Das Hyper-IgE-Syndrom (HIES) ist ein seltener primärer Immundefekt, charakterisiert
durch die klinische Trias: chronisches Ekzem mit einem Gesamt-IgE über 2000
IU/ml im Serum, rezidivierende Infektionen (insbesondere Abszesse, Infektionen des
Respirationstraktes wie Pneumonien mit Pneumatozelenbildung und Candidainfektionen)
und skelettbezogene Symptome (vergröberte Gesichtszüge, Milchzahnpersistenz,
Skoliose, Spontanfrakturen und Überstreckbarkeit der Gelenke). Durch das
Auftreten von skelettbezogenen Symptomen neben der klassischen immunologischen
Trias (rezidivierende Abszesse, rezidivierende Pneumonien und erhöhtes Gesamt-IgE)
wird das HIES nach Grimbacher et al. heute als Multisystemerkrankung bezeichnet
(Grimbacher et al. 1999a). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind Ätiologie und
Pathogenese noch unbekannt, so dass Definition und Diagnosestellung nur anhand
klinischer Parameter zu stellen sind. Ziel einer Kooperation mit einer Arbeitsgruppe der
National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, USA, war es einen molekulargenetischer
Nachweis eines Gendefektes zu finden.
In dieser Arbeit wurden 68 Patienten mit Anfangsverdacht auf ein HIES analysiert. Bei
13 Patienten konnte ein HIES diagnostiziert werden. Bei 12 dieser Patienten fand sich
ausnahmslos ein chronisches Ekzem (bei 75% bereits vor der vierten Lebenswoche
manifest), Staphylokokken-Abszesse der Haut (bei 83% auch Organabszesse),
rezidivierende Infektionen des HNO-Bereiches, eine Candidose der Mundschleimhaut
sowie der Finger- und Fußnägel, ein Gesamt-IgE über 2000 IU/ml und einer
Vergröberung der Gesichtszüge (HIES-typische Fazies). Bei 11 von 12 Patienten traten
rezidivierende Pneumonien auf, die in 25% mit einer Pneumatozelenbildung
einhergingen. Bei der Hälfte der HIES-Patienten fand sich eine IgD-Erhöhung über 100
IU/ml. 50% der Patienten hatten Spontanfrakturen, 67% eine Überstreckbarkeit der
Gelenke und 60% der über sechzehnjährigen eine Skoliose. Eine Milchzahnpersistenz,
ein erstmals von Grimbacher et al. beschriebener Befund, konnte mit einem Auftreten
bei 73% unserer über sechsjährigen Patienten bestätigt werden (Grimbacher et al.
1999a). Der Vergleich von anthropometrischen Daten des Gesichtes mit Standardwerten
der Literatur (Farkas LG 1994) ergab signifikant erhöhte Mittelwerte für die
Nasenflügelbreite (z-Score=4), den äußeren (z-Score=6) und inneren Augenabstand (z-
Score=2) und Normwerte für den Kopfumfang. Ein Patient hatte eine Craniosynostose.
Zusätzlich traten bei jeweils einem weiteren Patienten eine zweifache Non-Hodgkin-
Lymphom-Erkrankung (T- und B-Zelltyp), ein juveniler arterieller Hypertonus, eine
beidseitig operationsbedürftige Katarakt, eine Echinococcus alveolaris-Infektion der
Leber und eine Hämophilie A auf. Familiarität könnte bei diesen 12 Patienten nicht
beobachtet werden.
Eine vergleichbare infektions-immunologische Symptomatik (Ekzem, rezidivierende
Infektionen der Haut und des Respirationstraktes und erhöhtes IgE) wie Patienten mit
klassischem HIES zeigten 5 Patienten aus 5 konsanguinen Familien türkischer
Abstammung. Abgesehen von einer milden Überstreckbarkeit der Gelenke bei einer
Patientin konnten keine weiteren zahn- und skelettbezogenen Symptome festgestellt
werden. Zusätzlich fanden sich bei diesen Patienten eine extreme Eosinophilie (bis
16000 Eosinophile per µl; vgl. Abb. 14), ungewöhnlich starker Molluscum contagiosum
Befall und cerebrale Gefäß- und Blutungsprobleme, die zu einer hohen Letalität führten.
