thesis

Exegese und Schule: Die matthäische Wunderüberlieferung aus anthropologischer Perspektive mit religionspädagogischen Konkretisierungen.

Abstract

Das Wunder, Wunder tun/wirken, kein Wunder, sein blaues Wunder erleben, wunderbar, wunderbarerweise, Wunderdoktor, Wunderglaube. Das Wort des Wunders ist in unserer Sprache fest verankert, was sich vor allem darin zeigt, dass der Begriff auch im allgemeinen Sprachgebrauch präsent ist: „Ein Wunder, dass das Spiel so ausgegangen ist!“, „Ein Wunder, dass es ihm wieder so gut geht!“, „Ein Wunder, dass ich das geschafft habe!“, „Es grenzt an ein Wunder, dass…“, „es wundert mich sehr, dass…“. In den Medien wird der Wunderbegriff in diesem Sinne ähnlich gebraucht, nämlich als Beschreibung für außergewöhnliche Gefahrensituationen, die wider Erwarten ein gutes Ende nehmen. Auch wenn der Begriff gefühlt sehr häufig verwendet wird, so ist er dennoch nicht von einer Unerklärbarkeit frei. Dies zeigt deutlich das Verb „wundern“, das reflexiv gebraucht wird und sich vom althochdeutschen Verb „wuntaron“ ableitet. Wenn also von einem bestimmten Ereignis als einem Wunder gesprochen wird, dann ist eben nicht klar, wie es hierzu gekommen ist. Annähernd jedem sind auch biblische Berichte von den Wundern Jesu mehr oder weniger bekannt, aber in ihrem Kontext, Ablauf und Ergebnis nicht erklärbar: Jesus hat Dinge getan, die eben ver-wundern. Wunder leitet sich als Substantiv und auch dem Wortstamm nach von dem althochdeutschen Substantiv „wuntar“ ab und bezeichnet ursprünglich nicht das o. g. Ereignis, sondern einen Seelenzustand eines Menschen, der sich auf Grund eines Ereignisses eingestellt hat – eben jene Verwunderung. Es ist somit also klar, dass eine Auseinandersetzung mit Wundern aller Art, wenn man von der Etymologie ausgeht, beim Verwunderten ansetzen muss. Dies gilt bei genauerer Betrachtung auch für religiöse Wunder. Den Ausspruch Marie von EBNER-ESCHENBACHs, dass es kein Wunder für den gebe, der sich nicht wundern könne, kann man vor dem Hintergrund der kurzen Ausführungen zum Wortsinn des Wunders durchaus als Grundannahme dieser Arbeit verstehen, denn es kommt zu einem nicht geringen Teil auf den Menschen an, der in den Zustand der Verwunderung gerät. In der Verkündigung und besonders auch im schulischen Religionsunterricht werden Wunder-geschichten häufig genug vernachlässigt. In der Schule sind Wunder zwar Teil der Lehrpläne, aber sie werden von den Lehrkräften oft ungerne unterrichtet und im schlimmsten Fall auf das „Mögliche“ reduziert. Im einen wie im anderen Fall wird die Verwunderung überhaupt nicht zu-gelassen. Im ersten Fall, weil sie gar nicht thematisiert und gänzlich ausgespart wird, man könnte auch sagen, weil die Zuhörer sich zu sehr wundern. Im zweiten Fall werden sie wenig motivierend auf einen naturalistischen oder historisierenden Kern reduziert – sie werden also des eigentlich Wundersamen beraubt. Und da die Wunder im neutestamentlichen Bereich einen nicht unerheblichen Teil der Verkündigung ausmachen, darf es nicht sein, dass sie in der Schule gänzlich unbeachtet bleiben. Sie müssen vielmehr als den Menschen verwundernde Texte wahrgenommen werden können. Sie müssen also als Texte gelesen werden, die eine Verwunderung beim heutigen Leser zulassen und gleichzeitig einen Seelenzustand bei dem auslösen, an dem das Wunder geschieht. Womöglich kann sich auch der heutige Leser wundern, auf Grund der biblischen