Verschiedene onkologische und patientenbezogene Faktoren können Einfluss nehmen auf die Wahl der Harnableitung nach radikaler Zystektomie bei invasiven Harnblasenkarzinom. Die orthotope Neoblase unter Verwendung von terminalem Ileum stellt die am häufigsten vorgenommene Harnableitungsform in nationalen und internationalen klinischen Zentren dar. Es gibt zahlreiche technische Variationen einer ilealen Neoblase, die in einem Versuch, eine perfekte Lösung für eine orthotopen Harnableitung zu erreichen, entwickelt worden sind. Eine neu entwickelte Neoblasenform stellt der sogenannte I-Pouch dar, der in der Klinik für Urologie des Universitätsklinikum Tübingen praktiziert wird. In dieser Arbeit möchten wir über die perioperativen, funktionellen und onkologischen Langzeitergebnisse berichten.
In dieser Studie konnten retrospektiv insgesamt 97 Patienten identifiziert werden, die sich einer radikalen Zystektomie mit I-Pouch Neoblasenanlage zwischen April 2002 und August 2011 unterzogen hatten. Für die Durchführung der Studie wurde ein positives Votum (Nr. 063/2012BO2) der Ethikkommission Tübingen eingeholt. Für die Erfassung der postoperativen Komplikationen wurde ein spezielles Bewertungssystem (Clavien-Klassifikation) verwendet, um den Schweregrad der Komplikation exakter zu kategorisieren und mit den Ergebnissen in der Literatur besser vergleichen zu können. Der postoperative Nachbeobachtungszeitraum lag bei etwa 41 Monaten. Das Vorhandensein eines urethralen, lokalen und distanten Rezidivs wurden ebenfalls erfasst. Alle zum Zeitpunkt der Analyse noch lebenden Patienten wurden telefonisch kontaktiert und gefragt, an einer Fragebogenstudie teilzunehmen, die als Ziel die Erfassung der postoperativen Lebensqualität hatte. Ein vollständig ausgefüllter Fragebogen wurde von 33 der 48 telefonisch kontaktierbaren Patienten zurückgesandt (Rücklaufquote: 69%). Die verwendeten Fragebögen waren der SF-36 als allgemeiner und der QLQ-C30 Version 3 als krebsspezifischer Fragebogen, wobei für beide Fragebögen ein Wert von 0 einen extrem schlechten und ein Wert von 100 einen exzellenten Zustand beschreibt. Als blasenkarzinomspezifischer Fragebogen wurde der QLQ-BLM30 eingesetzt, wobei im Rahmen der Auswertung ein Wert von 0 eine völlige Abwesenheit von Beschwerden und ein Wert von 100 maximal ausgeprägte Beschwerden beschreibt. Weiterhin wurden 5 Fragen des Gastrointestinal Quality of life Index (GIQLI) zur Beurteilung der Veränderung von Stuhlgewohnheiten den Patienten gestellt, wobei ein Wert von 0 keine Veränderung und ein Wert von 10 eine vollständige Veränderung der Stuhlgewohnheiten nach der Operation beschreibt. Ferner wurde ein durch unsere Klinik selbst entwickelter Fragebogen eingesetzt, um auf spezifische Lebensqualitätsaspekte näher einzugehen, die möglicherweise durch die anderen Fragebögen als fehlend oder zu ungenau erfasst angesehen wurden. Daneben erklärten sich nach Beratung und Aufklärung 10 Patienten bereit, im Rahmen der allgemeinen funktionellen Nachsorgeuntersuchung eine urodynamische Studie vornehmen zu lassen, um eine bessere Objektivierung der postoperativen funktionellen Parameter zu erzielen. Dazu zählten die Messung der zystometrischen Kapazität des Reservoirs, intraluminaler Druckänderungen während der Füllungs- und Entleerungsphase, der Harnflussrate, des urethralen Verschlussdruckes und des Restharnvolumen.
