Kreuz, Christian

Mell, Ruth M.

Römer, David

German

Universität Mannheim: MAJOURNALS

https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  1 Christian Kreuz, Ruth M. Mell & David Römer   Einleitung   In den letzten Jahrzehnten erlebt die Diskursforschung eine „unüber-sehbare Konjunktur“ (Wrana et al. 2014: 7); sie hat sich als interdiszipli-näres Forschungsfeld etabliert und entwickelt sich dynamisch weiter. Neben Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Ge-schichtswissenschaft, Psychologie, Erziehungswissenschaft und Geogra-fie hat sich auch die Linguistik den Diskursbegriff zu eigen gemacht, entsprechende theoretische Überlegungen adaptiert und für analytische Zwecke operationalisiert.  Die linguistisch motivierte Diskursanalyse muss sich im Feld der in-terdisziplinären Diskursforschung positionieren und „deutlich […] ma-chen, wo die spezifischen Leistungen und Grenzen […] im Gesamtpro-gramm der Diskursanalyse liegen.“ (Spitzmüller & Warnke 2011: 4) Da-bei handelt es sich keineswegs um ein homogenes sprachwissenschaftli-ches Forschungsparadigma. Vielmehr ist der Terminus linguistische Dis-kursanalyse ein Sammelbegriff, hinter dem sich „nicht immer harmonisie-rende Varianten verbergen, welche wiederum jeweils unterschiedliche Erkenntnisinteressen und -ziele verfolgen.“ (Spitzmüller & Warnke 2011: 4) Insbesondere der Diskursbegriff unterliegt einer „disziplinäre[n] Polysemie“; dies betrifft etwa „seine vollkommen unklare Granularität – von intertextuellen Bezügen einer situativ gerahmten Einzeläußerung im Diskurs bis zu very large corpora“ (Kämper & Warnke 2015: 1).  Speziell aus dem Zusammentreffen sozial- und sprachwissenschaftli-cher Forschungsperspektiven ist ein „Forschungsfeld entstanden, das aufgrund der Vielfältigkeit seiner Ansätze und Terminologien auch für Spezialistinnen und Spezialisten schwer zu überblicken ist“ (Wrana et al. 2014: 7). Der Aufgabe, die sich daraus ergebenen vielfältigen Entwick-lungen in der Diskursforschung zu analysieren, zu „erörtern und einem breiten wissenschaftlichen Publikum zugänglich zu machen“ (Wrana et al. 2014: 8), widmet sich u. a. das seit 2008 bestehende Netzwerk Dis-kursNetz (www.diskursanalyse.net). Dieses interdisziplinär wie internati-onal ausgerichtete Netzwerk geht auf die Initiative von Johannes An-https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  2 germuller (Soziologie), Martin Nonhoff (Politikwissenschaft), Alexander Ziem (Sprachwissenschaft) und Reiner Keller (Soziologie) zurück und steht Diskursforscher*innen aller Fächer und Disziplinen offen (vgl. Wrana et al. 2014: 8). Neben unzähligen Publikationen sind ein Wörter-buch (Wrana et al. 2014) und ein zweibändiges Handbuch zur Diskurs-forschung (Angermuller et al. 2014) aus der Arbeit von DiskursNetz her-vorgegangen. Allein an der Entstehung des Wörterbuches waren mehr als 70 Autor*innen aus den verschiedensten Disziplinen beteiligt. Es stellt somit das Ergebnis einer fruchtbaren interdisziplinären Zusam-menarbeit dar (vgl. Wrana et al. 2014: 8–9). Damit begegnen Au-tor*innen und Herausgeber dem „Bedarf nach Verständigung über dis-ziplinäre, sprachkulturelle und nationale Grenzen hinweg“ und entgeg-nen so den „überkommene[n] Kommunikationsbarrieren zwischen spe-zialisierten Forschungsgebieten“ (Wrana et al. 2014: 7) und Fächern. Inter- oder transdisziplinäres diskuranalytisches Arbeiten ist nicht nur aus den oben genannten Gründen sinnvoll, sondern kann auch aufgrund des Forschungsgegenstandes notwendig werden. Beispielhaft denken wir hier u. a. an Projekte des Forschungsbereichs „Sprachliche Umbrüche“ am Institut für