Eltrop, Bettina

Fischer, Irmtraud

Hecht, Anneliese

Publikationsserver der Universität Tübingen

Zum Thema Irmtraud Fischer Zweiklassengesellschaft Frauenleben i m  S piegel des  Alten Tes taments  Die Vorstellungen darüber, wie Frauen in alttestamentlicher Zeit lebten, ist bei heutigen Menschen häufig nicht so sehr vom Bibellesen be­stimmt, sondern viel mehr durch Bibelfilme und Bibelillustrationen: Im romantisierenden orientalischen Stil sollen schwarz gekleidete, verhüll­te Beduinenfrauen beim Brotbacken und Schafehüten die biblischen Frauengeschichten veranschaulichen. Was jedoch die Bibel selber über Frauenleben erzählt, ist viel bunter als diese stereotypen Bilder. Ehe: Die normale Lebensform für Frau und Mann Heiraten und Kinder zu bekommen war der vorgezeichnete Lebens­weg der Menschen in biblischer Zeit. Sexuelle Enthaltsamkeit kennt das AT nur zeitlich begrenzt, nicht aber als Lebensentscheidung. Für ein Single-Dasein gab es in alttestamentlichen Zeiten keinen gesell­schaftlichen Rahmen: Junge Männer und Frauen wurden bald nach der Geschlechtsreife von ihren Eltern verheiratet. Die von den Eltern ein­gefädelte Ehe war wohl - ähnlich wie in Europa bis ins vorige Jahr­hundert - der Normalfall. Aber es gab sicher auch die Möglichkeit von Liebesheiraten (vgl. Gen 29,18) und freier Partnerwahl. Die junge Frau zog mit der Eheschließung normalerweise in das Haus des Mannes, wodurch der Familie der Braut eine Arbeitskraft verlorenging. Der Bräutigam hatte daher einen Brautpreis an die Familie seiner Frau zu erstatten, der als eine Art Ausgleichszahlung zu verstehen ist und nicht als Hinweis auf den Kauf einer Frau. Kulturen mit einer gegenteiligen Regelung, die eine Mitgift von der Familie der Frau verlangen, damit sie überhaupt vom Mann geheiratet wird, lassen häufig auf einen geringe­ren Sozialstatus von Frauen schließen (vgl. die Mitgiftmorde im heuti­gen Indien). 9 Kinder: Die Freude der Eltern und deren Sozialversicherung Kinder waren in der Kultur Alt-Israels immer wJllkommen. Bedenkt man das damalige soziale Versorgungssystem, das wir heute noch in vielen Gesellschaften der Welt finden, so wird dies um so klarer: Es gab weder Kranken- noch Sozialversicherung. Wenn die Eltern alt oder krank geworden waren und sich selber durch ihrer Hände Arbeit nicht mehr erhalten konnten, hatten die Söhne für Vater und Mutter zu sor­gen (vgl. das 4. Gebot). Aus dieser sozialen Ordnung wird es verständ­lich, warum nach dem biblischen Befund auch für Frauen der Wunsch nach einem Sohn zentraler war als der Wunsch nach einer Tochter: Töchter verlassen mit der Heirat die eigene Familie. Sie versorgen da­her im Alter die Eltern des Ehemannes. Söhne jedoch bleiben in der Familie und sind für den Lebensunterhalt der eigenen Eltern verant­wortlich. Keinen Sohn zu haben, bedeutete daher damals soviel wie heute keine Sozialversicherung zu haben. Theologisch gesprochen sind Kinder ein realer Ausdruck des Segens Gottes (vgl. Gen 1,28). Jedes Kind ist ein Erweis dafür, daß Gott treu zur Volks- und Mehrungsver­heißung steht. Sexualität: Nicht bloß auf Kinder hingeordnet Dennoch läßt sich aus den alttestamentlichen Texten zeigen, daß das Eheleben nicht nur auf Kinder hingeordnet war. Sexualität genußvoll zu erfahren, wird als eigenständiger Wert wahrgenommen. Vor allem das Hohelied der Liebe, aber auch erzählende Texte (vgl. 1 Sam 1,8) und die Weisheit (vgl. Spr 5,15-20; Koh 9,9) wissen um die erotische Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern und fordern zum Genuß der körperlichen Liebe und zur sinnlichen Freude aneinander auf. Im Hohenlied ist an keiner einzigen Stelle ausdrücklich von Ehe und Nachkommenschaft die Rede. Was besungen wird, ist die Faszination der Liebe zwischen Frau und Mann, unabhängig von gesellschaftlichen Normen oder gar Sittsamkeitsvorstellungen bezüglich des weiblichen Geschlechts. Die junge Frau gibt ihrem Begehren ebenso Ausdruck wie der Mann. Sie beschreibt seinen ersehnten Körper genauso bildreich wie der Mann jenen seiner Geliebten. 