Abstract

Anlass des Bandes ist das Centenarium von Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" (1912), in der Gustav von Aschenbach als ein der historischen Wissenschaft verpflichteter Schriftsteller in unsicheres Terrain jenseits rationaler Begrifflichkeit gerät, ins Sehnsuchtsland der Liebe und des Schönen, und schließlich in einen Grenzbereich, in dem alles Gestaltete ins Gestaltlose und schließlich in den Tod übergeht. Venedig um 1900, die auf Wasser gebaute, einstige Seerepublik in politischer Dekadenz ist nicht zufällig dafür topisch, und Aschenbach mit seinen ethischen, ästhetischen und epistemologischen Erschütterungen in Venedig nicht allein. Venedig prägte seine eigene Moderne aus und wurde als physisch erlebter wie imaginier­ter Ort für Dichter, Maler und Musiker zum Spiegel der Krisenerfahrungen um 1900. Anders gesagt: Die Stadt fungierte als Seismograph, mit dem sich der Verlust metaphysischer Gewissheiten, der Verlust des Vertrauens in die Evidenz des Wissens, in die Einheit der Person und der Zuverlässigkeit der Sprache aufzeichnen ließ. Die Unbestimmtheit, der Kontrollverlust, die der Lagu­nenstadt eigene Bewegung ›auf schwankendem Grund‹ wird bei Thomas Mann und seinen Zeitgenossen zum Motor der Kreativität

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