Deutsche Sprache, der von Heidrun Kämper initiiert und geleitet wird: so etwa das Projekt „Demokratiediskurs 1918–1925“, des-sen Gegenstand „die sprachliche Rekonstruktion der die frühere Phase der Weimarer Republik kennzeichnenden Stimmenvielfalt“ (Kämper 2019a: o. S.) war. Methodisch realisiert wurde ein „Modell der Dis-kursanalyse, das die Möglichkeiten von Transdisziplinarität nutzt und deutlich macht“ (Kämper 2019c, o. S.). Die Forschungskonzeption des Projekts wird als transdisziplinär bezeichnet, da sowohl politik- und ereig-nisgeschichtliche als auch diskurs-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Perspektiven eingenommen werden. Dementsprechend kommen die Teilprojekte dieses Vorhabens aus unterschiedlichen Disziplinen und binnenfachlichen Richtungen. Die Zusammenführung der Perspektiven und die interdisziplinäre Zusammenarbeit begründen folgende Zitate: Durch die Zusammenarbeit von Sprach- und Geschichtswissen-schaft wird die Interdependenz zwischen politisch-gesellschaftlichen und diskursiv-sprachlichen Zäsuren in dem Vorhaben mit der sprach-, mentalitäts- und diskursgeschichtlichen Perspektive eng geführt und am Beispiel des politisch-sozialen Umbruchs der frühen Weimarer Republik exemplifiziert. (Kämper 2019d: o. S.) https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  3 Das Projekt zur frühen Weimarer Zeit ist interdisziplinär angelegt und es sind zwei geschichtswissenschaftliche Leibniz-Institute be-teiligt. Durch die Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschich-te, München, sowie mit dem Herder-Institut, Marburg, wird der Interdisziplinarität des Forschungsgegenstands „frühe Weimarer Republik“ entsprochen. (Kämper 2019b: o. S.) Aus diesem Forschungskontext, der Zusammenführung von Linguistik und Geschichtswissenschaft, ist am Institut für Deutsche Sprache das Tagungsnetzwerk „Diskurs – interdisziplinär“ hervorgegangen. Ausge-hend von der Grundannahme, dass „Diskursanalyse […] als interdiszip-linäres Projekt mit einem multidisziplinär variablen Gegenstand“ ver-standen werden muss und damit als Disziplin mit „intersektionalen theo-retische[n] und methodische[n] Bezügen gekennzeichnet ist“ (Kämper & Warnke 2015: 2), haben „Kulturwissenschaftler*innen unterschiedlicher Provenienz, poststrukturalistisch interessierte Linguist*innen, Histori-ker*innen, Philosoph*Innen und Vertreter*innen weiterer diskursinte-ressierter Fächer“ (Kämper & Warnke 2015: 2) das Netzwerk im Jahr 2011 gegründet. Im Jahresrhythmus veranstaltet es Arbeitstagungen, auf denen die Ergebnisse, Methoden und Theorien interdisziplinärer bzw. mul-tidisziplinärer Diskursforschung vorgestellt, diskutiert, hinterfragt und gefördert werden. Fragen nach diskursanalytischen Verfahren sind dabei von zentraler Bedeutung: Wie operationalisieren Dis-kursanalytiker*innen unterschiedlicher Provenienz ihre Analysen? Wie bestimmen sie ihre Kategorien? Welche Erkenntnisinteressen haben sie? Welche Funktion haben solche Analysen? Wie verän-dern sich Disziplinen durch die sich neu etablierende Disziplin der Diskursanalyse. Wie können wir uns dabei im (inter)disziplinären Raum bewegen, der entsteht, wenn Diskurse wissenschaftlich per-spektiviert werden? Dies sind Fragen, die auf den Netzwerktreffen diskutiert, beantwortet und in Frage gestellt werden. Das Ta-gungsnetzwerk ,Diskurs – interdisziplinär‘ ist ein multidisziplinä-res Labor. (Kämper & Warnke 2015: 2–3) Die positiven Resonanzen auf dieses „multidisziplinäre Labor“ haben uns, die Herausgeber*innen dieses Bandes, ermutigt, im Rahmen des Tagungsnetzwerks ein Forum für den wissenschaftlichen Nachwuchs, d. h. besonders