Wundergeschichten. Für beide Personengruppen – den heutigen Leser und denjenigen, der sich Jesus in Hoffnung nähert – gibt es aber auf jeden Fall nur dann ein Wunder, wenn er sich wundern kann. Wenn also das Grundinteresse des Schülers an biblischen Texten geweckt werden kann, dann mit Sicherheit an Texten, die ihm auf den ersten Blick unverständlich erscheinen. Im Sinne dieser „wuntar“-Verwunderung wollen biblische Wundergeschichten also zum Wundern-Können einladen. Ein Text, der verwundert, weil etwas geschieht, das sie so nicht glauben können, ist für Kinder und Jugendliche gerade deshalb nachvollziehbar: Ein Mensch steht im Zentrum der Geschichte, es ereignet sich an ihm ein Wunder. Die biblische Wundergeschichte ist gerade in dieser anthropologischen Zentrierung „objektiv“. Wundergeschichten sind für den Religionsunterricht eine große Herausforderung, denn die Be-deutung dieser Glaubensgeschichten, die Hoffnung machen wollen, muss den Schülern didaktisch angemessen verdeutlicht werden. Es geht bei der Auseinandersetzung mit Wundern im Re-ligionsunterricht nicht um ein Für-wahr-halten-Müssen, sondern um ein Sich-Einlassen(-Können) auf Geschichten, die Hoffnung machen wollen auf ein Leben als „ganzer“, eben als „heiler“ Mensch. Mit Wundergeschichten ist also für den Schüler ein problemorientierter Zugang zu biblischen Texten möglich (Wie kann das sein?), aber eben auch religionspädagogisch gesehen, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen vom Menschsein möglich, da der Mensch im Zentrum der Wundergeschichte betrachtet werden kann, und zwar in seiner jeweiligen schwierigen Lebenssituation. Es wird also im Folgenden darum gehen, die neutestamentliche Überlieferung ausgewählter Wunder zu betrachten und gleichzeitig die Arbeit mit biblischen Texten im Bereich der Schule zu hinterfragen, um diese zwei Hauptbereiche unter der Fragestellung miteinander zu verbinden, wie jesuanische Wunderberichte in der Schule bearbeitet werden können. Wunder sollen also im Sinne dieser Arbeit, wie es sich bereits aus den obigen Ausführungen ableiten lässt, vor einem anthropologisch-aktiven Hintergrund gelesen werden. Für diese Auseinandersetzung werden im Folgenden die Wunderüberlieferungen des Matthäusevangeliums genauer betrachtet, denn Mt will die Bergpredigt in den Kapiteln fünf bis sieben und die Wunder v.a. auch im anschließenden Kapitel acht offensichtlich gemeinsam betrachtet sehen. Die Bergpredigt verweist auf die kommende Gottesherrschaft und schafft somit „für den Menschen eine neue Lebensbasis und neue Perspektiven, verlangt ihm aber auch alles ab, was er an Möglichkeiten hat“. Dies gilt auch für Wundergeschichten, die hier betrachtet werden. Der Mensch muss sich selbst durchringen, seine Situation anzuerkennen, er muss sich zu Jesus aufmachen. Die Berpredigt fordert den Menschen ganz und im Ganzen, sich auf das Kommen des Gottes-reiches einzulassen, ja daran mitzuwirken, eben jeder nach seinen Möglichkeiten. Was aber ist, wenn die eigenen Fähigkeiten und Grenzen erreicht sind? Was ist, wenn der Mensch außen vor ist in Fragen der Gesundheit, der Gesellschaft, der Teilhabe am Leben? Hiervon erzählen die Wundergeschichten: Sie sind hoffnungsweckende Geschichten vom beginnenden Reich Gottes, auf das sich der einzelne Mensch, wie auch auf den Zuspruch Jesu, einlassen muss. Es wurde ja bereits festgestellt, dass im Sinne der Exemplarität die Wunder bei Matthäus untersucht