Raumbezogene Identität als Faktor für eine nachhaltige Raumplanung

Abstract

Die vorliegende kumulative Dissertation widmet sich raumbezogener Identität. Es geht um die Frage, wie dieses Phänomen ein Faktor für eine Raumplanung sein kann, die das Prädikat „nachhaltig“ tragen soll. Auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche zu den Begriffen Raum, Landschaft und Identität wird zunächst ein Grundverständnis raumbezogener Identität hergeleitet. Demnach handelt es sich um einen Teilbereich individueller Identität, der an subjektive Raumrepräsentationen gebunden ist und sich in Vorstellungen persönlicher Zugehörigkeit sowie emotionalen Zuwendungen äußert (raumbezogene personale Identität). Raumbezogene Identität ist jedoch immer auch als ein kollektives Phänomen zu sehen. Aus dieser Perspektive ist es als gemeinschaftliches, diskursiv hergestelltes Wissen über räumliche Spezifik zu fassen, über das sich ein Sozialzusammenhang mit „seinem“ Raum verbindet. Dieses Wissen tritt Individuen als Identitätsangebot bzw. als gesellschaftlich vorgehaltenes Deutungsmuster gegenüber, zu dem sie sich positionieren können/müssen. In dieser komplexen Form verstanden, könne raumbezogene Identität – so zumindest lässt sich die wissenschaftliche Debatte zusammenfassen – in dreierlei Weise Beiträge zu Prozessen einer nachhaltigen Raumplanung leisten: • Als Kontextvariable, die ein vertieftes Problem- und Konfliktverständnis ermöglicht, • als aktivierendes Potential, das zum Erreichen einer hohen Akteursbeteiligung regelmäßig auf die inhaltliche Agenda gesetzt werden kann sowie • als Planungsobjekt, das es zu erhalten, in allen Teilräumen zu gewährleisten und integrativ zu berücksichtigen gilt. Vor diesem Hintergrund leitet sich eine Forschungslücke ab. Denn es zeigt sich auch, dass praktische Planer*innen raumbezogener Identität oftmals mit Skepsis oder einer nicht unproblematischen Komplexitätsreduktion begegnen. Kritikpunkte an der gegenwärtigen Forschung sind aus raumplanerischer Sicht, dass Fragen nach der räumlichen Dimension vernachlässigt werden. Denn identitätsstiftende Merkmale sowie die Verortungen und Abgrenzungen von Identitätsräumen werden nur selten thematisiert. Ebenso werden Kon- flikte im Zusammenhang mit raumbezogener Identität wenig reflektiert und empirisch untersucht. Überdies ist zu konstatieren, dass die akademische Literatur zwar Hinweise zur Nutzung raumbezogener Identität in der Raumplanung enthält, diese aber vielfach vage bleiben. Daher soll diese Arbeit einen Beitrag leisten, raumbezogene Identität operationalisierbar und somit für Planungsprozesse, die auf eine nachhaltige Raumentwicklung ausgerichtet sind, besser nutzbar zu machen. Dieser Anspruch lässt sich in mehrere Teilziele untergliedern: 1. Konzeptionell: Ableiten eines Verständnisses raumbezogener Identität, das theoretisch fundiert, hinsichtlich der räumlichen Dimension konkretisiert und somit in der Raumplanung anwendbar ist, 2. methodisch: Aufzeigen von Möglichkeiten zur Erfassung einer so verstandenen raumbezogenen Identität sowie 3. planungspraktisch: Darstellen von Möglichkeiten zum Einbinden raumbezogener Identität in die Raumplanung. Zum Erreichen der Untersuchungsziele werden die Ergebnisse von vier Fallstudien dargestellt. Die Fallstudiengebiete sind der Landkreis Lüchow-Dannenberg, Teile der Landkreise Ludwigslust-Parchim (Teilraum „Griese Gegend“) und Steinburg (Teilraum „Steinburger Elbmarschen“) sowie die Hansestadt Lübeck. Die sieben Fachbeiträge, die den Kern dieser Dissertation ausmachen, dokumentieren sowohl die empirischen Ergebnisse der Fallstudien wie auch den iterativ-zyklischen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Forschungsziele. In konzeptioneller Hinsicht wird das Grundverständnis raumbezogener Identität, bestehend aus einer personalen wie auch einer kollektiven Dimension, durch eine räumliche Dimension erweitert. Basierend auf unterschiedlichen theoretischen Annahmen wird in den Fachbeiträgen zunehmend deutlicher herausgestellt, wie eine solche Dimension konzeptionell zu fassen ist. Es handelt sich dabei um die Referenzpunkte, die als Raum bzw. Landschaft gedeutet werden und überdies als Projektionsfläche identitätsstiftender Zuschreibungen fungieren. Oder mit anderen Worten: Es sind diejenigen Merkmale eines Gesamtraumes, die zur Konstruktion individueller und kollektiver raumbezogener Identität herangezogen werden sowie die Verortungen der Gebiete, mit denen diese