10 Mißlingen der Geschlechterbeziehung: Streit und Gewalt Aber das Erste Testament weiß nicht nur von den Freuden der Liebe. Es ist auch in der Einschätzung mißlingender Beziehungen wirklich­keitsnah. Es weiß von mühsam gelebter Ehe, die in einem täglichen Kleinkrieg endet (vgl. Spr 19,13; 25,17; Sir 25,8-23), von unerwiderter Liebe (vgl. Gen 29,31ft; 2 Sam 3,16) und sogar brutaler Ausnutzung einseitiger Zuwendung (vgl. Gen 3,16) bis zu gewissenloser Preisgabe von Frauen und Vergewaltigung (vgl. Gen 12,lOff; 34; 2 Sam 13; Ri 19). Viele Frauen von heute sind schockiert, solche Geschichten und Aus­sagen in der Bibel zu finden, zumal Gewalttat an Frauen nicht immer eindeutig negativ gebrandmarkt wird. Aber das Alte Testament ver­schweigt eben keine Facette menschlichen Lebens und hält mit diesen Texten das Leidensgedächtnis von Frauen durch die Geschichte hin wach. Ein Verschweigen des bis in unsere heutige Zeit drängenden Pro­blems der strukturellen, physischen und psychischen Gewalt gegen Frauen würde Frauen ein weiteres Mal entrechten, weil es nicht nur das Unrecht unsichtbar machen würde, sondern auch den Tätern die Möglichkeit geben würde, sich aus der Verantwortung für ihre Verbre­chen zu stehlen. Frauenleben abseits der Norm: Mehrehe, Scheidung, Witwenschaft Die normale Eheform war wohl auch in biblischer Zeit die Monoga­mie, die Einehe. Aus den Textbefunden läßt sich jedoch auch die Mög­lichkeit der polygynen Ehe erheben: Während ein Mann gleichzeitig mehrere Frauen haben konnte, waren für eine verheiratete Frau ande­re Männer durch ein strenges Ehebruchsverbot tabu. Es gab jedoch die Möglichkeit der Scheidung. Ob diese auch von Frauen eingereicht wer­den konnte, ist fraglich (vgl. Ex 21,11; Dtn 24,lff). Hatte eine Geschie­dene eine Scheidungsurkunde, so war ihr eine neuerliche Ehe­schließung nach eigener Wahl freigestellt. Geschiedene und verwitwe­te Frauen hatten jedoch, wenn sie keine erwachsenen Söhne hatten, die für sie sorgen konnten, soziale Probleme: Nicht umsonst müssen die Armengesetze Witwen und Waisen schützen (Dtn 24,17ft). Denn das Erbrecht bevorzugte den erstgeborenen Sohn und ließ Töchter am Besitz des Vaters unbeteiligt. Töchter konnten nur ins Erbe des Vaters eintreten, wenn dieser keine Söhne hatte (vgl. Num 2 7; 36). Ob Ehe­frauen einen Erbanspruch hatten, ist unklar. Da Witwen häufig unter-11 stützt werden mußten, ist eher anzunehmen, daß sie beim Tod des Mannes leer ausgingen, wenn keine besondere Vereinbarung vorlag und der Verstorbene noch Brüder hatte, die das väterliche Erbe für sich beanspruchen konnten. Besonders isoliert waren wohl kinderlose Wit­wen, da sie in ihrer neuen Familie nach dem Tod des Mannes unver­ankert blieben. Die sogenannte Schwager-Ehe (Dtn 25,5ff) versucht in solchen Fällen die Witwe durch ein Kind, das der Bruder des Verstor­benen mit ihr zeugen soll, in der Familie zu halten. Zweiklassengesellscha#: Freie und unfreie Menschen im Patriarchat In Alt-Israel gab es - wie im christlichen Europa bis ins vorige Jahr­hundert - eine Zweiklassengesellschaft: Freie Frauen und Männer und unfreie Frauen und Männer. Die vollen Bürgerrechte standen - wie in Europa bis tief in unser Jahrhundert hinein - ausschließlich den freien, einheimischen Männern zu. Sie hatten Grundbesitz und bestimmten über die Belange der Öffentlichkeit. Nur sie waren voll rechtsfähig und konnten in der Ortsgerichtsbarkeit, deren Sitz das Stadttor war, auch Recht sprechen. Unfreie Männer sowie auch Fremdlinge waren von