Anorexia nervosa (AN) ist eine Krankheit, die durch eine gestörte Körperwahrnehmung, krankhafte Angst vor dem Dickwerden, die Weigerung, ein weitgehend normales Körpergewicht aufrechtzuerhalten, und - bei Frauen - Amenorrhö gekennzeichnet ist.
Begleitet wird die ausgeprägte Gewichtsreduktion durch zahlreiche neuroendokrine und metabolische Veränderungen. Etwa 95% der Betroffenen mit dieser Störung sind weiblichen Geschlechts. Die AN beginnt meist in der Adoleszenz, gelegentlich früher und in seltenen Fällen erst im Erwachsenenalter. Es wurden Mortalitätsraten zwischen 10 und 20% berichtet. Die Lebenszeitprävalenz beträgt bei Frauen ca. 0,5-1%.
Die Ätiologie der AN ist unbekannt, doch scheinen soziale Faktoren eine Rolle zu spielen. Die Menschen in Zivilisationen sind von dem Wunsch durchdrungen, dünn zu sein, und Korpulenz wird als unattraktiv, ungesund und nicht erstrebenswert betrachtet. Etwa 80 bis 90% der Kinder in der Vorpubertät sind sich dieser Einstellung bewusst, und über 50% der Mädchen in der Vorpubertät machen eine Diät oder ergreifen Maßnahmen zur Gewichtskontrolle. Da jedoch nur ein geringer Prozentsatz eine Anorexia nervosa entwickelt, müssen noch andere Faktoren eine Rolle spielen.
Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien gaben erste Hinweise dafür, dass neben Umwelteinflüssen genetische Faktoren eine entscheidende Rolle in der Gewichtsregulation spielen. Die Regulation des Körpergewichtes ist ein komplexer Vorgang, der durch viele verschiedene periphere und zentrale Prozesse gesteuert wird. Zunehmende Erkenntnisse über die physiologischen Abläufe der Steuerung und Entwicklung des Körpergewichtes können Einblicke in die Pathologie der Gewichtsregulation eröffnen. Gegenstand dieser Arbeit ist es, den komplexen Phänotyp der Anorexia nervosa aus dem Blickwinkel einer gestörten Gewichtsregulation zu betrachten.
Die Modellvorstellung zur Gewichtsregulation haben sich gerade in jüngster Vergangenheit durch die Klonierung relevanter Gene fortentwickelt. Aus verschiedenen Tiermodellen monogen bedingter Adipositasformen ergaben sich Kandidatengene für die Gewichtsregulation des Menschen. Die Identifizierung und Klonierung des obese-Gens (Leptingen), eines dieser Kandidatengene, seines Produktes Leptin sowie dessen Rezeptoren erbrachten neue Erkenntnisse über die Gewichtsregulation.
Im Rahmen dieser Arbeit wurde der Promoterbereich des Leptingens untersucht, der für die Regulation der Genexpression zuständig ist, da Allelvariationen im Promoter zu einer unterschiedlichen Transkriptionsrate führen könnten. Das zur Verfügung stehende Kollektiv setzte sich aus an Anorexia nervosa leidenden Patientinnen und untergewichtigen Kontrollprobanden zusammen. Bei diesen Probanden wurden zwei Polymorphismen im Promoter des Leptingens untersucht.
Um eine mögliche Assoziation der Polymorphismen zum Phänotyp der Anorexia nervosa feststellen zu können, wurden die Allelverteilungen der Patientinnen mit AN mit der der Probanden verglichen (Fall-Kontrollstudie). Da Stratifikationsprobleme hierbei nicht auszuschließen sind, wurde für beide Polymorphismen zusätzlich ein ?Transmission disequilibrium test? (TDT) durchgeführt. Der Vergleich der Allelverteilungen bei Patientinnen mit Anorexia nervosa und untergewichtigen Probanden zeigte für beide Polymorphismen keine signifikanten Unterschiede. Ebenso ergab der TDT in beiden Fällen kein Transmissionsungleichgewicht, so dass in der vorliegenden Arbeit keine Assoziation von Allelen zweier Polymorphismen im Promoterbereich des Leptingens zum Phänotyp der Anorexia nervosa gefunden werden konnte.
Die hier untersuchten Polymorphismen des Leptin-Promoters kommen somit nicht als ursächlicher Faktor für die Entwicklung einer Anorexia nervosa in Frage.
Durch die Forschungen der letzten Jahre konnten viele Einblicke in die genetischen Grundlagen gewonnen werden, denen die Gewichtsregulation unterliegt. Die Komplexität des Regelkreises der Gewichtsregulation macht ein multifaktorielles polygenes Zusammenspiel wahrscheinlich, aus dem der Phänotyp des individuellen Körpergewichts resultiert. Die Ursache für Abweichungen vom Normalgewicht wie z. B. bei der Anorexia nervosa kann daher in Umweltfaktoren, verschiedenen Genveränderungen oder aber in der Kombination aus beiden liegen.
In der vorgelegten Arbeit wurde der Bogen von klinischen Aspekten bis zur Molekulargenetik gespannt. Die Verknüpfung von klinischen Fragestellungen mit biochemischen und molekulargenetischen Untersuchungsansätzen ist eine wichtige Voraussetzung für die weitere Forschung zum Verständnis von Essstörungen. So ist es zu wünschen, dass auch weiterhin molekulargenetische Studien durch ihre Ergebnisse das Verständnis für die Krankheitsgruppe der Essstörungen erweitern. So könnten in Zukunft neue klinische Therapiekonzepte entwickelt werden