werden. Da diese Arbeit auch zu einer Annäherung zwischen Exegese und schulischer Bibelarbeit beitragen möchte, hält der Verfasser es für sinnvoll, zu Beginn das Matthäusevangelium und seine Theologie zu betrachten (Kap. 2). Das folgende dritte Kapitel knüpft nach den historisch-kritischen Überlegungen zum Matthäus-evangelium an die vier wesentlichen Bereiche des Arbeitens mit biblischen Texten in der Schule an, und zwar den Religionsunterricht in seiner inhaltlichen und religionspädagogischen Ausrichtung sowie seine strukturelle Besonderheit (Kap. 3.1), die Besonderheit des Arbeitens mit (biblischen) Texten in der Schule (Kap. 3.2), v.a. im Hinblick auf die je eigene individuelle Ausgangslage und Herangehensweise an religiöse und insbesondere biblische Texte, das Arbeiten mit biblischen Wunderberichten in der Schule (Kap. 3.3) vor dem Hinter¬grund des inzwischen immer weniger biblisch ausgerichteten Religionsunterrichtes (im Kontrast zu einem früher monoton auf die Bibel fixierten Unterrichts) sowie die didaktischen Modelle des Unterrichts, die die Grundlage eines textgestützten Unterrichts, wie des Religionsunterrichtes darstellen und insofern im Anschluss an die Kap. 3.1-3 dargelegt werden. Die Kapitel vier und fünf geben einen Überblick über biblische Wundergeschichten in der gegenwärtigen Diskussion, vergleichen diese mit alttestamentlichen und außerbiblischen Wundergeschichten, um das Wirken des historischen Jesus in den zeitgeschichtlichen und religiösen Kontext einzuordnen. Abschließend wird in diesen Kapiteln ein Überblick über die Arten und den Aufbau von Wundergeschichten gegeben, um sie im Bereich der Bibeldidaktik zu verorten, sodass eine schulpraktische Anwendung der exegetisch zu betrachtenden Wunderperikopen fun¬diert erfolgen kann. Das sechste Kapitel nimmt das Phänomen „Mensch“ in den Blick und versucht, den Menschen als einen Geschaffenen, ein Wesen, das durch seine Leibhaftigkeit gekennzeichnet ist, zu cha-rakterisieren. Der Mensch wird nicht in einem systematischen Sinne erforscht, sondern v.a. un¬ter den zwei Aspekten betrachtet, dass er erstens in der Lage ist, über sich und seine menschliche Umwelt zu reflektieren, und zum zweiten, dass er eben ein von Gott Geschaffener ist, der anerkennen muss, dass er in Situationen geraten kann, die er eben nicht kontrollieren, aus sich selbst heraus und vollkommen lösen kann, und dass ihm dennoch eine aktive Rolle an seiner Gesundung zukommt. Im Kontext der Wundergeschichten macht der Mensch nämlich die ambivalente Erfahrung der Leiblichkeit, dass der eigene Körper als Gefängnis empfunden werden kann, in dem Sinn, dass er sich fragen muss, ob er das, was er dort von sich wahrnimmt, wirklich er selbst ist? Hier spielen sich Situationen ab, die den Körper als Spiegel des äußeren Selbst zeigen und gleichzeitig aber auch als Reflexionsebene in sich selbst. Der aktive Mensch ist ein Wesen auf dem Weg zur Menschwerdung (J. SPLETT). Die Wunder sind unter dieser anthropologischen Voraussetzung Menschwerdungs-, Wiedermenschwerdungs- und Beziehungsgeschichten, die somit einen konkreten Bezug zum Leben aller Menschen haben. Die Situationen von Krankheit, Lähmung, Mutlosigkeit, Ignoranz, Isolation und Hilflosigkeit setzen uns Grenzen; der Leib bremst uns aus, er setzt uns ins Aus. Den exegetischen Schwerpunkt der Arbeit bildet Kapitel sieben. Hier werden die sechs Therapienwunder und das Naturwunder näher betrachtet: Es wird