Evaluierung der wissenschaftlichen und gesetzlichen Voraussetzungen zur Entlassung von Arzneistoffen aus der Verschreibungspflicht (Rx/OTC-Switch) in Europa und Deutschland anhand mehrerer Fallbeispiele
Innovative Arzneimittel für die Selbstbehandlung von Patienten können in der Regel durch die Umklassifizierung von verschreibungspflichtigen Medikamenten in nicht-verschreibungs-pflichtige Arzneimittel verfügbar gemacht werden. Hierdurch können therapeutische Lücken in der Selbstmedikation geschlossen werden. In Deutschland und den europäischen Mitgliedstaaten wird die Entlassung eines Arzneimittels aus der Verschreibungspflicht, ein so genannter Rx/OTC- Switch, durch unterschiedliche Verfahren geregelt. In Deutschland wird eine Verordnung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erlassen, welche die Klassifizierung der Wirkstoffe als verschreibungspflichtig festlegt. Mit der Antragstellung werden Daten hinsichtlich der Sicherheit des Arzneimittels eingereicht, die eine Anwendung in der Selbstmedikation rechtfertigen, jedoch in der Regel keine wissenschaftlichen Daten zu Dosierung und Indikation des Arzneimittels in der Selbstmedikation, da die klinischen Zulassungsstudien diese Anwendung in der Selbstmedikation oftmals nicht abdecken. Somit kann eine Dosierungs- und Anwendungsempfehlung anhand der verschreibungspflichtigen Therapieempfehlungen und aufgrund von Hypothesen und möglichen Angaben von im Ausland zugelassenen nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln angegeben werden. In Deutschland empfiehlt ein Sachverständigenausschuss (SAV) den Rx/OTC-Switch, welcher durch das BMG mittels einer Verordnung umgesetzt wird, um den betroffenen Wirkstoff komplett oder unter bestimmten Einschränkungen in der Dosierung, Anwendungsart und/oder -dauer aus der Verschreibungspflicht zu entlassen.Das Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit war es, mögliche Lösungen im Hinblick auf die wissenschaftliche Datenfindung über die korrekte Anwendung von Arzneimitteln im Selbstmedikationsbereich zu finden, um somit einen erfolgreichen RX/OTC-Switch zu ermöglichen.
Methodik: Im ersten Teil der Arbeit wurde neben einer systematischen Literaturrecherche eine umfangreiche Erhebung des Ist-Zustandes zur Entlassung von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht (Switch-Prozess) in Deutschland, im europäischen Ausland und der
EMA (europäische Arzneimittebehörde) sowie eine Analyse der unterschiedlichen Prozesse durchgeführt. Diese regulatorische Bestandsaufnahme war essentiell, da sie in dieser Form noch nicht verfügbar war. Ebenso wurden die regulatorischen Anforderungen und gesetzlichen Vorgaben zur Überführung eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels in ein nicht-verschreibungspflichtiges Arzneimittel kritisch durchleuchtet. Hierbei wurde der Fokus auf den Prozess in Deutschland gerichtet, um die Bedingungen für einen Switch und die damit verbundenen regulatorischen Schwierigkeiten zu analysieren. Im zweiten Teil der Arbeit wurde die Überprüfung der Fragestellungen anhand einer retrospektiven Analyse von Rx- zu OTC-Switches in Großbritannien und Deutschland am Beispiel von vier Originatorpräparate untersucht.
Hierbei ist unter anderem der Chalmer Score als Bewertungsgrundlage für die Analyse der Studien mit einbezogen worden. Basierend auf den Ergebnissen der Studienbewertung und der im Switch-Dossier eingereichten Unterlagen erfolgte eine Bewertung zur Erfüllung der regulatorischen Anforderungen (Switch Guideline) sowie eine Aufstellung von Kriterien für die Anforderung an eine klinische Studie, um die Entlassung aus der Verschreibungspflicht in Deutschland zu erlangen.
