Radaj, Dieter

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LANDBAUFORSCHUNG VÖLKENRODE, 14. JAHRGANG (1964). HEFT 1, SEITE 39-40 Die heutige Stellung von Beobachtung, Experiment und Theorie in der technischen Elastomechanik DIETER RADAJ Institut für landtechnische Grundlagenforschung t) In allen Disziplinen der Physik lassen sich im allgemeinen drei Stufen der Entwicklung fest-stellen. Die erste Stufe ist die Beobachtung der in der Natur ohne Einwirkung durch den Menschen ablaufenden Vorgänge mit dem Ziel, Gesetzmäßig-keiten aufzufinden. Die zweite Stufe ist das Ex-periment, die Beobachtung künstlich hervorgeru-fener, unter vereinfachten Bedingungen ablaufen-der Vorgänge ebenfalls mit dem Ziel, durch diese ,,Frage an die Natur" Gesetzmäßigkeiten aufzu-finden. Die dritte Stufe ist die Theorie, durch die das meist unübersehbar große experimentelle Tat-sachenmaterial sich ordnet und noch nicht beob-achtetes Tatsachenmaterial vorhergesagt werden kann. Eine der wichtigsten Aufgaben der Theorie ist es, komplizierte Gesetzmäßigkeiten auf ein-fachere Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Auch innerhalb der Elastomechanik2) läßt sich der aufge-zeichnete Weg unschwer verfolgen. Im folgenden wird versucht, die heutige Stellung von Beobach-tung, Experiment und Theorie innerhalb der t e c h n i s c h e n Elastomechanik zu umreißen. Die Beschränkung auf die t e c h n i s c h e Elasto-mechanik besagt, daß nur jenes Teilgebiet der Elastomechanik betrachtet wird, welches sich mit der Anwendung erkannter oder erst zu er-kennender Gesetzmäßigkeiten befaßt. Heute können die Spannungen, Verzerrungen und Verschiebungen technischer Baukörper sowohl im Rahmen einer reinen Beobachtung oder eines Experimentes gemessen oder über eine Theorie, die in vieler Hinsicht schon ihr endgültiges Gesicht erhalten hat, errechnet werden. Beide Verfahrens-weisen haben zunächst schwerwiegende Nachteile. Die Beobachtung und das Experiment gelten immer nur für den betrachteten Einzelfall oder die be-trachtete kleine Zahl von Fällen, die Messung ist im allgemeinen nur an der Bauteiloberfläche mög-lich, die Ungenauig~eiten in den Versuchsbedin-gungen lassen sich nur sehr schwer klein halten, durch Messung ermitteltes Tatsachenmaterial wächst rasch an und ist dann nicht mehr über-schaubar. Die Nachteile der Theorie der Elasto-mechanik (,,Elastizitätstheorie") liegen in der Tat-sache, daß die allgemeine Theorie bei der Anwen-dung in vieler Hinsicht vereinfacht wird, um die Lösbarkeit des mathematisch formulierten Pro-blems sicherzustellen, so daß die theoretische Be-handlung eines Problems an eine ganze Reihe von Voraussetzungen gebunden ist. Daraus ist ersicht-lich, daß nur die enge Verbindung von Beobach-tung, Experiment und Theorie die Grundlage der technischen Elastomechanik bilden kann. Die reine Beobachtung umfaßt innerhalb der technischen Elastomechanik die Messung der in technischen Bauteilen im Betrieb auftretenden Spannungen, Verzerrungen und Verschiebungen. Es handelt sich in diesem Fall also nicht um die oben erwähnte Beobachtung der in der Natur ohne Einwirkung des Menschen ablaufenden Vorgänge, sondern um die Beobachtung der in den vom Men-schen geschaffenen technischen Gebilden, ohne wei-tere Einwirkung des Menschen ablaufenden Vor-gänge. Da die Gesetzmäßigkeiten der Elasto-mechanik sehr verwickelt sind, werden sie auf die-sem Wege im allgemeinen nicht erkannt. Trotzdem hat die reine Beobachtung gerade innerhalb der technischen Elastomechanik insofern große Bedeu-tung, als die Ergebnisse experimentell oder theo-retisch durchgeführter Untersuchungen, denen ver-einfachte Bedingungen zugrunde liegen, auf die verwickelteren Verhältnisse der Praxis angewen-det werden. Beim Einsatz von Experiment und Theorie sind innerhalb der technischen Elastomechanik zwei grundsätzlich verschiedene Verfahrensweisen mög-lich. Auf der einen Seite wird vom Experiment aus-gegangen, wobei allgemeine Gesetzmäßigkeiten nur dann erkannt werden können, wenn von vorn-herein eine große Zahl von Einzelexperimenten hohe Meßgenauigkeit und einwandfreie Versuchs-durchführung gewährleistet sind. Die allgemeinen Ergebnisse der Theorie ermöglichen es dabei, die wesentlichen Variablen und ihre Grenzwerte