für Doktorand*innen, einzurichten. Ziel des so entstan-https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  4 denen Nachwuchssymposiums, das am 5. und 6. Mai 2016 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erstmals stattfand, waren der Aus-tausch sowie die Vernetzung diskursanalytisch arbeitender junger Wis-senschaftler*innen zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Wir wollten damit schon in der Entstehungsphase von Qualifikationsarbeiten (wie Master- und Promotionsarbeiten) die Möglichkeiten interdisziplinä-ren Austausches im Bereich der Diskursanalyse bieten und so einen Raum schaffen, in dem theoretische, methodische und empirische Prob-leme interdisziplinär angelegter diskursanalytischer Arbeiten erörtert werden können.  An dieser Nachwuchstagung waren Doktorand*innen folgender Dis-ziplinen mit Vorträgen und Postern in unterschiedlichen thematisch ausgerichteten Sektionen beteiligt: germanistische, romanistische, anglis-tische Sprach- und Literaturwissenschaft; Digital Humanities; Kulturwis-senschaften; Medienwissenschaften; Sprach- und Literaturdidaktik; Ge-schichtswissenschaften; Landschaftsökologie; Kunsttheorie und inszena-torische Praxis sowie Erziehungswissenschaften. Die Teilnehmer*innen des Symposiums erhielten neue Impulse für ihre Forschungen, da sie ihre Ideen sowohl innerhalb der eigenen Fachrichtung reflektieren als auch in einen interdisziplinären Zusammenhang stellen konnten. Der Austausch illustrierte zugleich aktuelle Tendenzen der Diskursforschung in ihren zahlreichen Ausprägungen.  Einige der Beiträge wurden für die Publikation aufbereitet und sind nun in diesem Band verfügbar. Vor dem Hintergrund aktueller Tenden-zen in der Diskursforschung widmen sich die Texte jeweils einem Prob-lembereich, der insbesondere bei Nachwuchswissenschaftler*innen – aber auch bei etablierten Forschern*innen – Fragen aufwirft, die häufig kontrovers diskutiert werden. Diskutiert werden Probleme beim Umgang mit (digitalen) Korpora, Methodologien und Methoden und es werden interdisziplinäre empirische Studien präsentiert.  Der Beitrag von Jennifer Gräger mit dem Titel „Korpuserstellung als Grundlage für wissenschaftliche Untersuchungen“ behandelt zu-nächst den diskursanalytischen Wissensbegriff und zeigt auf, wie sich Wissen als Gewissheiten nach Wittgenstein mithilfe korpus- und diskurs-analytischer Methoden untersuchen lässt. Dabei diskutiert Gräger grund-sätzlich die Frage nach geeignetem Datenmaterial für eine solche Analy-se. Anhand des Bremischen Basiskorpus Deutscher Kolonialismus https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  5 (BBDK) wird verdeutlicht, wie ein Korpus zusammengesetzt sein sollte, um als Grundlage für wissensanalytische Untersuchungen zu dienen.   Naomi Truan beschäftigt sich mit „Möglichkeiten und Herausforde-rungen einer pragmatisch orientierten kontrastiven Diskursanalyse“, so der Titel ihres Beitrags. Dieser zielt darauf ab, Methoden für eine kon-trastive Diskursanalyse zu erarbeiten und empirisch zu erproben. Dabei geht sie sowohl auf Herausforderungen bei der Erstellung von sprach-vergleichenden Korpora ein als auch auf die Frage, wie sich solche Kor-pora systematisch, kontrastiv untersuchen lassen.   Marlen Arnolds lotet verbindende Elemente zwischen literatur- und sprachwissenschaftlicher Diskursanalyse aus und plädiert für eine Syn-these methodischer Verfahren wie die Analyse von Metaphern. Das Po-tential einer solchen Zusammenführung wird am Beispiel dreier Diskurse der Nachkriegszeit – dem Demokratiediskurs, dem Schulddiskurs und dem Diskurs über den Wiederaufbau – vorgeführt.  