Vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden Klimawandels und eines wachsenden gesellschaftli-chen Verständnisses, dass etablierte Lebensweisen schwerwiegende soziale und ökologische Krisen hervorrufen, erfährt die Idee der „Transformation“ zunehmend Aufmerksamkeit in Wissenschaft, Wirt‐schaft und Gesellschaft. Gerade im Bereich Mobilität wird die Notwendigkeit einer grundlegenden und schnellen Kehrtwende zunehmend kontrovers diskutiert. Automobilproduktion und -nutzung sind da-bei Paradebeispiele für nicht-nachhaltige Praktiken und Lebensweisen. Debatten um eine tiefgreifende Transformation der deutschen Automobilindustrie nehmen deshalb vermehrt Fahrt auf.
Die vorliegende Arbeit widmet sich der sozialwissenschaftlichen Erforschung mobiler Lebensweisen, mit einem explizit kultursensitiven Blick auf den Wandel der Automobilproduktion in Süddeutschland und der damit verknüpften Transformation der Mobilität. Sie leistet somit einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis regionaler Mobilitätskulturen als Mobilitätskulturlandschaften. Dabei steht die Stabilität von nicht-nachhaltigen Mobilitätskulturen und besonders die Persistenz von Automobilkul-turen im Fokus. Gleichzeitig werden Produktion und Konsum von Mobilität auf innovative Weise kon-zeptionell zusammengebracht und damit etablierte theoretische Perspektiven auf Mobilitätskulturen erheblich erweitert.
Die symbolischen Eigenschaften und kulturellen Bedeutungen des Autos bzw. des Autofahrens in Deutschland sind bereits wissenschaftlich belegt. Die Rolle der Automobilproduktion für regionale Au-tokulturlandschaften in Süddeutschland ist hingegen kaum (sozial)wissenschaftlich erforscht. Die Ar-beit widmet sich deshalb explizit den kulturellen Verbindungen zwischen Automobilproduktion und -nutzung als feste Bestandteile regionaler Mobilitätskulturen.
Die vorliegende Untersuchung regionaler Autokulturlandschaften nutzt einen kultursensitiven For-schungsansatz, der in einer kritischen diskursorientierten Humangeographie verankert ist. Ein starker Fokus auf Konfliktorientierung und Kontrastierung eignet sich hier besonders, um die Heterogenität und Relationalität kultureller Bedeutungen einzufangen und konfliktreiche sowie marginalisierte As-pekte interpretativ zu erfassen. Eine vergleichende und kontrastierende Einzelfallstudie ermöglicht die kontextsensitive Erforschung des Wandels der Automobilindustrie in zwei Regionen. Die Umsetzung der vergleichenden Fallstudie umfasst einen Mix aus qualitativen Forschungsmethoden, um die kon-fliktreichen Bedeutungen und Praktiken am empirischen Objekt analytisch sowohl materiell als auch sprachlich zu erfassen und eine dichte Beschreibung von Mobilitätskulturen in den beiden Untersu-chungsräumen zu ermöglichen.
Der empirische Teil der Arbeit belegt drei Mobilitätskulturen deren sprachliche und materielle Ausprä-gungen sowohl Divergenzen als auch Konvergenzen aufweisen. Mobilität ist in allen drei Kulturen wich-tig und dient der Erfüllung gesellschaftlicher Ziele. Gleichzeitig bildet Mobilität einen essentiellen Teil des gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprojekts. Bei der Transformation der Automobilindust-rie geht es deshalb um weit mehr als nur um die Frage der Antriebstechnologie der Zukunft. Eine Au-tomobilkultur, die Automobilproduktion und individuelle Automobilität haben lange Zeit eine gesellschaftliche Modernisierung mit Beschäftigungswachstum, Mobilitätssteigerung und wirtschaftli-chem Wachstum ermöglicht. Es wird deshalb nach einer Fortführung dieses gesellschaftlichen Moder-nisierungsprojekts in Form einer angepassten Mobilitätskulturlandschaft gesucht. Das Modernisierungsprojekt einer „produktiven Mobilisierung“ steht dabei im Zentrum aktueller und zu-künftiger kultureller Auseinandersetzungen. Mobilität wird hier begriffen als ein gesellschaftlicher Pro-zess, der mobilmacht, beschäftigt und wertschöpfend ist.
Das Thema Beschäftigung bildet einen gut sichtbaren Konfliktherd im Verhältnis der drei Mobilitäts-kulturen und den daran gekoppelten Vorstellungen von der Transformation der Automobilindustrie. Arbeit bzw. der Erhalt von Arbeitsplätzen bildet ein gewichtiges kulturelles Argument, warum indivi-duelle Mobilität mit dem Auto und Automobilkulturen erhalten werden sollen. Das Thema Beschäfti-gung kann auch dahingehend als wirkmächtig angesehen werden, dass es alle Mobilitätskulturen in automobilproduzierenden Regionen betrifft und gleichermaßen bedeutungsvoll für Veränderungen der Mobilitätsproduktion und des Mobilitätskonsums ist. Die Dimension der Beschäftigung ist damit keine externe Größe, sondern eng verwoben mit dem Modernisierungsprojekt von Mobilitätskulturen in automobilproduzierenden Regionen. Die Arbeit in der Automobilproduktion steht symbolisch dafür, dass das Modernisierungsprojekt nach wie vor funktioniert und als erhaltenswert angesehen wird, auch von Bevölkerungsteilen, die selbst gar nicht in der Automobilproduktion arbeiten.
Basierend auf dieser empirischen Betrachtung kommt diese Arbeit zu dem Schluss, dass eine grundle-gende mobilitätskulturelle Veränderung in Richtung Nachhaltigkeit in diesen Regionen nicht möglich ist, solange der Diskurs der „produktiven Mobilität“ die Zieldimension der Modernisierung von auto-mobilen Gesellschaften darstellt. Die Arbeit stellt hierfür einen Denkanstoß vor, der die Reduktion von Mobilität und die gezielte Förderung von bestimmten Formen der Immobilität in den Fokus eines al-ternativen Modernisierungsprojekts stellt. Dieses Gedankenexperiment knüpft hier an die derzeitigen Immobilisierungserfahrungen von Gesellschaften in Zeiten der Corona-Pandemie an. Die Reduktion von Mobilität stellt ein großes Potential dar, um die Pfade einer individuellen Automobilität mit ihren negativen sozial-ökologischen Konsequenzen zu verlassen und eine „echte“ Transformation der mobi‐len Lebensweisen zu ermöglichen