Einfluss der Verordnung potentiell inadäquater Wirkstoffe gemäß der PRISCUS-Liste auf das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen

Abstract

Einleitung: Aufgrund veränderter physiologischer Funktionen und einer damit einhergehenden veränderten Verträglichkeit von Arzneimitteln, sowie Multimorbidität und einer daraus resultierenden Polypharmazie, stellt der geriatrische Patient eine therapeutische Herausforderung dar. Diese Gegebenheiten führen dazu, dass ältere Patienten ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) haben. Eine Zusammenstellung von Wirkstoffen, die auf Grund ihres vermehrten Auftretens von UAW als potentiell inadäquat für den Patienten ab einem Alter von 65 Jahren gelten, stellt die 2010 veröffentlichte PRISCUS-Liste dar. Anhand der PRISCUS-Liste wurden in dieser Arbeit potentiell inadäquate Wirkstoffe (PIW) identifiziert und auf ihre Auswirkungen hinsichtlich des Auftretens von UAW untersucht. Methode: In dieser Anwendungsbeobachtung, die im Rahmen einer nicht-interventionellen Kohortenstudie durchgeführt wurde, wurden die Daten gerontopsychiatrischer Patienten des Bezirksklinikums in Regensburg im Zeitraum zwischen Februar 2014 und April 2016 erhoben. Die Medikation und der klinische Verlauf der Patienten wurden während ihres gesamten stationären Aufenthaltes in wöchentlichen Abständen erhoben. Anhand der Dokumentation des medizinischen Personals wurde nach Symptomen, die im Zusammenhang mit der verordneten Medikation stehen, gesucht. Die Plausibilität und Kausalität des Zusammenhangs zwischen Medikation und Auftreten von UAW wurde in Fallkonferenzen mit drei Doktorandinnen (zwei Studentinnen der Humanmedizin, eine approbierte Apothekerin), einem klinischen Pharmakologen und einer Fachärztin für Pharmakologie und Toxikologie überprüft. Anschließend erfolgte eine statistische Auswertung der erhobenen Daten und UAW. Ergebnisse: Die Studienpopulation bestand aus 304 Patienten, darunter 57,6% Frauen. Das durchschnittliche Alter der Studienpopulation lag bei 77,9 +/- 7,1 Jahren. Die durchschnittliche stationäre Aufenthaltsdauer der Patienten betrug 20,9 +/- 12,1 Tage. Über die Hälfte der Patienten (51,6%) waren demenzkrank. Bei 43,1% der Patienten lag eine affektive Störung, bei 17,5% der Patienten eine Substanzmissbrauch/-abhängigkeit und bei 11,5% der Patienten eine Schizophrenie vor. Bei etwas mehr als der Hälfte der Patienten (165 von 304 Patienten; 54,3%) lag nur eine psychiatrische Diagnose vor, während bei 130 Patienten (42.8%) mindestens zwei psychiatrische Diagnosen vorlagen. Vor ihrer stationären Aufnahme erhielten 29,9% der Patienten mindestens einen PIW. Risikofaktoren für die Verordnung von PIW vor Aufnahme waren: Schizophrenie (OR = 4,793, p < 0,001), Substanzmissbrauch/-abhängigkeit (OR = 2,420, p = 0,011) sowie die Gesamtzahl der vorordneten Wirkstoffe (OR = 1,142, p = 0,001 pro verordnetem Wirkstoff). Das Vorliegen einer Demenz galt dahingegen als protektiver Faktor (OR = 0,381, p = 0,002). Insgesamt lagen 117 PIW-Verordnungen vor. Am häufigsten wurden die Wirkstoffe Doxepin (18 Verordnungen), Haloperidol und Amitriptylin (jeweils 9 Verordnungen), Olanzapin (8 Verordnungen) und Trimipramin (6 Verordnungen) verordnet. Bei Entlassung lag die Verordnungsprävalenz von PIW bei 22,0%. Dies entspricht einer statistisch signifikanten Senkung der PIW-Verordnungsprävalenz gegenüber dem Zeitpunkt der Aufnahme um 26%. Die Risikofaktoren für mindestens eine PIW-Verordnung bei Entlassung waren: Schizophrenie (OR = 6,111, p < 0,001) und steigende Anzahl an verordneten Wirkstoffen (OR = 1,169, p = 0,001 pro verordneten Wirkstoff). Demenz war weiterhin ein protektiver Faktor (OR = 0,487, p = 0,042). Vermehrt wurden von den behandelnden Ärzten auf das Alter der Patienten geachtet: Pro steigendes Lebensjahr sank das Risiko einen PIW zu erhalten um 7,4% (OR = 0,926, p = 0,003). Insgesamt lagen bei Entlassung 82 PIW-Verordnungen vor, worunter am häufigsten Haloperidol (20 Verordnungen) und Doxepin (16 Verordnungen) verordnet wurden. Prästationär und während des stationären Aufenthaltes wurden