verbraucht, die für andere Operationen ggf. fehlen. Leutner et al. (2004) berichten hierzu einen korrelativen Zusammenhang zwischen sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten von r = .63 bei Ju-gendlichen. Nach Thiede, Holzäpfel & Leuders (2015) scheitern 31% der Schülerinnen und Schüler an mathematischen Aufgaben, die sie ohne Kon-text lösen können, wenn sie in textgebundener Form präsentiert werden.  Da die Förderung der Lesefähigkeit von Schülerinnen und Schülern im We-sentlichen in der Grundschule erfolgt, stellt sich die Frage, wie gut Schüle-rinnen und Schüler am Ende der Grundschule lesen können und inwieweit hierdurch ihre Fähigkeit zum Lösen textbasierter mathematischer Aufgaben eingeschränkt ist. Hierbei kann Lesefähigkeit danach differenziert werden, ob Lesern die Wort- und Satzidentifikation gelingt (Kompetenzstufe I), d. h. ob explizit angegebene Einzelinformationen identifiziert werden können. Auf Kompetenzstufe II können im Text benachbarte Informationen ver-In Fachgruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.)Beiträge zum Mathematikunterricht 2018. Münster: WTM-Verlag 927 knüpft, d. h. lokal Kohärenz hergestellt werden. Sind Leser hierzu auf glo-baler Ebene in der Lage, werden auch im Text verstreute Informationen ver-knüpft und der Text im Ansatz als Ganzes verstanden (Kompetenzstufe III). Von Kompetenzstufe IV wird gesprochen, wenn auch Superstrukturen er-kannt und sowohl für kontinuierliche als auch für diskontinuierliche Texte Kohärenz hergestellt werden kann. Werden auch Darstellungsformen er-kannt und Aussagen zum Text selbstständig begründet, wird von Kompe-tenzstufe V gesprochen (Rosebrock & Nix, 2017, Hußmann et al., 2017). Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung machen die Ergebnisse der IGLU-Studien deutlich, dass hohe Lesefähigkeit von Viertklässlern nicht si-cher erreicht wird (Hußmann et al., 2017). So erreichen in den Erhebungs-wellen von 2001 bis 2016 der fünfjährig durchgeführten Studienreihe jeweils zwischen 13 und 19 Prozent der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler nur die ersten beiden Kompetenzstufen, bei denen nicht von einem Verständ-nis für den Text auf globaler Ebene ausgegangen werden kann. Zwischen 34 und 41 Prozent zeigen ein Niveau von Kompetenzstufe III oder IV, das als Regelstandard angestrebt wird. Der optimale Standard von Kompetenzstufe V liegt nur bei 8 bis 11 Prozent der Viertklässler vor. Insofern zieht unzu-reichende Lesefähigkeit vieler Schülerinnen und Schüler oft Schwierigkeiten bei textbasierten mathematischen Aufgaben nach sich (Prediger et al., 2015). Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es über korrelative Zusammenhänge hinausgehend strukturelle Zusammenhänge in der Art gibt, dass auf den ein-zelnen Kompetenzstufen der Lesefähigkeit das Lösen textbasierter mathe-matischer Aufgaben in spezifischer Weise erfolgt. Diese Frage soll in der vorliegenden Studie näher untersucht werden. 2. Methodik Die Studie wurde als Querschnittsuntersuchung an einer Stichprobe von 72 Fünftklässlern (35 Jungen, 37 Mädchen) im Alter von 9 bis 12 Jahren (M = 10.6 Jahre, SD = .5 Jahre) aus drei Parallelklassen eines Bonner Gymnasi-ums untersucht. Die Erhebung erfolgte im zweiten Schulhalbjahr und wurde innerhalb von 95 Minuten einer Doppelstunde realisiert. Leseverstehen wurde mit Hilfe eines Sachtextes der Deutschen Wildtier Stif-tung über Fledermäuse erfasst. Es wurden 15 Fragen zum Text gestellt, von denen je drei den einzelnen Kompetenzstufen zugeordnet waren. Eine Zu-ordnung zu einer Stufe wurde vorgenommen, wenn mindestens zwei von drei Fragen einer Stufe richtig beantworten konnten. Es ergibt sich eine Re-liabilität von  = .751 mit einer Trennschärfe von r > .3 für alle Items. Die Fähigkeit zum Lösen textbasierter mathematischer Aufgaben wurde durch 928 drei curricular valide Textaufgaben gemessen. Jeweils wurde so vorgegan-gen, dass zunächst durch eine Frage kontrolliert wurde, ob die Schülerinnen und Schüler dem Text Einzelinformationen entnehmen konnten. Anschlie-ßend folgte die textbasierte mathematische Aufgabe. Darüber hinaus wurden Geschlecht und Intelligenz als mögliche Kovariaten erfasst. Intelligenz wurde durch 12 Items von Raven-Matrizen gemessen. Die Reliabilität liegt bei  = .611. Alle Items sind trennscharf mit r > .3. 