diesen Rechten ausgeschlossen. Unfreie Menschen, Knechte und Mäg­de, Sklaven und Sklavinnen, gehörten zum Besitz von freien Männern und Frauen und waren bis in ihre Sexualität hinein weisungsgebunden (vgl. Gen 16). Innerhalb dieser Zweiklassengesellschaft gab es jedoch noch eine weitere soziale Trennungslinie zwischen den Geschlechtern: Frauen stehen auf der sozialen Leiter des jeweiligen Standes unter ihren Männern oder Vätern. Eine freie Frau hatte weniger Rechte als ein freier Mann und eine Sklavin weniger als ein Sklave. Dennoch steht in der sozialen Hierarchie eine freie Frau über unfreien Männern. Patriarchat ist also nicht einfach als Männerherrschaft zu verstehen, sondern als hierarchisches Gesellschaftssystem, in dem nicht allen Männern gleiche Macht zusteht, aber Frauen aller Schichten im Ver­gleich zu den männlichen Familienmitgliedern benachteiligt werden. Arbeitsalltag und Arbeitsteilung in agrarischer Gesellschaft In der Gesellschaft Alt-Israels haben wir mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu rechnen. Verheiratete Frauen waren üblicherweise für das Haus zuständig. Kochen, Wasserholen, Brotbacken samt Ge-12 treidemahlen, Sauberhalten, Herstellung von Textilien und die Versor­gung der Kinder zählten zu ihren Aufgaben. Für unverheiratete Mädchen ist auch Hirtinnenarbeit bezeugt (vgl. Gen 29,6ff; Ex 2,16). Vor allem bei weniger wohlhabenden Kleinbauern wurde wohl auch die Männerarbeit am Feld und in den Weinbergen sowie die Versor­gung des Viehs von Frauen mitgetragen. Wer es sich leisten konnte, hatte Knechte und Mägde, die den Großteil der Arbeit leisteten. Auch bei diesen haben wir mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu rechnen (vgl. z.B. Rut 2). Wie wohlhabende Frauen in Alt-Israel leb­ten, können wir aus Spr 31,lOff, dem sogenannten „Lob der fähigen Frau", erschließen: Sie stehen einem landwirtschaftlichen Betrieb vor, erzeugen nicht nur Rohmaterialien und Textilien, sondern vertreiben diese auch im Handel. Wenngleich die Rechtstexte darüber schweigen, läßt der Text darauf schließen, daß Frauen sogar Grundstückskauf und Investitionen selbständig tätigten. Wenn man bedenkt, daß in Spr 31 die „Idealfrau" beschrieben wird, so haben wir damit zu rechnen, daß solche tatkräftigen Frauen mit Verfügungsgewalt selbst über Grundbe­sitz keine Ausnahmefälle waren. Frauen waren, wenn die wirtschaftli­chen Verhältnisse dies zuließen, in ihrer Arbeit also durchaus nicht nur auf Haus und Hof beschränkt. Frauen in Leitungsämtern und einflußreichen Positionen Einige wenige Texte berichten auch von Frauen, die öffentliche Ämter bekleideten. Da wir damit zu rechnen haben, daß ein Großteil der Bi­bel von Männern aus ihrem männlichen Blickwinkel verfaßt wurde, lassen solche Texte darauf schließen, daß es wesentlich mehr Frauen in öffentlichen Führungspositionen gab, als dies überliefert wurde. Von Debora (Ri 4-5) erfahren wir, daß sie die obersten Leitungsämter in Is­rael in sich vereinigte: Sie war Richterin und oberste Heerführerin in einem und regierte so den Stämmeverband. Ihr wird - wie Mirjam, die Israel mit Mose und Aaron zusammen aus Ägypten führte (Ex 15,20; Mi 6, 4), - der Titel „Prophetin" zuteil. Da uns nur Prophetenbücher überliefert sind, die Männern zugeschrieben werden, wird oft überse­hen, daß Israel auch auf Prophetinnen hörte und Gott sein Wort auch durch Frauen ausrichten ließ: Hulda wirkte gleichzeitig mit dem jun­gen Jeremia in Jerusalem. Als eine gewichtige Entscheidung ansteht, schickt der König seine obersten Beamten zur Prophetin und nicht zum Propheten (2 Kön 22,14ff). Sie trifft die Entscheidung über das ihr 13 vorgelegte Gesetzbuch und leitet damit große staats- und kultpolitische Reformen ein. Neben der judäischen Königin Atalja (2 Kön 11) und