Merkmale assoziiert werden. Wie die Fallstudien zeigen, sind für Planende zum einen die Referenzpunkte und Identitätsräume selber interessant. Dies gilt insbesondere dann, wenn Individuen mit unterschiedlichen Denk- und Handlungslogiken sowie divergierenden sozialkulturellen Hintergründen sie als identitätsstiftend empfinden. Zum anderen werden die Bedeutungszuschreibungen zu einer relevanten Größe, wenn Widersprüche, Ambivalenzen und Konflikte sichtbar werden, die sich auf die gleichen Referenzpunkte beziehen. Insgesamt erwies sich dieser konzeptionelle Zugang als pragmatisch und dennoch in der Lage, tiefe Einblicke in die Strukturierung raumbezogener Identität innerhalb räumlich de- finierter Sozialzusammenhänge zu geben. Dies geht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einher, in der praktischen Raumplanung anwendbar zu sein. Auf Grundlage der konzeptionellen Erweiterung entwickelt diese Dissertation Methoden zur Analyse raumbezogener Identität über deren räumliche Dimension. Eine geeignete Erhebungsmethode stellen leitfadengestützte Interviews dar. In den vier Fallstudien berichten insgesamt 117 Interviewpartner*innen über „ihre“ Referenzpunkte raumbezogener Identität – also über Merkmale, die sie i.) als spezifisch verstehen, ii.) als Symbol räumlicher Zugehörigkeit deuten und iii.) emotional besetzen. In die Interviews lässt sich zudem ein Frageblock einbauen, in dem es um die Lage und Abgrenzung der jeweiligen Identitätsräume geht (was auch zeichnerisch erhoben werden kann). Anhand des so gewonnenen Datenmaterials werden unterschiedliche Auswertungsverfahren erprobt und sukzessive weiterentwickelt. Eine grundlegende Form der Datenauswertung besteht aus qualitativen Inhaltsanalysen, deren Ergebnisse Listen aller identitätsstiftenden Merkmale sind. An diese basale Auswertung sind weitere Analyseebenen anschlussfähig. Auf diesen lässt sich erstens der Frage nachgehen, welche Merkmale häufig in Beziehung zueinander dargestellt werden. Damit werden „geclusterte“ Referenzpunkte sichtbar. Zweitens können – in stärkerer Anlehnung an rekonstruktive Auswertungsverfahren – Brüche, Ambivalenzen, Widersprüche und Konflikte herausgearbeitet werden, die an bestimmten Referenzpunkten festgemacht werden. Drittens lassen sich die Identitätsräume in den Blick nehmen, die sozusagen als „Träger“ bestimmter Referenzpunkte gelten. Werden diese zeichnerisch erhoben, können mit Geographischen Informationssystemen Überlagerungsanalysen durchgeführt werden, die besonders relevante Identitätsräume sichtbar machen. Insgesamt präsentiert diese Dissertation somit nicht nur eine singuläre Methodik zur Analyse raumbezogener Identität. Stattdessen besteht das Ergebnis in einem flexiblen Methodenbündel, aus dem in Abhängigkeit der raumplanerischen Aufgabenstel- lung und räumlichen Ausgangslage ein angepasstes Methodendesign ableitbar ist. Bezüglich der planungspraktischen Einbindung raumbezogener Identität ergab sich ein breit gefächertes Feld an Empfehlungen. Die erarbeiteten Hinweise stellen Konkretisierungen der drei oben beschriebenen Möglichkeiten dar. Raumbezogene Identität kann als Kontextvariable in raumplanerische Überlegungen eingebunden werden, indem „Betroffenheiten“ von Referenzpunkten und Identitätsräumen durch vorhersehbare Entwicklungen ermittelt werden. Dies ist besonders dann möglich, wenn die Daten mit Geographischen Informationssystemen bearbeitet und mit anderen raumbezogenen Datensätzen verknüpft werden können. Auf dieser Grundlage lässt sich besser antizipieren, inwieweit räumliche Entwicklungen von Akteuren und der Öffentlichkeit als Bedrohung wahrgenommen werden, die sich in Verlustängste steigern können. Im Konfliktfall setzt dieses vertiefte Problemverständnis Raumplaner*innen in die Lage, frühzeitige und passgenaue Vermeidungs- und Mediationsstrategien durchzuführen. Kenntnisse über widersprüchlich besetzte Referenzpunkte tragen hingegen dazu bei, interne Identitätskonflikte besser zu verstehen und Lösungsansätze zu entwickeln. Eine Option liegt im Suchen nach sogenannten „Zwischenräumen“ – also Deutungen raumbezogener Identität, die i.) an vorhandene Referenzpunkte anknüpfen, ii.) allerdings nicht an die Extreme bestehender Widersprüchlichkeiten und die iii.) ggf. schon als „Sonderfälle“ existieren. Eine raumplanerische Fokussierung auf solche Referenzpunkte und Deutungen kann das Risiko offener Konflikte entschärfen, ohne jedoch mit einem thematischen und personellen