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Zur Geschichte des Reizbegriffs

Abstract

Diese Arbeit zielte darauf ab, anhand von ausgewählten Episoden der Psychologiegeschichte das etablierte positivistische Selbstverständnis des Faches aus wissenschafts-historischer Perspektive zu hinterfragen und so einen philosophisch-psychologischen Diskurs neu zu beleben, der in der zeitgenössischen, wechselseitigen Ignoranz der Disziplinen großflächig zum Erliegen gekommen ist. Mithilfe der Thesen Thomas Kuhns und Ludwik Flecks wurden im ersten Teil der Arbeit die wissenschaftssoziologischen und -historischen Denkmittel erarbeitet, um das in der Fachhistorie oft propagierte Fortschrittsideal einer ‚Überwindungsgeschichte’ und den Falsifikationismus als alleingültige Legitimationsgrundlage zeitgenössischer Mainstream-Psychologie zu hinterfragen. Aus dieser Perspektive sollte das historische Material für einen selbstreflexiven Diskurs bereitgestellt werden, welcher die philosophischen und gesellschaftstheoretischen Implikationen vergangener und zeitgenössischer Psychologie nicht mehr verschleiert, sondern offen zur Debatte stellt. Den Leitfaden für die Untersuchung lieferte der Terminus ‚Reiz’, dessen begriffliche Transformationen über vier historisch aufgearbeitete Episoden aufgezeigt wurde: In der deutschen Tradition – vom Galvanismus her über die physikalische Physiologie von Helmholtz, Du Bois-Reymond und Weber bis zur Psychophysik Fechners und der Sinnesphysiologie Wundts – bezeichnete der Reizbegriff einen rein physikalisch mess-, beschreib- und kontrollierbaren, in Zeit, Raum und Kraft quantifizierbaren Vorgang (Äther- oder Schallwelle, Masse), welcher als körperexterne Ursache ein materielles Pendant zur psychischen Empfindung, dem atomaren Basiselement des Bewusstseins, bildete. Gleichzeitig sollte die exakte Messbarkeit von Licht, Schall und Masse als Erreger sinnlicher Empfindungen die Anwendung der Mathematik auf die Psyche gewährleisten, um die Psychologie nunmehr in den Rang einer der Physiologie gleichwertigen Naturwissenschaft zu erheben. Auf amerikanischem Boden vollzog sich unter pragmatistischem, funktionalistischen und evolutionstheoretischen Vorzeichen ein radikaler terminologischer Wandel: James und Dewey verweigerten den implizit dualistischen, rein physikalischen Reizbegriff und transformierten ihn zu einer Kategorie der Erfahrung: Reize bezeichnen im Funktionalismus die vom Subjekt aktiv hervorgehobenen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gesetzten Elemente der Umwelt eines Organismus, welcher – unter evolutionstheoretischen Gesetzmäßigkeiten gedacht – permanent Anpassungsleistungen um des Überlebens willen vollziehe. Funktionalistisches Pendant zum Reiz ist nicht mehr die Empfindung, sondern das Verhalten – bei James, Dewey und Angell bildete der Reiz jedoch nicht eine Determinante, sondern die Herausforderung für die Aktivität des Organismus. Mit dem Behaviorismus Watsons und dessen Verweigerung, auf das Bewusstsein eines Lebewesens zu rekurrieren, wurde die letzte Verschiebung im Reizbegriff nachvollzogen: Anstatt von physikalischen Vorgängen oder psychischen Erfahrungseinheiten spricht Watson dezidiert von Reizen als den Objekten der Umwelt (bspw. Futterpille, Kaninchen, Menschen), welchen er einen reaktionsdeterminierenden Impetus zuschreibt. Auch semantische Konzepte (sprachliche Äußerungen) oder Abstrakta wie Prostution oder Krieg fallen unter den verobjektivierten Reizbegriff Watsons – egal ob Gegenstände in ihrer sozialen Bedeutungshaftigkeit, semantische Relationen in Laut und Text oder kulturelle Phänomene wie Religion und Prohibition, alles Zeig-, Sag- oder Denkbare wird seit Watson als verobjektivierte ‚Umwelteinheit’ und Ursache für menschlich-organismische Reaktionen gedacht. Auf der Fährte dieser terminologischen Verschiebung wurde den philosophischen und denkstilgeformten Voraussetzungen der jeweiligen Positionen nachgespürt: Im Galvanismus und Johannes Müllers Bio-Physiologie stand der Reizbegriff im Zentrum einer vitalistischen, an