Getzin, Mirko

Eldorado - Repository of the TU Dortmund

Mirko GETZIN, Osnabrück  Einzelfallanalysen zur Einschätzung von Mathematikaufgaben durch Schülerinnen und Schüler Mit der Individualisierung und Differenzierung von Mathematikunterricht sind Schülerinnen und Schüler zunehmend in die Steuerung ihrer eigenen Arbeitsprozesse einzubeziehen. Weil Aufgaben ein zentrales Vermittlungs-format der Mathematik bilden, ergibt sich aus dieser Entwicklung der Bedarf neuer Forschung zum Lernen mit Aufgaben: Konkret stellt sich die Frage, wie Schülerinnen und Schüler eigenständig aufgabenbezogene Entscheidun-gen treffen, um gemäß ihrer individuellen Bedürfnisse das zu lernen, was für sie persönlich relevant ist (Leuders & Prediger, 2016, S. 143) und was ihren individuellen Niveaus angemessen ist (Prediger & Scherres, 2012).  Zur Annäherung an diese Frage wird im vorliegenden Dissertationsprojekt der übergeordneten Frage nachgegangen, wie Schülerinnen und Schüler Ma-thematikaufgaben einschätzen. Hierzu wurde eine explorative Interviewstu-die durchgeführt, um eine Grounded Theory (Corbin & Strauss, 2008) über die Aufgabeneinschätzung von Schülerinnen und Schülern zu entwickeln.  Ziel dieses Beitrags ist es, an zwei Einzelfällen die Rolle schülerseitiger Auf-gabeneinschätzungen für das Treffen aufgabenbezogener Entscheidungen sowie Inhalte der entwickelten Grounded Theory exemplarisch aufzuzeigen.  1. Begriffsverständnis der Aufgabeneinschätzung Die Einschätzung von Mathematikaufgaben durch Schülerinnen und Schüler ist zumeist durch drei Tätigkeiten geprägt: Das Wahrnehmen von Aufgaben und ihren Merkmalen, das Beurteilen von spezifischen Aufgabeneigenschaf-ten sowie das Nutzen dieser Urteile für den eigenen Arbeitsprozess (Getzin, 2018). Diese Tätigkeiten können durch weitere Prozesse begleitet werden, wie zum Beispiel die Reflexion über eigene Kompetenzen und Persönlich-keitsmerkmale oder das Erinnern an bereits Gelerntes und vergleichbare Ma-thematikaufgaben. Einschätzungsprozesse können von Schülerinnen und Schülern bewusst oder unbewusst durchgeführt werden. Sie können zudem intuitiv oder aber deliberiert erfolgen. Konkrete Einschätzungen von Aufga-ben sind damit hochgradig individuell und subjektiv geprägt sowie situati-onsspezifisch (Getzin, 2018; 2019).  2. Anlage der Studie Die Anlage der Studie basiert auf der Grounded Theory Methodologie nach Corbin & Strauss (2008). Details zur konkreten Umsetzung ausgewählter Siller, H.-S., Weigel, W. & Wörler, J. F. (Hrsg.). Beiträgezum Mathematikunterricht 2020. Münster: WTM-Verlag, 2020.doi: 10.37626/GA9783959871402.0 325Elemente dieser Forschungslogik, wie z.B. die theoretische Sensibilität, das theoretische Sampling oder die Anwendung eines Kodierparadigmas, sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Getzin, 2019).  Insgesamt bilden 40 explorative, aufgabengestützte und halbstandardisierte Leitfadeninterviews mit Schülerinnen und Schülern zweier Gymnasien und einer Gesamtschule die Datenbasis für die Entwicklung der Grounded The-ory. Die Interviews wurden in drei Erhebungszyklen durchgeführt, wobei Lernende der Klassenstufen 5, 7, 10 und Q2 u.a. dazu befragt wurden, in welchen Situationen sie Aufgaben einschätzen, über welche Eigenschaften von Aufgaben sie Urteile bilden und wie sie diese Urteile für ihre eigenen Arbeitsprozesse in verschiedenen Situationen nutzen. Außerdem wurden sie dazu aufgefordert, vier Mathematikaufgaben der Inhaltsbereiche Funktionen und Geometrie zu beschreiben und diese miteinander zu vergleichen.  