Retrospektiv konnte in 4 der Familien ein weiteres bereits verstorbenes Geschwisterkind
mit HIES diagnostiziert werden. Aufgrund von Konsanguinität und familiärem
Auftreten der Symptome in einer Generation wird bei diesen Familien ein autosomalrezessiver
Erbgang vermutet. Dieses Krankheitsbild ist bisher nicht in der Literatur
erwähnt und soll als autosomal rezessive Variante der HIES beschrieben werden. Mit
diesen Familien wird aktuell eine Genom-weite Kopplungsanalyse durchgeführt.
Sieben weitere Patienten zeigten durch eine geringere Ausprägung der Symptome eine
milde Unterform des klassischen HIES. Differentialdiagnostisch ist eine andere
Grunderkrankung wie z.B. eine schwere atopische Dermatitis nicht völlig auszuschließen.
Aufgrund der klinischen Einschätzung wurden die 68 Patienten mit Anfangsverdacht
auf ein HIES in vier Diagnosegruppen eingeteilt: „klinisch-gesichert HIES“, „HIESVariante“,
„Verdacht auf HIES“, „kein HIES“. Wesentliche differentialdiagnostische
Kriterien waren hierbei: Ekzemmanifestation vor der 6. Lebenswoche, infiltrierende
Abszesse (Organabszesse), Nagelcandidose, Spontanfrakturen, Überstreckbarkeit der
Gelenke und, als besonders spezifisches Merkmal, die Milchzahnpersistenz. Ein
wichtiges weiteres Charakteristikum ist die HIES-typische Fazies, die nur bei den von
uns persönlich gesehenen Patienten ausgewertet werden konnte.
Der Vergleich der Mittelwerte für das Gesamt-IgE (95%-Konfidenzintervall) ergab
keinen signifikanten Unterschied der verschiedenen Diagnosegruppen untereinander, so
dass die Höhe des Gesamt-IgE zwar für HIES meist über 2000 IU/ml liegt, aber nicht
als spezifisch für diese Erkrankung anzusehen ist.
Diese klinischen Diagnosegruppen wurden mit dem Ergebnis eines Algorithmus, der
zur Veranschaulichung des Entscheidungsprozesses bezüglich des HIES entwickelt
wurde und in sechs Stufen Symptome bzw. Symptomenkomplexe des HIES auf ihr
Vorhandensein getestet, verglichen. Ein vom NIH entwickeltes Scoresystem wurde auf
seine Aussagefähigkeit zur Diagnosestellung überprüft (vgl. Tab. 3). Es ergab sich
daraus, dass bei einem Scorewert von über 40 Punkten mit großer Wahrscheinlichkeit
ein HIES vorliegt und bei einem Wert unter 20 Punkten die Diagnose verworfen werden
konnte. Das NIH-Scoresystem und der Algorithmus ließen somit eine Aufspaltung
zwischen den Patienten mit klinisch-gesichertem HIES und keinem HIES zu.
Aus unserer klinischen Studie konnten somit konkrete Entscheidungshilfen zur
Diagnosestellung gegeben werden, die es ermöglichen, das HIES früher zu erkennen,
um so Lebensqualität und Prognose dieser chronischen Krankheit durch frühzeitige
intensive antimykotische-antibiotische Therapie und Abszessspaltung weiter zu
verbessern und assoziierte Merkmale (Milchzahnpersistenz, pathologische Frakturen,
Skoliose und Lymphome) in die Therapie bzw. Prophylaxe einzubeziehen.
Es wird vermutet, dass das klassische HIES einem monogenen, autosomal-dominanten
Erbgang mit variabler Expressivität folgt. Mittels Linkage-Studie konnte ein
signifikanter LOD score in der Region 4q21 bestimmt werden (Grimbacher et al.
1999b). Die Suche nach dem Gendefekt für das HIES ist bisher noch nicht
abgeschlossen. Kopplungsanalysen von familiärem HIES am NIH und unsere klinische
Studie legen nahe, dass es nicht nur unterschiedliche Phänotypen des HIES gibt,
sondern auch unterschiedliche Gendefekte anzunehmen sind (Grimbacher 1999b).
Sollte für das HIES ein Gendefekt nachgewiesen werden, so bestünde die Hoffnung,
über die daraus resultierende biologische Störung (z.B. Proteindefekt) entscheidende
Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathogenese des HIES zu erlangen. Davon hängt
schließlich die Möglichkeit einer kausalen Therapie, eventuell einer somatischen
Gentherapie, ab, aber ebenso die genetische Beratung betroffener Familien und
vielleicht auch Erkenntnisse für Erkrankungen des atopischen Formenkreises