jeweils der matthäische Text bzw. die matthäische Redaktion im Kontext synoptischer Parallelen betrachtet und eine Übersetzung angefertigt, die sehr nah am griechischen Original bleibt. Diese Übersetzung ist nur wenig geglättet, sodass viel von dem Drängenden und Wundersamen in den Texten erhalten bleibt und für den Unterricht einsetzbar ist. Den Abschluss des siebenten Kapitels bildet die Rückfrage in Bezug auf alle behandelten Wunder: Inwiefern sind diese für die Schule anwendbar (Kap. 7.9)? Die anthropologische Fragestellung – es geht um den Rezipienten der Wundergeschichte, aber eben auch um die menschlich handelnde Figur in der Geschichte, die Spielraum zur Auseinander-setzung mit menschlichen Realitäten gibt – steht hier wiederum an erster Stelle. Die soeben behandelten biblischen Texte sind solche, die sich v.a. auch mit der Beziehungsfähigkeit des Menschen beschäftigen und von daher grundsätzlich interessant für Schüler sind, auch wenn die Texte oftmals sperrig sind. Aber nicht zuletzt das Ernstnehmen des Schülers verpflichtet ja zu einem Arbeiten mit dem biblischen Text; Stichworte sind hier: Konstruktivismus – Beziehungsorientierung – Anthropologie. Um dieses Kapitel auch in der Schulwelt zu verankern, werden zum Abschluss konkrete Vorschläge gemacht, wie mit den einzelnen Wundergeschichten in Fragen der Methodik, der Didaktik, v.a. im Hinblick auf Motivation, Lebensweltbezug und Sozial- und Arbeitsformen, umgegangen werden könnte. Hierzu bringt das Schlusskapitel der Arbeit in dieser Weise anthropologisch gelesene Wundererzählungen mit dem Arbeitsfeld Schule in Verbindung. Es erfolgt in Kapitel acht die religionspraktische Ausrichtung, erneut mit Anregungen für die Gestaltung des eigenen Religionsunterrichtes, hier nun vor allem des Oberstufenreligionsunterrichts, da die Schüler des Oberstufenreligionsunterrichtes im Sinne einer sog. Transferleistung in die Lage versetzt werden sollen, sich mit der Situation des Wunders selbst auseinanderzusetzen. Die bisherigen Wunderdeutungen werden v.a. dem pädagogischen Konzept, vom Schüler aus zu denken, nicht gerecht, da sie bisher meist historisch-apologetisch oder rein literarisch gelesen wurden, jedoch bisher nicht als Aussage über den Menschen. Auch und gerade biblische Texte sollten beim Schüler beginnen. Die Schüler müssen in ihrer Lebenswelt wahr- und ernstgenommen werden. Dies geschieht nicht losgelöst von der historisch-kritischen Exegese und ihrer Methoden. Deshalb muss der Text zu Beginn erschlossen und in seiner Form und der Übersetzung erarbeitet werden. Da die Wundergeschichten als soziale Ereignisse, als Beziehungs- und Menschwerdungsge¬schichten charakterisiert werden, ist auch die angestrebte Unterrichtsstruktur die des kooperativen Lernens und Arbeitens. Schüler sind mit Schülern in Kontakt, sprechen miteinander über den biblischen Text und die hinter ihm erkennbar werdende Hoffnungsintention und zeigen so etwas von dem, was die matthäischen Wunder eben sind: menschliche Interaktionsgeschichten, die mit Gott zu tun haben. Die anthropologische Dimension will dieser Art Texte den Weg im Religionsunterricht ebnen, damit sie eben nicht nur als „schwierige Texte“ (M. FRICKE), sondern als lohnende biblische Texte wahrgenommen werden, weil sie zur kritischen Auseinandersetzung einladen: „Es gibt kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann.

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