insgesamt 468 UAW beobachtet, worunter 171 der Fälle unter Mitwirkung von mindestens einem PIW auftraten. Am häufigsten wurden unerwünschte psychiatrische Symptome – vor allem übermäßige Sedierung/Müdigkeit/Überhang, Substanzmissbrauch/-abhängigkeit und kognitive Verschlechterung/Verwirrtheit – unter PIW-Beteiligung beobachtet (69 Fälle). Zum Auftreten dieser Symptome führten vor allem stark anticholinerg wirksame Wirkstoffe wie Doxepin, sowie Benzodiazepine und andere Sedativa. Am zweithäufigsten traten UAW mit neurologischen Symptomen auf (32 Fälle). Primäre UAW war hier das Auftreten von extrapyramidalmotorische Störungen (18 Fälle), die am häufigsten durch den PIW Haloperidol mitverursacht wurden. UAW, die sich im Auftreten von peripheren anticholinergen Symptomen (u.a. Obstipation, Mundtrockenheit, Tachykardie) präsentierten, traten ebenfalls vermehrt bei mit PIW behandelten Patienten auf. Von großer Bedeutung waren zudem Stürze. Bei 21 Patienten wurden Stürze mit Beteiligung von PIW beobachtet, die verschiedenen Ursachen wie Hypotonie, Müdigkeit/Sedierung, Gangunsicherheit hatten, oder auch unklarer bzw. multifaktorieller Genese waren. Eine multivariate Risikofaktorenanalyse zeigte, dass Patienten, die mindestens einen PIW erhielten ein 5-fach erhöhtes Risiko hatten mindestens eine UAW zu erleiden (OR = 5,018, p < 0,001). Das Risiko eine UAW zu erleiden hing zusätzlich von der Anzahl der verordneten PIW ab. Erhielt der Patient einen PIW, so war sein Risiko eine UAW zu erleiden 4-fach erhöht (OR = 3,994, p = 0,004). Erhielt der Patient zwei oder mehr PIW, so stieg das Risiko um fast das 6-fache an (OR = 5,825, p < 0,001). Das Risiko für das Auftreten von UAW war auch von der Gesamtzahl der verordneten Wirkstoffe abhängig. Jeder verabreichte Wirkstoff erhöhte das UAW-Risiko um ca. 9% (OR = 1,092, p = 0,040). Insgesamt erhielten 45,0% (137 von 304) der Patienten zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen Aufnahme und Entlassung mindestens einen PIW. Unter diesen erlitten 69,3% (95 von 137) der Patienten mindestens eine UAW mit PIW-Beteiligung. Weitere 19,0% (26 von 137) dieser Patienten erlitten UAW, an denen keine PIW kausal beteiligt waren und nur 11,7% dieser mit PIW behandelten Patienten erlitten während des Beobachtungszeitraums gar keine UAW. Das bedeutet, dass von den 121 Patienten, die PIW bekamen, 78,5% der Patienten (95 von 121 mit PIW-behandelten Patienten) mindestens eine UAW erlitten, die mit den verordneten potentiell inadäquaten Wirkstoffen im kausalen Zusammenhang stand. Abschließend wurde analysiert, welche Faktoren einen Einfluss auf die Länge des stationären Aufenthaltes hatten. Im Durchschnitt war ein Patient mit mindestens einer UAW fünf Tage länger (23,0 +/- 16,7 Tage, p = 0,017) in stationärer Behandlung als ein Patient, der keine UAW erlitt (18,0 +/- 15,4 Tage, p = 0,017). Schlussfolgerungen: In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass die Wirkstoffe, die gemäß der PRISCUS-Liste als „potentiell inadäquat“ bezeichnet werden, mit einem höheren Risiko für das Auftreten von UAW assoziiert sein können. Das vermehrte Auftreten von UAW kann in Zusammenhang mit einem längeren Krankenhausaufenthalt gebracht werden. Die Bewertung der jeweiligen UAW, an denen PIW kausal beteiligt waren, entspricht nicht immer den in der PRISCUS-Liste aufgeführten Begründungen für den jeweiligen Wirkstoff. In 63,1% der Fälle der UAW mit PIW-Beteiligung wurde das aufgetretene Symptom in der PRISCUS-Liste genannt. So hat die PRISCUS-Liste durchaus einen Nutzen, UAW unter Verordnung von PIW „vorherzusehen.“ Es ist nicht sinnvoll, alle Wirkstoffe, die in der PRISCUS-Liste genannt werden, gänzlich zu vermeiden. Im Mittelpunkt einer erfolgreichen Arzneimitteltherapie stehen weiterhin der Patient und seine individuellen Bedürfnisse. Vielmehr wäre es wünschenswert, bei diesen Wirkstoffen eine gründliche Risiko-Nutzen-Abwägung durchzuführen ehe sie angewandt werden, sowie eine vermehrte Aufmerksamkeit für eventuell auftretende Komplikationen zu entwickeln

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