Die folgenden Einzelfallanalysen fokussieren auf eine Interviewepisode, in der die Befragten dazu aufgefordert werden, zu beschreiben, wie sie mit den vier präsentierten Mathematikaufgaben umgehen würden, falls sie zwei der vier präsentierten Aufgaben als Hausaufgabe bearbeiten müssten. Die Schü-lerinnen und Schüler stehen damit vor der aufgabenbezogenen Entschei-dung, selbstständig eine Aufgabenauswahl zur Bearbeitung zu treffen. Ins-besondere wird dabei auch die Begründung ihrer Aufgabenauswahl erfragt. 3. Einzelfallanalyse: Der Fall Mario Mario ist Schüler der siebten Klasse eines niedersächsischen Gymnasiums. Nach Auskunft seines Mathematiklehrers ist er besonders interessiert an und begabt in Mathematik. In länder- und bundesweiten Mathematikwettbewer-ben konnte er in der Vergangenheit große Erfolge verzeichnen. Im Interview gibt er an, später einen mathematikaffinen Beruf wie sein Vater ausüben zu wollen, was seine positive Einstellung zur Mathematik zusätzlich unter-streicht. Mario empfindet häufig Spaß beim Mathematiktreiben. Aus dem Interview geht hervor, dass Mario sich bei der Beurteilung von Mathematikaufgaben häufig an ihrer subjektiven Schwierigkeit orientiert. Gleichzeitig beurteilt er die Aufgaben danach, welche Inhalte er durch sie lernen kann und inwiefern er diese bereits beherrscht. Dabei präferiert er die Bearbeitung von Aufgaben, wo er noch persönlichen Lernbedarf erkennt. Beim Lernen mit Mathematikaufgaben ist es sein primäres Ziel, Unsicher-heiten bezüglich der Lerninhalte aus dem Weg zu schaffen. Sein Blick auf die präsentierten Aufgaben ist stets gestalterisch orientiert, er nimmt Opera-toren in den Blick und bezieht gegebene Darstellungsformen wie Tabellen, Grafiken oder Gleichungen aufeinander. Auch wenn keine konkreten Teil-aufgaben gekennzeichnet sind, zerlegt er die Anforderungen der Aufgaben 326anhand der notwendigen Bearbeitungsschritte. Neben den Aufgabenoperato-ren nutzt er diese mentale Aufgabenzerlegung zur Beurteilung der Schwie-rigkeit, des benötigten Vorwissens und des individuellen Lernpotentials.  In der betrachteten Interviewepisode trifft Mario seine Aufgabenauswahl auf die subjektiv einfachste Aufgabe (Flächeninhalte verschiedener Vierecke be-stimmen) und die schwierigste Aufgabe (Dreisatz bei proportionaler Zuord-nung). Zuerst bearbeite er dabei die schwierigste Aufgabe, um sich selbst herauszufordern und ggf. neue Inhalte zu lernen. Anschließend belohne er sich durch die Bearbeitung der einfachsten Aufgabe, getreu seines Mottos „Erst denken, dann vergnügen“. Das Ziel dieser Aufgabeneinschätzungen liegt damit einerseits in der Identifikation persönlicher Herausforderungen. Andererseits soll die Freude an Mathematik gewahrt werden, selbst wenn die Herausforderung nicht bewältigt würde. 4. Einzelfallanalyse: Der Fall Nathalie Nathalie besucht die zehnte Klasse einer niedersächsischen Gesamtschule. Gemäß Selbstauskunft ist sie generell am Unterrichtsfach Mathematik inte-ressiert. Ihre Fachlehrerin verortet ihre Leistung im oberen Mittelfeld des Klassengefüges. Im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern fühlt sich Nathalie von Mathematik besonders gefordert.  Die Befragung von Nathalie zeigt, dass sie Aufgaben vorrangig dazu ein-schätzt, um Bearbeitungsdauern zu beurteilen. Sie nimmt nur wenig gestal-terische Merkmale der präsentierten Aufgaben wahr, fokussiert jedoch stark auf Anwendungskontexte, sofern diese vorhanden sind. Die dargebotenen Anwendungskontexte helfen ihr, die Lerninhalte der Aufgaben zu identifi-zieren, indem sie Analogien zu bereits bekannten, vertrauten Aufgabenfor-maten oder Unterrichtsinhalten aufstellt. Die beurteilte Vertrautheit einer Aufgabe nutzt sie als Indikator für die subjektive Aufgabenschwierigkeit.  