die Pneuma- und Säftelehre angelehnten Lehre spezifisch organischer Sinnesenergien. Bei Müllers Schüler Helmholtz und Du Bois-Reymond, die eine radikal anti-vitalistische, reduktiv-materialistische Ontologie propagierten, wurde der Reiz zu einem streng physikalischen Vorgang umgewandelt, der eine chemisch-physikalische Erregung im Nervengewebe des Organismus auslöse. Da sich die Empfindung als psychisches Element gegen die Integration in eine physikalistische Metaphysik von Raum, Zeit und Kraft sperrte, wurde sie von der Sinnesphysiologie der Psychologie überantwortet. Fechners monististischer Idealismus – dessen naturphilosophische Wegbereiter Oken und Schelling waren – und die kosmologische Uridee von der Beseeltheit des Universums im pantheistischen Geiste Spinozas und Leibniz’ bildeten die vorwissenschaftlichen Voraussetzungen für das psychophysische Projekt Fechners und seine Fundamental- und Maßformel. Das empirische ‚Beweismaterial’ sammelte Fechner erst, wie die physikalischen Physiologen vor ihm und Watson nach ihm, nachdem er zu seinen weltanschaulichen und (vor)wissenschaftlichen Überzeugungen gelangt war – ein Befund, der sich klar von den normativen Dimensionen positivistischer und falsifikationistischer Wissenschaftstheorien abgrenzt. James und Dewey distanzierten sich explizit vom ‚platonischen’ Dualismus des Wundtschen Strukturalismus zugunsten einer Ontologie ‚reiner Erfahrung’, legten die philosophischen Hintergründe ihrer terminologischen Verschiebung unter pragma-tistischem und evolutionstheoretischen Vorzeichen offen dar und schafften so das begriffliche Fundament für die funktionalistischen Abstraktionen Angells und Watsons eines ‚Lebewesens überhaupt’, welches nach universellen biologischen Gesetzmäßigkeiten auf die von der Umwelt gesetzten Reizobjekte reagiert. Neben der Auffächerung der denkstilgeformten und philosophischen Vorannahmen, ohne die keine der behandelten Psychologiekonzeptionen verständlich wird, wurde zusätzlich ein zeitgeschichtlicher ökonomischer und soziokultureller Rahmen der wissen-schaftshistorischen Umbrüche skizziert. Die Etablierung der physikalischen Physiologie im frühindustriellen Deutschland sowie die politische Anschlussfähigkeit der funktional-istischen und behavioristischen (Um)Erziehungsversprechen in einer von ökonomischen Umwälzungen krisengeschüttelten USA um 1900 sollten so begreifbar werden. Inneraka-demische Ausschließungs- und Kompromittierungsrituale, außeruniversitäre Propaganda, Utopie und politische Dienstbarkeit offenbarten sich als integrale Bestandteile der Durchsetzung neuer Denk- und Forschungstraditionen, deren Anerkennung eine – vom Positivismus verweigerte – wissenschaftssoziologische Perspektive auf Forschungskol-lektive eröffnet, welche unentwegt auf die Etablierung ‚ihres’ Diskurses bei gleichzeitiger Marginalisierung der als ‚überholt’ denunzierten, konkurrierenden Schulen drängen. Im letzten Teil der Arbeit wurden die wissenschaftshistorischen Thesen Kuhns und Flecks in Zusammenhang mit dem aufgearbeiteten Material besprochen. Innerhalb der europäischen bzw. amerikanischen Psychologietradition kann jeweils, so der Befund dieser Arbeit, von einer sukzessiven Denkstilumwandlung im Sinne Flecks gesprochen werden, während der psychologiegeschichtliche Bruch – auch auf terminologischer Ebene klar ersichtlich – zwischen dem Strukturalismus Wundts/Titcheners und dem Funktionalismus von James/Dewey als Kuhnscher Paradigmenwechsel – im weiteren Sinne – bezeichnet werden kann. Abschließend wurde für die Möglichkeit einer Psychologie als Kultur- und Sozial-wissenschaft plädiert, die der reflexionsverweigernden, positivistischen Mainstream-Psychologie ihre philosophischen und gesellschaftstheoretischen Implikationen – die schon auf der terminologischen Ebene von ‚Reiz’ und ‚Umwelt’ aufzeigbar sind – vorhält und die wissenschaftstheoretischen Fragwürdigkeit einer Psychologie betont, die auf Basis einer Methodologie von ‚reiner Empirie’ zu operieren meint

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