Liedke, Ulf

Publikationsserver der Universität Tübingen

Ulf LiedkeUnser Name sei Mensch.Theologische Impulse zur kirchlichen Arbeit mit Flüchtlingen„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu - man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschich­te bleibt."' So beginnt Max Frischs Roman ,Mein Name sei Gantenbein'. Er ist eine Fuge zum Thema der Identitätsvergewisserung. „Ich stelle mir vor", sagt der Ich-Erzähler im­mer wieder und probiert dann eine Geschich­te aus, schlüpft in eine Identität. „Ich probiere Geschichten an wie Kleider", sagt er. Das klingt überpointiert. Wir wechseln unsere Identität keineswegs wie ein Hemd. Gleichwohl scheint mir ein Gedanke plausibel: wir machen Erfah­rungen im Rahmen unserer Wirklichkeitsdeu­tung und diese Erfahrungen fordern zugleich unsere Interpretationen heraus. Durch die Ge­schichten, mit denen wir das Leben erzählen, vergewissern wir uns, wo wir hingehören. Ge­schichten konstituieren Identität. Das ist auch im akademischen Diskurs nicht anders. Theo­rien sind akademische Narrationen. Wissen­schaft besteht darin, diskursive Geschichten zu entwerfen und zu verwerfen, Argumente zu entwickeln und zu prüfen. „Man kann nicht le­ben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt."Unsere Erfahrung ist: Flüchtlinge kommen zu uns. Das ist als solches nicht neu. Neu aber ist, dass sie in großer Zahl kommen. Sie sind vor Krieg und Folter, Vergewaltigung und Miss­handlung geflohen. Jetzt sind sie da. Das ist unsere Erfahrung. „Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt." Es kursieren viele Geschichten über diese Er­fahrung. Kontroverse Geschichten. Auch unter Christinnen und Christen. Manche lassen mich7 Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Berlin 21983, 11. 2 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 2: Herme­neutik: Wahrheit und Methode; 2. Ergänzungen, Register, Tübingen21993, 367.schaudern. Was aber ist meine diskursive Ge­schichte? Welche passt zu der Erfahrung, die ich mache? Welche passt zu meinem Glauben? Welche will ich weitererzählen?Ich stelle mir vor, so begebe ich mich auf die Suche nach meiner Geschichte. Ein Symposi­um stelle ich mir vor, auf dem Theolog_innen zusammenkommen. Jede und jeder bringt seine Geschichte mit und in Umlauf. Rede wird von Gegenrede gekontert. „Dialektik ist ... die Zuspitzung immanenter Gegensätze zum Widerspruch", schreibt Gadamer und hält die „Vereinigung des Widersprechenden" für die „äußerste Möglichkeit des Denkens"2. Ich stelle mir also vor, dass unterschiedliche Geschich­ten zur Sprache kommen und Widerspruch er­wünscht ist.2.Eine erste Rednerin, so stelle ich mir vor, er­zählt die Geschichte von Gott, der eine Leiden­schaft fürdie Fremden hat und ihren Schutz zur Chefsache erklärt. Es ist die Geschichte, die seit der Exilszeit zum narrativen Identitätszentrum Israels gehört und die Erfahrung des Fremd­seins bis in die Anfänge der Erinnerung zu­rückverfolgt. „Das sollst du wissen", soll Jahwe Abram mit auf den Weg gegeben haben, „dass deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist" (Gen 15, 13). Meine Rednerin folgt dieser Erzählspur auf ihrem Weg von Mesopotamien über Syrien, Palästina bis nach Ägypten. Sie beschreibt Bedrückung und Verfolgung als Geschwister der Fremdheit. Und von der Befreiung aus der Knechtschaft spricht sie als dem bejubelten Wendepunkt. „Ich bin der Herr, der ich dich aus der Ägyptenland, aus der Knechtschaft, 113geführt habe" (Ex 20,2). „Diese Freiheitserfah­rung verpflichtet", sagt meine Rednerin, „sie verpflichtet dazu, Verantwortung für die Frei­heit der Anderen zu übernehmen. Auch für die Freiheit der Fremden. ,Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lie­ben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremd­linge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott' (Lev 19, 33). Der Schutz der Fremden wird so zur Staatsräson Israels", stelle ich mir die Rede weiter vor, und schon fährt die Rednerin fort, weitere Belege zu präsentieren. „Gott ,hat die Fremdlinge lieb"', zitiert sie aus der Thora (Dtn 10,18) und „'es soll ein und das­selbe Recht unter euch geben für den Fremd­ling wie für den Einheimischen' (Lev 24, 22)." 