In der Vergleichsepisode wählt Nathalie die zwei Aufgaben mit der subjektiv kürzesten Bearbeitungsdauer (beide Aufgaben zu Funktionen). Zuvor be-gründete sie die Einfachheit und die damit einhergehende kurze Bearbei-tungsdauer mit der thematischen Nähe zum aktuellen Unterricht und dem vertrauten Anwendungskontext einer der Aufgaben (Tarifvergleiche). Durch die kurze Bearbeitungsdauer habe sie anschließend an die Hausaufgaben mehr Freizeit, um ihren Hobbys nachzugehen. Die Aufgabeneinschätzung verfolgt damit das Ziel der Aufwandsvermeidung und ferner der Ressour-censchonung (kognitive Ressourcen bei Aneignung unterrichtsferner In-halte, z.B. durch Recherchen). Die Handlungskonsequenz der Aufgabenein-schätzung liegt hier in der präferierten Bearbeitung einfacherer sowie in der bewussten Unterlassung der Bearbeitung schwieriger Aufgaben.  3275. Resümierender Fallvergleich Die beiden verglichenen Fälle zeigen, dass die individuelle Aufgabenaus-wahl in unterschiedlichen Resultaten der Aufgabeneinschätzung resultiert. Während Nathalie die gewählten Aufgaben mit den Prädikativa „einfach“, „vertraut“ und „kurz“ versieht und sich hieraus eine konkrete Handlung, nämlich die Bearbeitung kurzer Aufgaben, ergibt, sieht Mario die gewählten Aufgaben mit anderen Augen: Er erkennt, dass die Aufgaben zum Teil einen Lernanlass für neue Inhalte darbieten und entschließt sich daher explizit für die Bearbeitung der „herausforderndsten“ Aufgabe. Die einfachste Aufgabe bearbeite er dazu, weil er sie als „vergnügend“ und „interessant“ empfindet.  Der gemeinsame Kern der beiden dargestellten Einzelfälle liegt in der Beur-teilungstätigkeit: Alle Einzelfälle (auch über die exemplarischen hinaus) be-urteilen die Schwierigkeit der präsentierten Aufgaben. Daher bildet die Be-urteilung der subjektiven Aufgabenschwierigkeit eine Schlüsselkategorie der Theorie über die Einschätzung von Mathematikaufgaben.  Des Weiteren ist festzustellen, dass die beiden berichteten Fälle der Aufga-beneinschätzung zwei Funktionen zukommen lassen. Die prädikative Funk-tion der Einschätzung von Mathematikaufgaben meint, dass die einschät-zende Person der Aufgabe subjektiv einen individuellen Wert verleiht (z.B. in der Beurteilungstätigkeit durch die Prädikativa „herausfordernd“, „inte-ressant“ oder „vertraut“). Die operative Funktion von Aufgabeneinschätzun-gen beschreibt die Konsequenzen der individuellen Werturteile hinsichtlich des eigenen Arbeitsprozesses. Aufgabeneinschätzungen sind damit hand-lungsweisend, indem sie Handlungen initiieren oder Unterlassungen begrün-den. Beide Funktionen konnten auch in den meisten der anderen geführten Interviews rekonstruiert werden.  Im Tagungsvortrag werden die detaillierten Transkripte der ausgewählten Einzelfälle genauer analysiert und verglichen.  Literatur Getzin, M. (2018). Mathematikaufgaben einschätzen. BzMU 2018, 599–602. Münster: WTM-Verlag.  Getzin, M. (2019). Entwicklung einer Grounded Theory über die Einschätzung von Ma-thematikaufgaben durch Schülerinnen und Schüler. BzMU 2019.  Leuders, T. & Prediger, S. (2016). Flexibel differenzieren und fokussiert fördern im Ma-thematikunterricht. Berlin: Cornelsen.  Prediger, S. & Scherres, C. (2012). Niveauangemessenheit von Arbeitsprozessen in selbstdifferenzierenden Lernumgebungen. Journal für Mathematik-Didaktik, 33(1), 143-173.  Corbin, J. & Strauss, A. (2008). Basics of Qualitative Research: Techniques and Proce-dures for Developing Grounded Theory (3rd ed.). Thousand Oaks (CA): Sage.  328

Einzelfallanalysen zur Einschätzung von Mathematikaufgaben durch Schülerinnen und Schüler

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