Ergebnis: Die regulatorische Auswertung der einzelnen EU-Mitgliedstaaten hat gezeigt, dass der Prozess zur Entlassung aus der Verschreibungspflicht zwar auf der gleichen gesetzlichen Grundlage beruht (Direktive 2001/83/EC, Art. 70-71), jedoch vom jeweiligen Land in der EU unterschiedlich ausgelegt und praktiziert wird. Als weitere gemeinsame Grundlage sind die Anforderungen der sogenannten europäischen Switch Guideline zu erfüllen. Diese Leitlinie beschreibt die detaillierten Anforderungen, die für einen Antrag zur Entlassung aus der Verschreibungspflicht einzuhalten sind. In der Mehrzahl der europäischen Länder wird die Entlassung aus der Verschreibungspflicht mittels eines Typ II-Variation-Verfahrens für ein bestimmtes Arzneimittel bei der zuständigen nationalen Zulassungsbehörde beantragt. Hierbei durchläuft das Antragsverfahren einen festgelegten Prozess bei der Behörde, die an bestimmte Fristen gebunden ist, so dass eine zeitliche Planung der Umsetzung des Switches möglich ist. Das Verfahren in Deutschland läuft jedoch nicht über ein Variation-Verfahren und ist somit nicht an Fristen oder bestimmte Verfahrensabläufe gebunden. Es sind lediglich
die gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Prozess vorgegeben, wodurch ein planbarer und vorhersehbarer Ablauf des Verfahrens nicht gegeben ist; dies wäre für den Antragssteller jedoch essentiell, um eine entsprechende Produktionsplanung und eine zeitnahe Einführung im Markt zu gewährleisten. Die für den Switch eingereichten klinischen Daten entsprachen nicht vollständig der Anwendung in der Selbstmedikation, da die klinischen Prüfungen mit einem verschreibungspflichtigen Arzneimittel in der entsprechenden Umgebung, d.h. mit ärztlicher Intervention durchgeführt werden müssen.
Anhand der Bestandsaufnahme der regulatorischen Rahmenbedingungen erfolgte die Analyse der Fallbeispiele. Drei der vier untersuchten Beispiele wurden erfolgreich aus der Verschreibungspflicht entlassen. Die vierte untersuchte Wirkstoffkombination erhielt eine positive Empfehlung des Sachverständigenausschusses, jedoch wurde diese Empfehlung bisher noch nicht in einer Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung umgesetzt. Alle vier Fallbeispiele konnten einen hohen Erfüllungsgrad der Anforderungen der Switch-Guideline aufweisen. Anhand der Fallbeispiele ist jedoch keine Regel ableitbar, welche Kriterien eingehalten werden müssen, um einen erfolgreichen Switch zu gewährleisten.
Schlußfolgerung: Die Einhaltung der in der EU gültigen gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien, die für die Entlassung eines Wirkstoffes aus der Verschreibungspflicht zu erfüllen sind, führen in der Erstbeurteilung nicht automatisch zu einem erfolgreichen Rx/OTC-Switch. Insbesondere in Deutschland resultiert der komplexe Prozess zur Umklassifizierung von Arzneimitteln durch Rx/OTC-Switches, der für den Antragsteller wenig transparent ist, kaum in innovativen Markteinführungen in der Selbstmedikation. Somit können therapeutische Lücken in der Selbstmedikation nur sehr langsam und spärlich gefüllt werden. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die EU und Deutschland sind daher umfassend zu überdenken und hinsichtlich der Anforderungen an klinische Studien für Arzneimittel in der Selbstmedikation und insbesondere der prozeduralen Abläufe anzupassen. Eine klinische Studie kann gemäß der aktuellen EU-Gesetzgebung nicht unter den vollständigen therapeutischen Bedingungen in der Selbstmedikation durchgeführt werden. In diesem Rahmen können lediglich Daten generiert werden, die einer Anwendung als verschreibungspflichtiges Arzneimittel hinsichtlich Indikation, Dosierung und Anwendungsdauer entspricht. Eine Anpassung der Richtlinie für klinische Studien (Clinical Trial Directive) und oder der Switch Guideline ist daher erforderlich, wenn zukünftig ein Rx/OTC-Switch anhand von klinischen Selbstmedikationsstudien begutachtet werden soll. Zusätzlich sollten generell in den europäischen Mitgliedsstaaten die Verfahren zur Entlassung von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht harmonisiert über das Variation-Verfahren bearbeitet werden. Somit würden die Fachabteilungen in den Zulassungsbehörden die Entlassung aus der Verschreibungspflicht pro Arzneimittel und nicht pro Wirkstoff bewerten und genehmigen können. Die Bewertung der Arzneimittelsicherheit und Wirksamkeit erfolgt während eines Zulassungsverfahrens umfassend durch die Expertise in der Zulassungsbehörde. Daher wäre es konsequent, auch die Änderung des Vertriebsstatus von verschreibungspflichtig in nicht-verschreibungspflichtig der Fachkompetenz der Zulassungsbehörde zu überlassen, der die komplette Datenlage des jeweiligen Arzneimittels im Detail und damit das Nutzen-Risiko-Verhältnis bekannt ist