3.Ich stelle mir vor: Die Geschichte erhält Ap­plaus - und bleibt doch nicht unwiderspro­chen. „Ihre Erzählung ist etwas weichgespült", sagt jemand scharf. „Sie ist eine Art Ergebnis­bereinigung, bei der das Sperrige aus der Bi­lanz entfernt wird. Wer ausschließlich von der Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen er­zählt, unterschlägt die Abgrenzung von allem Fremden. Besonders wenn Fremde einen an­deren Glauben vertraten, hieß es in alt- und neutestamentlicher Zeit keineswegs unisono ,Refugees welcome'. ,lch ... habe nicht Ge­meinschaft mit den Falschen', freut sich viel­mehr einer der Psalmbeter, ,und sitze nicht bei den Gottlosen' (Ps 26, 4f). Ein anderer fleht: ,Der HERR ist König immer und ewig; die Hei­den sollen aus seinem Lande verschwinden' (Ps 10, 16). Und trotz der vielgerühmten Frem­denfreundlichkeit machen in späterer Zeit auch xenophobische Weisheiten die Runde. Eine mahnt zur .Vorsicht gegenüber Fremden': ,Nimm nicht jeden bei dir auf; denn die Welt ist voller List und Verleumdung. ... Nimmst du ei­nen Fremden bei dir auf, so wird er dir Unruhe bringen und dich in deinem eignen Haus zum Fremden machen' (Sir 11,30.35). Selbst Paulus fordert dazu auf, Abstand zu Andersgläubigen zu halten:,Zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen. Denn was hat die Gerechtigkeit zu schaffen mit der Ungerechtigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?' (2 Kor 6, 14) Nicht der Integration redet Paulus hier das Wort, sondern einer scharfen Abgren­zung: ,Geht aus von ihnen und sondert euch ab' (2 Kor 6,17), lautet sein Credo."4.„Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt." Aber wenn die Ge­schichten so dissonant sind?Ich stelle mir vor, nein, mir drängt sich auf: Unruhe im Saal ist unausweichlich. Erregung. Raunen. „Biblizismus" wird es wohl heißen. Je­mand verschafft sich und seiner Rede Gehör. „Die Bibel ist doch kein Wörterbuch mit lexi­kalischen Einträgen von A bis Z", stelle ich mir die Gegenrede vor, „eher ist sie eine kunstvolle Komposition, eine Sinfonie. Es ist wichtig, auf die Melodiebögen zu achten, auf die Entwick­lung der Motive und Themen. Für mich ist das Hauptthema der biblischen Sinfonie die Liebe Gottes zu allen Menschen. Das klingt schon in den ersten Takten an, die die Menschenwürde als Menschenrecht aller Menschen feiern. An zahllosen Stellen der biblischen Sinfonie wird dieses Thema aufgegriffen und weiterentwi­ckelt. Piano, crescendo oder forte. Als Jesus eine Skizze teilnehmender Nächstenliebe ent­wickelt, wählt er mit dem ,barmherzigen Sama­riter' einen Fremden als seinen maßgeblichen Protagonisten. In seiner Beispielerzählung sind es gerade nicht die religiösen Hochwürden, denen die unwürdige Situation nahe gehen würde. Vielmehr ist es der Ausländer aus Sama- 114rien, der einem Fremden zum Nächsten wird. Nächstenliebe wird auf den Ton von Fremden­liebe gestimmt. Jesus geht sogar einen Schritt weiter: in der Weltgerichtsszene wird die Zu­wendung zu Fremden zu einer schicksalhaften Begegnung. Jeh (selbst] bin ein Fremder ge­wesen und ihr habt mich aufgenommen', sagt Jesus, denn: ,Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan' (Mt 25,35.40). Es reicht also nicht, die biblische Sinfonie Note für Note zu sezie­ren. Es kommt darauf an, sich für die Melodie zu öffnen, die in ihr erklingt.” 5.Vorstellbar, dass die Geschichte hier schon zum Abschluss kommt. Rede. Widerspruch. Synthe­se. Mitte der Schrift. Oft wird sie tatsächlich bis zu dieser Stelle erzählt. Und es ist unabdingbar, sie so zu erzählen. Weil die große Narration des jüdischen und christlichen Glaubens tat­sächlich diesen cantus firmus hat.Aber ich will mir nicht vorstellen, hier schon das Finale zu setzen. Deshalb lasse ich auf meinem Symposion eine nächste Geschichte zu Wort kommen. Sie knüpft an die biblische Erzählung an, widmet sich jetzt in einer weiteren Sektion ihrem Hintergrund, ihrer Grundlage.„Ob Menschen mit ausländischen oder inlän­dischen Wurzeln", lasse ich meinen nächsten Redner einwerfen, „ob Menschen aus prekären oder etablierten Milieus: es geht doch stets um eine Begegnung zwischen Verschiedenen. Es geht darum, Anderen zu begegnen und in dieser Begegnung Unterschiedlichkeit zu re­spektieren und Gemeinschaft herzustellen. Genau eine solche Geschichte wechselseitiger Anerkennung erzählt die christliche Theologie auch von Gott selbst. Der eine Gott, der im Credo bekannt wird, ist ein Gott in drei Per­sonen. Als Schöpfer, Versöhner und Vollender stellt er selbst die Gemeinschaft dreier unter­schiedlicher personaler Seinsweisen dar. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat dies so zum Ausdruck gebracht: ,Die Trinität kann als Mo­dell einer Verschiedenheit betrachtet werden, die die Einheit nicht zerstört, und einer Einheit, die die Verschiedenheit nicht um der Einheit­lichkeit willen erstickt.'3 Auch in anderen Ent­würfen wird die Trinität in ganz ähnlicher Weise ,als urbildliche Darstellung und Verwirklichung wechselseitiger Anerkennung des Anderen in seinem jeweiligen Anderssein"4 charakteri­siert. Der innere Grund für die wertschätzende Begegnung mit Anderen, egal ob mit Flücht­lingen, Outsidern oder Etablierten, liegt darin, dass Gott selbst eine Gemeinschaft des aner­kannten Andersseins repräsentiert."3 Gemeinsam den einen Glauben bekennen: eine ökume­nische Auslegung des apostolischen Glaubens, wie er im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381) be­kannt wird; Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Paderborn 1991, 27, Nr. 20.4 Christine Axt-Piscalar, Trinitarische Entzauberung des patriarchalen Vatergottes. Eine Verständigung über die Be­deutung der Trinitätslehre als Beitrag zum Gespräch mit der feministischen Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 91. Jg. (1994), 476-486: 480.5 Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesell­schaft, Mainz5 1992, 95[Hinzufügung von mir; U.L.].6.Es ist gar nicht anders vorstellbar: Erfahrungen machen wir im Horizont von Geschichten, die sie verständlich machen. Wird unsere Erfah­rung in der Geschichte Gottes lesbar? Ver­mutlich braucht es noch weitere Geschichten, solche, die nicht nur davon erzählen, wie wir unsere Erfahrungen verstehen, sondern auch, wo wir sie miteinander teilen können. Zu fragen ist, wo wir mit unseren Erfahrungen hingehö­ren. Ich suche nach sozialen Entsprechungen zur Anerkennungsgeschichte Gottes. Deshalb stelle ich mir vor, dass die letzte Sektion des Symposions dem Thema der Kirche gilt. Von der „gefährlichefn] und befreiendefn] Erinne­rung"5 an Jesus Christus wird in dieser Sektion zu sprechen sein und wie in seiner Praxis die 115Anerkennungsgeschichte Gottes wirklich wird. Von der Gabe und Aufgabe wird zu reden sein, diesem emanzipatorischen Evangelium Stim­me zu verleihen. Jemand, so stelle ich mir vor, wird es als die Aufgabe der Kirche beschreiben, sich für eine „Kultur der Anerkennung der An­deren in ihrem Anderssein"6 einzusetzen und diese selbst zu leben. Selbstverständlich wird das Leiden an der realen Kirche thematisiert, die diese Anerkennungskultur viel zu häufig verdunkelt. Dennoch wird immer wieder, das kann ich mir gar nicht anders vorstellen, die Kirche als Vielfaltsgemeinschaft beschrieben: Ein Leib mit zahlreichen unterschiedlichen und doch stets begabten Gliedern. Eine Gemein­schaft der Teilhabe wie der Teilgabe. Sie grün­det in der Anerkennungsgeschichte Gottes und inspiriert zu wechselseitigen Anerken­nungsverhältnissen.6 Johann Baptist Metz, Exkurs: Erste Differenzierungen zu einer sozial geteilten und kulturell polyzentristischen Welt- Kirche, in: ders.. Zum Begriff der neuen Politischen Theolo­gie, Mainz 1997, 119-122: 120.7 Metz, Exkurs 121.7.„Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt." Unsere Erfahrung ist: Flüchtlinge leben unter uns. Leben wir mit ih­nen? Gehören sie zu uns und wir zu ihnen?Geschichten konstituieren Identität. Das gilt auch für akademische Narrationen. Sie leben von Rede und Widerspruch. Argumente wer­den vorgestellt und diskutiert. Dieser Diskurs ist nicht beliebig. Die Geschichte, in der ich reflektiert meine Erfahrungen lesen kann, lässt mich nicht mehr los. Sie erschließt mir, wo ich, wo wir hingehören. Für mich ist es die Ge­schichte eines Gottes, der in sich selbst Vielfalt repräsentiert, sich in Jesus von Nazareth mit Flüchtlingen solidarisiert und mit seinem Geist eine Gemeinschaft inspiriert, die sich von der „Option für die Anderen in ihrem Anderssein"7 leiten lässt. Welcher Titel könnte zu dieser Ge­schichte passen? Ich stelle mir vor: Unser Name sei Mensch.Anm.: Der vorliegende Text ist als Vortrag inner­halb des Symposiums „Kirche findet Stadt" aus Anlass des 800. Geburtstages der Kreuzkirche Dresden am 16.01.2016 gehalten worden. Ne­ben der ehs waren das Evangelische Institut an der TU Dresden, die Evangelische Hochschule Moritzburg und die Hochschule für Kirchenmu­sik an dem Symposium beteiligt. B116

Unser Name sei Mensch : theologische Impulse zur kirchlichen Arbeit mit Flüchtlingen

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