Ausschluss einherzugehen, der wiederum eine nachhaltige Raumentwicklung blockieren könnte. Als aktivierendes Potential lassen sich Einblicke, wie sie in dieser Dissertation empirisch erhoben werden, nutzen, um die intrinsische Motivation von Akteuren und der Öffentlichkeit zur Beteiligung an Planungsprozessen zu erhöhen. Dies kann durch einseitige Kommunikation der öffentlichen Hand erfolgen. Letztere kann die Ankerpunkte raumbezogener Identität beständig thematisieren und über dieses kollektive Erinnern individuelle Lesarten raumbezogener Identität stärken. Ein regelmäßiges Thematisieren vermag wiederum die Teilnahmebereitschaft zu erhöhen. Möglichkeiten bieten sich etwa im Rahmen der Umweltbildung, durch Außen- und Selbstdarstellungen sowie durch das Bereitstellen neuer Dienstleistungen (z.B. im Tourismus und/oder durch das Anbieten von Apps zur besseren Erlebbarkeit entsprechender Merkmale). Überdies können Raumplaner*innen Möglichkeitsräume schaffen, die Akteuren und der Öffentlichkeit die Gelegenheit geben, räumliche Entwicklungen mit Einfluss auf konkrete Referenzpunkte oder Identitätsräume zu thematisieren. Dies kann in einseitiger Richtung erfolgen (Konsultation) aber auch als (zweiseitige) Diskussion mit Entscheidungsträger*innen und Raumplaner*innen ausgestaltet sein. Dementsprechend sind unterschiedliche Formate denkbar, die schriftliche Eingaben aber auch klassische Partizipationsmethoden umfassen können (z.B. runde Tische, Zukunftswerkstätten). Eine darüber hinausgehende Möglichkeit ist das Anbieten von Anreiz- und Unterstützungsstrukturen zur Durchführung koproduktiver Projekte mit Bezug zu Referenzpunkten bzw. Identitätsräumen. Bei der Entwicklung und Umsetzung solcher Projekte gibt die öffentliche Hand Entscheidungsvollmachten und Verantwortung an interessierte Einwohner*innen, Expert*innen und Funktionsträger*innen ab. Bei all diesen Formaten sind – so untermauern die empirischen Ergebnisse dieser Dissertation ganz klar – einheitliche Besetzungsmuster von Referenzpunkten und Identitätsräumen weder vorauszusetzen noch anzustreben. Schließlich kann raumbezogene Identität ein Planungsobjekt darstellen. Entsprechende Kenntnisse lassen sich in unterschiedliche Formate der informellen Raumplanung einbeziehen. Referenzpunkte raumbezogener Identität können z.B. in Konzepte zur integrierten ländlichen Entwicklung sowie in integrierte Stadtentwicklungskonzepte, regionale Entwicklungskonzepte oder Kreisentwicklungs- konzepte eingehen. Darin können sie als Stärke oder Schwäche des jeweiligen Bezugsraumes herausgestellt, in entsprechende Handlungsfelder und konsistente Entwicklungsziele überführt und mit unterschiedlichen teilräumlichen bzw. sektoralen Entwicklungen abgestimmt werden. Der Eingang in solche Dokumente kann eine Voraussetzung sein, um z.B. die Grundlagen raumbezogener Identität zu entwickeln. Denn die Referenzpunkte lassen sich dann als Bewertungsmaßstab potentieller Projekte nutzen, bei der Koordinierung finanzieller Mittel berücksichtigen sowie als ein wichtiger Orientierungspunkt der formellen Raumplanung darstellen. Während eine Verwendung in informellen Verfahren wegen der höheren Flexibilität zwar wahrscheinlicher ist, ist eine Nutzung in der formellen Raum- und Landschaftsplanung zumindest nicht ausgeschlossen. Möglichkeiten einer Berücksichtigung werden exemplarisch für Landschafts(rahmen)pläne, Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie die Eingriffsregelung diskutiert. Insgesamt belegt diese Dissertation, dass sich der Begriff der raumbezogenen Identität für die Raumplanung sinnvoll operationalisieren lässt, wenn er konzeptionell auf die räumliche Dimension zugespitzt wird. Dies erlaubt es, aus einem hier dargestellten Katalog unterschiedlicher Methoden ein Analysedesign zu erstellen, das situativen Erkenntnisinteressen und Rahmenbedingungen angepasst werden kann. Die mit diesen Methoden produzierten Daten weisen wiederum eine hohe Anschlussfähigkeit an die Denk- und Handlungsroutinen sowie die langjährig etablierten Instrumente der Landschafts- und Raumplanung auf. Somit kann es gelingen, raumbezogene Identität zu einem Faktor in der Raumplanung zu machen, der sich systematisch einbinden lässt. Dies trägt dazu bei, der Raumplanung eine breite Perspektivenvielfalt zu geben, durch die Nachhaltigkeit von einem theoretischen Leitbild zu einem tatsächlichen Prädikat räumlicher Entwicklung wird

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