vor-herzusehen; die Stufung dieser Variablen sinnvoll vorzunehmen, Modellgesetze anzuwenden und da-durch die Zahl der notwendigen Einzelexperimente in erträglichem Rahmen zu halten. Die TheQrie bildet außerdem eine wesentliche Grundlage des Experimentes insofern, als nur Verschiebungen und Verzerrungen gemessen, die Spannungen aber unter Verwendung eines experimentell bestimm-baren Elastizitätsgesetzes errechnet w erden. Zum anderen wird von der Theorie der Elasto-mechanik (,,Elastizitätstheorie" ) ausgegangen, wo-bei deren Voraussetzungen und die Gültigkeit der für die Anwendung der Theorie notwendigen Zu-satzannahmen experimentell nachzuprüfen sind. Bekanntlich stößt die allgemeine nichtlineare ') Forschungsgruppe für Spannung und Konstruktion. Lei-ter : Professor Dr.-Ing. Dr. agr. h. c . W. KLoTH. ' ) Elastomechanik ist die L ehre von de n Spannungen, Ve r -zerrungen und Verschiebunge n in e lastisch deformi erbaren Körpern. RADAJ: DIE HEUTIGE STELLUNG VON BEOBACHTUNG, EXPERIMENT UND THEORIE .. . Elastizitätstheorie bei der Anwendung auf nahezu unüberwindbare mathematische Schwierigkeiten. Durch verschiedene vereinfachende Annahmen konnten aber Elastizitätstheorien entwickelt wer-den, deren Anwendung mathematisch möglich ist. So wird im allgemeinen Isotropie und Homogenität des verwendeten Werkstoffes vorausgesetzt. Tech-nisch wichtige Ausnahmen sind das orthotrope Werk-stoffverhalten und das Werkstoffverhalten bei sehr steilen Spannungsanstiegen, also am Grunde stark gekrümmter Kerben oder Spitzkerben. Weiterhin wird häufig angenommen, daß die Verzerrungen sehr klein und höhere Potenzen der Verzerrungs-größen gegenüber linearen Gliedern vernachlässig-bar sind, daß die Verschiebungen gegenüber den Körperabmessungen sehr klein und die Spannun-gen und Verzerrungen auf den unverformten Kör-per zu beziehen sind und daß schließlich auch bei endlichen Spannungen der Zusammenhang zwi-schen Spannung und Verzerrung streng linear ist. All diese Annahmen führen zu der klassischen linearen Ela'stizitätstheorie, deren Anwendung noch die verhältnismäßig geringsten Schwierigkei-ten macht. Folgende komplizierteren Theorien sind notwendig, wenn eine oder zwei der angegebenen drei Bedingungen nicht erfüllt werden. Sind die Verzerrungen und damit auch die Verschiebungen groß, dann sind Spannungen und Verzerrungen auf den verformten Körper unter Verwendung eines entsprechend verallgemeinerten HooKEschen Geset-zes zu beziehen, es ergibt sich eine „Elastizitäts-theorie der endlichen Verzerrungen". Sind die Ver-schiebungen und Verschiebungsableitungen bei 40 kleinen Verzerrungen groß, dann sind lediglich die Spannungen auf den verformten Körper zu bezie-hen. Zu dieser „Elastizitätstheorie der endlichen Verschiebungen" gehören die Stabilitätsprobleme und die Elastika-Probleme ebenso wie die Theorie zweiter Ordnung der Baustatik. Auch bei stark ge-krümmten Kerben kann der Einfluß der Verschie-bungen m erklich sein. Liegt ein streng lineares Elastizitätsgesetz nicht vor, dann ist eine „Elastizi-tätstheorie mit nichtlinearem Elastizitätsgesetz·' anzuwenden. Das plastische Werkstoffverhalten läßt _sich z. T. durch ein derartiges nichtlineares ,,Elastizitätsgesetz" darstellen. Bei sämtlichen ge-nannten Theorien wird unterschieden zwischen Problemen, bei denen Volumkräfte eine wesent-liche Rolle spielen und solchen, bei denen die Vo-1 umkräfte vernachlässigt werden können. Welche der genannten Theorien anzuwenden sind und wel-che Zusatzannahmen bei der Anwendung der Theorien möglich sind, ist auf Grund des Experi-mentes zu entscheiden. Besondere Bedeutung kommt dabei der experimentellen Bestimmung des Elastizitätsgesetzes zu. Die enge Zugehörigkeit von Experiment und Theorie innerhalb der technischen Elastomechanik ist besonders bei der Forschung auf diesem Gebiet zu beachten. Nur · so werden echte Fortschritte auf diesem Gebiet ermöglicht. Verfasser: Radaj, Dieter, Dr.-Ing., wiss. Mitarbeiter der Forschungsgruppe für Spannung und Konstruktion im Institut für landtechnische Grundlagenforschung. LANDBAUFORSCHUNG VÖLKENRODE 14 (1964) H. 1 

Die heutige Stellung von Beobachtung, Experiment und Theorie in der technischen Elastomechanik

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