In der vorliegende Diplomarbeit werden die Werke der amerikanischen Künstlerin
Georgia O’Keeffe (1887-1986) behandelt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den
Arbeiten aus ihren frühen Jahre zwischen 1915 und 1920. Die Kohlezeichnungen,
Aquarelle, Ölgemälde und Skulpturen werden auf europäische Vorbilder untersucht.
Im Hinblick auf eventuell gegebene europäische Einflüsse soll eruiert werden, ob das
der Künstlerin von Alfred Stieglitz, ihrem Förderer, Kunsthändler und späterem
Ehemann, verliehene Prädikat „genuin American“ heute noch haltbar ist.
In der bisherigen Forschung werden die Arbeiten von O’Keeffe vorwiegend in einen
amerikanischen Kontext gestellt. Nur wenn es aufgrund gesicherter Tatsachen
unvermeidlich erscheint, werden von den vorwiegend amerikanischen AutorInnen
auch Verbindungen zu europäischen Künstlern und Kunstströmungen aufgezeigt.
Der Inhalt der vorliegenden Schrift soll über die bis dato angestellten Vergleiche mit
der europäischen Kunst hinausgehen. Die Forschung zum Frühwerk von O’Keeffe ist
noch relativ jung. Sie setzte erst nach dem Tod der Künstlerin in den späten 1980er
Jahren ein, als die Werke aus ihrer Orientierungsphase wieder an die Öffentlichkeit
gelangten. Daher gibt es auf diesem Gebiet noch viel zu entdecken.
Zum einen werden hier Einflüsse untersucht, die in der bisherigen Literatur bereits
anerkannt werden. Dies sind der Jugendstil, der Symbolismus und die Lehre ihres
Professors Arthur W. Dow. Diese Vergleiche werden anhand neuer Beispiele
abermals angestellt und dienen zum besseren Verständnis von O’Keeffes Werken
sowie den darauf folgenden Gegenüberstellungen mit der europäischen Avantgarde.
Auch wurde in der Forschung bereits ein möglicher Zusammenhang einer Aktserie
der Künstlerin mit Aktzeichnungen von Auguste Rodin erwähnt. Da ich hier aber zu
einem anderen Schluss komme, wird auch diese Beziehung erneut aufgezeigt.
Im Hauptteil wird der Frage nachgegangen, ob O’Keeffe in der Phase ihres Suchens
nach einem eigenen künstlerischen Ausdruck auch von europäischen
Avantgardeströmungen beeinflusst wurde. Dahingehend werden ihre Arbeiten
Werken von Künstlern des Kubismus, des Orphismus und des Futurismus
gegenübergestellt. Neben der direkten Beeinflussung durch europäische
Modernisten finden deren Neuerungen aber auch auf Umwegen Eingang in das
Werk der amerikanischen Künstlerin. O’Keeffe absorbierte die Ideen der Europäer
gefiltert durch die Kunst ihrer Landsleute, die zuvor in Europa studiert und die
neuesten künstlerischen Ansichten in ihr Werk übernommen hatten. Es wird
aufgezeigt, dass O’Keeffe sich wohl am Kubismus versucht hatte, dieser aber kaum
Einzug in ihr reifes Werk gehalten hat. Auch der Orphismus oder dessen
amerikanische Version, der Synchromismus, wurde von O’Keeffe kurzzeitig
aufgegriffen und verarbeitet. Der Futurismus hingegen spielte im Frühwerk der
Künstlerin eine bedeutendere Rolle und trägt seine Spuren durch ihr gesamtes
Oeuvre. Freilich ist das Ergebniss aufgrund der sozialen und politischen Verhältnisse
in den USA ein anderes als das der europäischen Avantgardisten. Im letzten Kapitel
werden O’Keeffes Werke denen der deutschen Expressionisten gegenüber gestellt.
Ein Einfluss der in der Forschung zu O’Keeffe bisher gänzlich ignoriert wurde. Es
wird an dieser Stelle veranschaulicht, dass O’Keeffe sich auch mit dieser
Kunstströmung auseinandersetzte. Teils griff sie die formalen und stilistischen
Elemente der deutschen Künstler auf und verwarf sie nach kurzer Zeit wieder. Teils
fanden diese Eingang in ihren persönlichen Stil und somit auch in ihr reifes Werk.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass europäische Künstler und
Kunstrichtungen, sei es auf direktem oder indirektem Weg, das Werk von O’Keeffe
beträchtlich beeinflusst haben. Daher ist meiner persönlichen Ansicht nach die
Bewertung der Künstlerin als genuin amerikanisch nicht haltbar