Die kotranslationelle Dekodierung des Kodons UGA als Selenocystein erfolgt
durch eine spezifische tRNA (tRNASec), die von Seryl-tRNA Synthetase mit Serin
beladen und anschließend von Selenocystein Synthase (SelA) zu Selenocysteyl-
tRNASec umgesetzt wird. Selenophosphat, das als Selendonor für diese Reaktion
dient, wird von Selenophosphat Synthetase (SelD) aus Selenid und ATP generiert.
Der anschließende Transfer der beladenen tRNA zum Ribosom erfolgt durch den
spezialisierten Elongationsfaktor SelB, dessen N-terminale Region Homologie zu
EF-Tu zeigt und wie dieses Guanosin-Nukleotide und tRNA bindet. Der C-terminale
Teil interagiert zusätzlich mit einer als SECIS-Element bezeichneten mRNA-
Sekundärstruktur, die in Bakterien unmittelbar auf das für Selenocystein
kodierende UGA-Triplett folgt und für dessen Rekodierung als Sinnkodon
verantwortlich ist.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Mechanismen, die der Interaktion
von SelB mit seinen Liganden sowie der Regulation der Selenocystein-
Biosynthese durch SelB zu Grunde liegen. Im Einzelnen wurden dabei folgende
Resultate erhalten:
1) Die strikte Diskriminierung zwischen Seryl- und Selenocysteyl-tRNASec durch
SelB ist essentiell für das Funktionieren des Selenocystein inkorporierenden Systems.
Eine gerichtete Mutatagenese der Aminoacyl-Bindetasche von SelB
zeigte, dass die Selektivität der tRNA-Bindung vermutlich nicht auf einer
spezifischen Erkennung des Aminoacyl-Rests beruht. Nach Zufallsmutagenese
konnten vier SelB-Varianten isoliert werden, die in vivo eine erhöhte
Aktivität mit Seryl-tRNASec besitzen. Zwei der Mutationen waren in der G-Domäne
von SelB lokalisiert, die anderen beiden in Domäne 4a. Die biochemische
Charakterisierung der mutierten Proteine ergab noch keinen Hinweis auf eine
erhöhte Affinität der SelB-Varianten für Seryl-tRNASec, so dass andere
Mechanismen für die Erweiterung der Aminosäure-Spezifität verantwortlich sein
müssen.
2) Die Interaktion von SelB mit seinen Liganden wurde mit Hilfe von
biochemischen und biophysikalischen Methoden analysiert. Der Elongationsfaktor
zeigt im Gegensatz zu vielen anderen G-Proteinen eine höhere Affinität für GTP
(KD = 0,74 µM) als für GDP (KD = 13,4 µM),was zusammen mit der hohen
Dissoziationsrate von GDP (kdis = 15 s-1) darauf hinweist, dass der
Nukleotidaustausch ohne Katalyse durch einen Austauschfaktor erfolgt. Die
Kinetiken der Interaktion mit Guanosin-Nukleotiden werden durch die Gegenwart
eines SECIS-Elements nicht beeinflusst. Die Affinität von SelB zu einem
fluoresceinmarkierten SECIS-Transkript liegt im nanomolaren Bereich
(KD = 1,23 nM), wobei die Assoziations- und Dissoziationskinetiken sehr
schnell sind und durch die Gegenwart von Guanosin-Nukleotiden nicht verändert werden.
In Gegenwart von Selenocysteyl-tRNASec wurde jedoch eine signifikante
Verringerung der Dissoziationsgeschwindigkeit beobachtet, die zu einer
Stabilisierung der Bindung führt und eine Interaktion zwischen der SECIS- und
tRNA-Bindetasche nahelegt. Diese intramolekulare Wechselwirkung wurde durch
Charakterisierung der isolierten mRNA-Bindedomäne von SelB bestätigt. Die
Gleichgewichtslage der einzelnen Reaktionen führt zu einer gerichteten Bildung
eines Komplexes aus SelB, GTP, Selenocysteyl-tRNASec und dem SECIS-Element, der
durch seine hohe Stabilität auf der mRNA fixiert wird und gleichzeitig eine
Konformation annimmt, die seine Interaktion mit dem Ribosom zulässt.
3) In der 5´-untranslatierten Region der selAB-mRNA wurde eine Sekundärstruktur
identifiziert, die Ähnlichkeit mit dem SECIS-Element aufweist und mit der SelB
spezifisch und mit hoher Affinität interagiert. Die Stabilität des Komplexes
zwischen SelB und dem SECIS-ähnlichen Element erhöht sich in Gegenwart von
Selenocysteyl-tRNASec. Eine Analyse der sel-Genexpression ergab, dass die
Synthese von SelA und in geringerem Ausmaß SelB in genetischen Hintergründen,
die eine Assemblierung des quaternären Komplexes aus SelB, GTP, Selenocysteyl-
tRNASec und dem SECIS-ähnlichen Element erlauben, reprimiert ist. Mutationen in
sel- Genen führen dagegen zu einer erhöhten intrazellulären Konzentration dieser
Proteine. Mit Hilfe von Reportergen-Fusionen wurde gezeigt, dass die
Repression der selA-Expression direkt von der Bildung eines quaternären
Komplexes am SECIS-ähnlichen Element abhängig ist. Da diese keinen Einfluss auf
die Transkription hat und nur zu einer schwachen Verringerung der mRNA-Menge
führt, wurde gefolgert, dass das SECIS-ähnliche Element eine Regulation der
Translationsinitiation am selA-Gen in Abhängigkeit vom Selenstatus der Zelle
ermöglicht