3. Ergebnisse Da gymnasiale Fünftklässler untersucht wurden, fällt das Leseverstehen et-was besser aus als in den IGLU-Studien (Hußmann et al., 2017). Kein Kind wird auf Kompetenzstufe I eingestuft. Bei 12.5% der Probanden liegt die Leseleistung unter dem Regelstandard. Tab. 1 zeigt die Verteilung auf die verschiedenen Kompetenzstufen im Vergleich zur IGLU-Studie von 2016. Tab. 1: Verteilung der Kompetenzstufen des Leseverstehens in der Stichprobe und bei IGLU 2016 Kompetenzstufe I II III IV V n 0 9 30 22 11 p 0.0% 12.5% 41.7% 30.6% 15.3% IGLU 2016 5.5% 13.4% 34.1% 35.9% 11.1% Eine erfolgreiche Bearbeitung der textbasierten mathematischen Aufgaben gelingt nur selten. 47.2% der Probanden lösen keine Aufgabe, 36.1% eine und 12.5% zwei Aufgaben. Lediglich von 4.2% der Fünftklässler werden alle drei Aufgaben korrekt bearbeitet. Für die Fähigkeit zum Lösen textbasierter mathematischer Aufgaben ergibt sich ein positiver Zusammenhang mit Leseverstehen (r = .302, p = .010). Ebenfalls bestätigt sich ein positiver Zusammenhang zu Intelligenz (r = .268, p = .023). Wird dieser Effekt auspartialisiert, liegt zwischen der Fähigkeit zum Lösen textbasierter mathematischer Aufgaben und dem Leseverstehen immer noch ein signifikanter Zusammenhang vor (r = .273, p = .021). Ent-sprechend weist die Regression (R² = .147) von der Fähigkeit zum Lösen textbasierter mathematischer Aufgaben auf Leseverständnis und Intelligenz signifikant positive Zusammenhänge aus: Für Leseverständnis folgt  = .290 (p = .017), für Intelligenz  = .242 (p = .040). Hinsichtlich des Geschlechts besteht kein signifikanter Zusammenhang. 929 Varianzanalytisch liegt ein signifikanter Unterschied (p = .021, ² = .097) für die mathematische Leistung der Probanden in Abhängigkeit von ihrer Lesefähigkeit vor. Probanden auf der zweiten Kompetenzstufe lösen im Mit-tel M = .22 (SD = .44), auf der fünften Kompetenzstufe M = 1.18 (SD = .98) Aufgaben. Auf den Stufen III und IV werden im Mittel M = .67 (SD = .76) bzw. M = .82 (SD = .91) Aufgaben gelöst. Ein struktureller Zusammenhang wird durch eine DEL-Analyse ausgewiesen. Wird prognostiziert, dass hohe mathematische Kompetenz beim Lösen textbasierter Aufgaben nicht mit ge-ringem Leseverständnis einhergehen kann, bestätigen die empirischen Daten das hypothetische Modell sehr gut (p(R-U) = .191, p(R-K) = .125,  = .347).  4. Fazit Die Befunde unterstreichen die hohe Bedeutung des Leseverstehens für text-basierte mathematischer Aufgaben und zeigen an, dass erst Kindern, die auf Kompetenzstufe III lesen können, das Lösen solcher Aufgaben potenziell möglich ist. Damit ist die oft defizitäre Vermittlung von Lesefähigkeit in der Grundschule nicht nur problematisch für das Fach Deutsch, sondern strahlt auf Mathematik und vermutlich vergleichbar auch auf andere Fächer ab. In-sofern bleibt Leseförderung eine große Aufgabe für jeden Unterricht. Für den Einsatz textbasierter Aufgaben im Mathematikunterricht hat dies zur Folge, dass ihre sinnvolle Verwendung als Förderimpuls die Notwendigkeit mit sich bringt, zu Beginn der Bearbeitungsphase das Verständnis für die Realsituation explizit sicherzustellen. Zur Leistungsmessung unterliegt die Verwendung solcher Aufgaben klaren Grenzen, da die Konfundierung mit Lesefähigkeit Korrelationsfehler bei der Beurteilung begünstigt. Literatur Blum, W. (2006). Modellierungsaufgaben im Mathematikunterricht. In A. Büchter, H. Humenberger, S. Hußmann & S. Prediger (Hrsg.), Realitätsnaher Mathematikunter-richt – vom Fach aus und für die Praxis (S. 8-23). Hildesheim: Franzbecker.  Hußmann, A. et al. (Hrsg.) (2017). Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutsch-land im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. Leutner, D., Klieme, E., Meyer, K. & Wirth, J. (2004). Problemlösen. In PISA-Konsor-tium Deutschland (Hrsg.), PISA 2003 (S. 147-175). Münster: Waxmann.  Prediger, S. et al. (2015). Sprachkompetenz und Mathematikleistung. Journal für Mathe-matik-Didaktik, 36, 77-104. Rosebrock, C. & Nix, D. (2017). Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.  Thiede, B., Holzäpfel, L. & Leuders, T. (2015). Von der Textaufgabe zum Ergebnis – zur Wirksamkeit des Prozentstreifens als Hilfsmittel bei Prozentaufgaben. In Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2015 (S. 1154-1155). Münster: WTM. 930

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