der einflußreichen Königin des Nordreiches Isebel (1 Kön 16,29-2 Kön 9) hatten auch die Mütter der Könige großen politischen Einfluß auf die Staatsgeschäfte. Von Batseba etwa wird erzählt, daß sie neben ihrem Sohn Salomo, der auf ihr Betreiben die Nachfolge König Davids an­treten konnte, auf einem Thron saß (2 Kön 2,19). Bei den beiden sa­genhaften Gestalten der Königin von Saba (1 Kön 10) und der Königin Ester heben die Erzählungen zudem deren Weisheit hervor. Aber wei­se Frauen gab es nicht nur am Königshof. Bei weisen Frauen holten sich der König und seine Beamten Rat. So stehen etwa in der Davids­geschichte zwei weise Frauen, die Frau aus Tekoa und die Frau aus Abel-Bet-Maacha (2 Sam 14; 20,14-22), neben den zwei weisen Män­nern Ahitofel und Huschai (2 Sam 15,12-17,23). Als Ratgeberinnen hatten diese Frauen ebenso politische Bedeutung wie die weisen Män­ner. Vor allem die Weisheitsliteratur preist die Weisheit der Frauen (Spr 14,1). Wenn für die Bildung der Kinder - und vor allem auch der Söh­ne - die Weisung der Mutter mit der· Erziehung des Vaters in einem Atemzug genannt wird (Spr 1,8; 6,20), so zeigt sich das Gewicht der mütterlichen Lehre: Sie ist nötig, um die Kinder lebenstauglich zu ma­chen und verwirklicht den in Dtn 6,6ff gegebenen religiösen Auftrag, die Kinder in die Lebens- und Glaubenstraditionen des Volkes einzu­führen. Nicht nur Hausmütterchen: Frauengeschichten als Volksgeschichte Die Gesellschaft Alt-Israels war patriarchal (wie unsere heutigen west­europäischen Gesellschaften auch noch in weiten Bereichen): Frauen hatten nicht die gleichen Möglichkeiten und Rechte wie die Männer, Gesellschaft, Religion und Kultur zu gestalten. Der Mann war in den meisten Bereichen des Lebens das Maß des Menschen. Die Wirklich­keit wird daher in vielen biblischen Texten gefiltert durch die männli­che Brille gesehen. Unter diesen Voraussetzungen überrascht es, daß die Ursprungs- und Glaubenstradition des Volkes nicht wie unsere christlich-europäische Geschichtsschreibung als Herrscher-, Priester­oder Kriegsgeschichte geschrieben wurde. Vor allem die Ursprungs­geschichte des Volkes (Gen 12-38) wird als Familiengeschichte ge­schrieben und damit auf weite Strecken auch als Frauengeschichte dar­gestellt. Die Mütter Israels und der Völker ringsum, Sara, Hagar, die 1 4  Töchter Lots, Ketura, Rebekka, Rahel, Lea, Silpa, Bilha und Tarnar sind in dieser Art der Geschichtsschreibung nicht bloß Ehefrauen und Müt­ter. Sie sind - wie ihre Männer - die Gründergestalten von Völkern. Auch die Anfangsgeschichte von Israels Königtum wird primär als Ge­schichte der Königsfamilien Sauls und Davids geschrieben und erzählt daher viel von Frauen. Wenn wir diese Geschichten lesen, müssen wir die politische Dimension der Erzählungen ernst nehmen - nicht nur bei den Erzählungen um die Männer, sondern auch bei jenen um die Frauen. Die vielen Geschichten, die uns Frauen häufig als Lehr­erzählungen hausfraulichen Daseins nahegebracht wurden, sind daher politisch zu lesen: Die Frauen verschwinden nicht im Grau der Ge­schichte. Sie tragen in der offiziellen Geschichtsschreibung Volks- und Glaubensgeschichte ebenso wie die Männer! LITERATUR Irmtraud Fischer, Gottesstreiterinnen, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1995. Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis ... Kaiser-Verlag, Mainz 1988. Luise Schottroff - Silvia Schroer - Marie-Theres Wacker, Feministische Exegese, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995. Luise Schottroff - Marie-Theres Wacker, Hg., Kompendium feministische Bibel­auslegung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998. 15 

Zweiklassengesellschaft : Frauenleben im Spiegel des Alten Testaments

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