Das 5-Jahres krebsspezifische Überleben betrug 67.9% und die urethrale Rezidivrate lag bei 3.1%. Die ureterointestinale Stenoserate mit offen-operativer Revisionspflichtigkeit lag bei 2.1%, wobei die Refluxrate 1.0% betrug. Die Rate des postoperativen intermittierenden sterilen Einmalkatheterismus lag bei 2.1%. Die mittlere Neoblasenkapazität betrug 400ml (150-500) und der mittlere postoperative Restharn 20ml (Wertebereich: 0-200). Die mediane Anzahl an postoperativen Harnwegsinfekten betrug 0 (Wertebereich: 0-2). Postoperative Komplikationen traten bei insgesamt 39.2% der Fälle auf, wobei die Rate an leichtgradigen und schwerwiegenden Komplikationen jeweils 23.7% und 15.5% betrug. Die Rate an neoblasenassoziierten major-Komplikationen war bezogen auf das Gesamtkollektiv bei 7.2%. Der mediane QLQ-C30 Punktewert lag sowohl für die allgemeine Erfassung des Gesundheitszustandes als auch für die Lebensqualität bei 83 (Wertebereich: 17-100 bzw. 33-100). Der mediane QLQ-BLM30 Punktewert für das Vorliegen postoperativer Miktionsbeschwerden lag bei 29 (0-86). Für den SF36 lagen die Werte im Median bei etwa 78. Von den 33 befragten Patienten berichteten 21 (64%) sexuell noch aktiv zu sein. Für den GIQLI lag der mediane Wert bei 0 (1-10). Eine Vitamin-B12 Supplementierung war bei 3% und eine orale Bikarbonatsubstitution zum Ausgleich des venösen Säure-Basen-Haushaltes bei 39% der Patienten erforderlich. Die mediane Anzahl an verwendeten Urinvorlagen lag tagsüber bei 1.1 ± 1.3 und nachts bei 1.1 ± 0.8. Die zystometrische Neoblasenkapazität (Mittelwert ± SEM) lag bei den 10 urodynamisch untersuchten Patienten bei 445 ± 89 ml. Der intraneovesikale Druck lag bei maximaler Füllung bei 19 ± 7.9 cmH2O und bei Entleerung bei 73.9 ± 25.8 cmH2O. Der maximale urethrale Verschlussdruck lag bei 60.3 ± 36.5 cmH2O.
Zusammenfassen lässt sich somit feststellen, dass es postoperativ in der Mehrzahl der Patienten nicht zu einer höheren Obstruktionsrate der oberen Harnwege postoperativ kam obwohl eine antirefluxive Technik zur Implantation der Harnleiter eingesetzt wurde, und diese einen sicheren Refluxschutz bei der großen Mehrzahl der Patienten gewährleistete. Zudem blieben die Serumkreatininwerte insgesamt postoperativ stabil. Die urethrale Rezidivrate war mit 3% niedrig und das krebsspezifische Überleben mit etwa 68% mit anderen onkologischen Langzeitserien in der Literatur vergleichbar. Die postoperativen major-Komplikationsraten sind mit etwa 16% verglichen zu anderen Neoblasenserien in der Literatur als niedrig anzusehen. Die Lebensqualität von Patienten mit I-Pouch ist gut, erreicht in einigen Fällen sogar Werte in der gesunden Normalbevölkerung. Auffallend war in der Befragung eine tendienziell niedrige Kontinenzrate tagsüber im Vergleich zu nachts, wobei dieser Umstand jedoch nicht durch eine geringere Kapazität der I-Pouch Neoblase erklärt werden kann. Die Stuhlgewohnheiten bei Patienten mit I-Pouch waren postoperativ nicht betroffen. Die sexuelle Funktion konnte in etwa zwei Drittel der Patienten nach der Operation erhalten werden, was wiederum als vergleichweise hoch betrachtet werden kann. Limitationen der Studie stellt neben dem retrospektiven Studiendesign die relativ niedrige Fallzahl der eingeschlossenen Patienten dar. Schlussfolgernd lässt sich aus den Ergebnissen der vorliegenden Studie ableiten, dass die perioperativen, onkologischen und funktionellen Ergebnisse des I-Pouches mit denen etablierten Techniken wie des Studer-, Hautmann-, Mansoura- und T-Pouches vergleichbar sind.
Die Vorteile des I-Pouches sind, dass lediglich 40 cm terminalen Ileums zur Herstellung des Reservoirs verwendet werden ohne negative Auswirkungen auf die endgültige Kapazität des Pouchs zu haben und dass die ureterale Implantationsstelle an der dorsalen Neoblasenwand eine Instrumentation des oberen Harntraktes im Rahmen der Nachsorge leichter ermöglicht