Aus Perspektive der romanischen Sprachwissenschaft befasst sich Vera Neusius mit den Möglichkeiten der Kombination qualitativer und quantitativer Methoden bei der Arbeit mit sprachvergleichenden Korpo-ra. Dabei spricht sie sich für „eine disziplinen- und fächerübergreifende Diskurslinguistik sowie die Entwicklung eines forschungsgegenstandsan-gemessenen Methodenbewusstseins“ aus.  Susanne Kopf gibt Einblicke in die Kritischen Diskursstudien (KDS) und unternimmt einen Brückenschlag zur Korpuslinguistik. Präsentiert werden Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zur Repräsentation der EU auf den Diskussionsseiten der englischen Wikipedia. Dabei wird gezeigt, „wie korpuslinguistische Ansätze der Gefahr des cherry-picking entgegenwirken und die Kritischen Diskursstudien wiederum kritische Reflexion der traditionell quantitativen Korpuslinguistik fördern.“  Im Anschluss an die multimodale Diskursanalyse nach Gunther Kress untersucht Daniel Bühler das „Diskursfeld zur ‚Wahrheit‘ foto-grafischer Bilder in der professionellen fotografischen Praxis.“ Damit gibt er Einblicke in eine medienwissenschaftliche Diskursanalyse, die mit Bild-Korpora arbeitet. An einem konkreten Beispiel wird aufgezeigt, wie solche Korpora erstellt werden können und wie sich Diskurse in den Bildern als Gestaltungsmuster manifestieren.  Anhand eines Analysebeispiels aus der Onlinemedienberichterstat-tung fragt Anne Diehr nach kollektiven Identitätskonstruktionen im Migrationsdiskurs. Hierzu wird der Zusammenhang zwischen Sprache, https://journals.bib.uni-mannheim.de/diskurse-digital  6 Wirklichkeit und Identität herausgearbeitet, um mit diskurslinguistischen Methoden identitätsbildende sprachliche Mittel zu untersuchen.   Cornelia Steinhäuser und Tillmann K. Buttschardt untersuchen den Gebrauch des Wortes Kulturlandschaft bei einer deutschen und einer argentinischen Teilnehmergruppe aus der Landwirtschaft im Vergleich, um die jeweiligen Landschaftsverständnisse herauszuarbeiten. Dabei knüpfen sie an in der Humangeographie entwickelte Forschungsansätze an und verbinden diese u. a. mit diskurslinguistischen Methoden und Verfahren der Visualisierung.     Literatur  Angermuller, Johannes, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana Daniel & Alexand-er Ziem (Hrsg.) (2014): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2 Bde. Bielefeld: Transcript. Kämper, Heidrun (2019a): Projektbeschreibung: Demokratiediskurs 1918/1925. http://www1.ids-mannheim.de/lexik/zeitreflexion18.html (25.3.2019). Kämper, Heidrun (2019b): Demokratiediskurs 1918–1925: Kooperationen. http://www1.ids-mann-heim.de/lexik/sprachlicherumbruch/lexikzeitreflexion18/kooperation.html (25.3.2019). Kämper, Heidrun (2019c): Demokratiediskurs 1918–1925: Ziel. http://www1.ids-mannheim.de/lexik/sprachlicherumbruch/lexikzeitreflexion18/ziel.html (25.3.2019). Kämper, Heidrun (2019d): Demokratiediskurs 1918-1925: Konzeption. http://www1.ids-mann-heim.de/lexik/sprachlicherumbruch/lexikzeitreflexion18/konzeption.html, 25.3.2019 (25.3.2019) Kämper, Heidrun & Ingo H. Warnke (2015): Einleitung. In: Heidrun Kämper & Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurs – interdisziplinär. Zugänge, Gegenstände, Per-spektiven. Berlin, Boston: de Gruyter, 1–7. Spitzmüller, Jürgen & Ingo H. Warnke (2011): Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin, Boston: de Gruyter. Wrana, Daniel, Alexander Ziem, Martin Reisigl, Martin Nonhoff, & Johannes Angermuller (Hrsg.) (2014): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Dis-kursforschung. Berlin: Suhrkamp. 

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