Brohsonn, Lea

Geisler, Sebastian

Rolka, Katrin

Eldorado - Ressourcen aus und für Lehre, Studium und Forschung

Lea BROHSONN, Bochum, Sebastian GEISLER, Bochum &  Katrin ROLKA, Bochum Evaluation eines Lernangebots zu eigenen „Fragen und Erkenntnissen“ aus Studierendensicht Im Studiengang Mathematik sind die Abbruchquoten bekanntermaßen seit Jahren sehr hoch (Heublein & Schmelzer, 2018). Erfahrungsgemäß verlieren viele Studierende bereits innerhalb der ersten Wochen des Semesters den Anschluss an den regulären Vorlesungsbetrieb. An der Ruhr-Universität Bo-chum nimmt am Semesterende etwa ein Viertel der Mathematikstudierenden (Hauptfach und Lehramt) nicht an der Analysis I-Klausur teil. Laut Baars und Arnold (2014) kann die Nicht-Teilnahme an Klausuren das Risiko eines Studienabbruchs erhöhen. Daher wurde im Wintersemester 2017/18 an der Ruhr-Universität Bochum erstmals das Projekt „Analysis 2. Start“ durchge-führt (Geisler, Glasmachers, Rolka & Eichelsbacher, 2018). Ziel des Projek-tes war es, den Studierenden einen Neuanfang in Analysis zu ermöglichen und sie trotzdem ohne Zeitverlust auf die reguläre Semesterabschlussklausur im März vorzubereiten. Eine detaillierte Darstellung des Projektablaufs so-wie der einzelnen Lernangebote findet sich bei Geisler et al. (2018). Kern-element des Projektes waren Vorlesungsvideos, die durch drei wöchentliche Übungen à 90 Minuten begleitet wurden. Eine Verzahnung der beiden An-gebote bildete die Aufforderung, nach jedem Video „Fragen und Erkennt-nisse“ zu formulieren, die in der folgenden Übung aufgenommen wurden. In diesem Artikel wird mit den „Fragen und Erkenntnissen“ exemplarisch ein Lernangebot des Projektes aufgegriffen, im Angebot-Nutzungs-Modell von Helmke und Schrader (2010) verortet und aus Sicht der Studierenden evaluiert. 1. Das Angebot-Nutzungs-Modell von Helmke und Schrader (2010) In der Theorie des Angebot-Nutzungs-Modells von Helmke und Schrader (2010) werden Lehr-Lern-Prozesse als Ergebnis multifaktorieller Bedingun-gen aufgefasst. So sind beispielsweise sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden am Lehr-Lern-Prozess beteiligt. Ein Kriterium für erfolgreiches Lernen stellt der Mediationsprozess der Studierenden dar. Zum Mediations-prozess werden unter anderem die Einschätzung der Lernenden zur Wirkung und Intention einer didaktischen Maßnahme gezählt. Lernende interpretieren demnach zunächst ein Lernangebot, indem sie etwa die damit verbundene Intention des Lehrenden zu antizipieren versuchen oder dem Lernangebot einen persönlichen (zukünftigen) Nutzen zuweisen. Lernaktivitäten, die mit Siller, H.-S., Weigel, W. & Wörler, J. F. (Hrsg.). Beiträgezum Mathematikunterricht 2020. Münster: WTM-Verlag, 2020.doi: 10.37626/GA9783959871402.0 181der Nutzung des Lernangebots einhergehen, erfolgen erst im Anschluss an den Mediationsprozess und werden durch diesen Prozess geprägt. 2. Konzeption des Lernangebots „Fragen und Erkenntnisse“ Das Projekt „Analysis 2. Start“ zeichnet sich im Vergleich zur regulären Analysis I-Veranstaltung neben den Videos der regulären Veranstaltung auch durch einen erhöhten Anteil an Präsenzübungen und zusätzlichen e-Learning-Angeboten auf der Lernplattform Moodle aus. Um den Studieren-den auch außerhalb der Übungen die Möglichkeit für Rückfragen und zu in-dividuellem Feedback zu geben, wurden mithilfe des Moodle-Kurses Bau-steine des Just-in-Time-Teachings (JiTT) nach Novak und Patterson (2010) eingesetzt. JiTT zeichnet sich durch eine Rückkopplung der Präsenzveran-staltungen an vorher von den Studierenden erarbeitete Aufgaben und Fragen aus. Im Projektkontext bedeutete dies, dass die Studierenden im Anschluss an jedes Vorlesungsvideo aufgefordert wurden, eigene Fragen und/oder Er-kenntnisse zum Vorlesungsinhalt zu formulieren. Die von den Studierenden formulierten „Fragen und Erkenntnisse“ waren für die Übungsgruppenlei-tung zugänglich und wurden in der Übung aufgegriffen. Sie dienten somit nicht nur als Reflexions-, sondern auch als Kommunikationsanlass in den Übungen. Da Fragenstellen die Konstruktion von Wissen, lernorientierte Motivation und metakognitive Fertigkeiten fördert (Graesser & Olde, 2003), ergab sich aus Sicht des Angebot-Nutzungs-Modells ein Forschungsinte-resse hinsichtlich des Mediationsprozesses. Ein Aspekt der Projektevalua-tion stellte daher die von den Studierenden berichtete Einschätzung des per-sönlichen Nutzens und der eigenen Nutzung der „Fragen und Erkennt-nisse“ dar. 3. Fragestellung und methodisches Vorgehen Im Zuge der Projektevaluation wurden folgende Fragen untersucht:  Welchen Nutzen schreiben die Studierenden den „Fragen und Erkenntnis-sen“ zu?  Was berichten die Studierenden über die eigene Nutzung der „Fragen und Erkenntnisse“? Zur Projektevaluation wurden nach dem zweiten Projektdurchlauf im Win-tersemester 2018/19 mit zwei Hauptfach- und vier Lehramtsstudierenden leitfadengestützte Interviews geführt und mithilfe der qualitativen Inhaltsan-alyse nach Kuckartz (2018) ausgewertet. Die Auswahl der Befragten erfolgte anhand der innerhalb des Projekts erbrachten Leistungen, sodass durch die Stichprobe ein möglichst breites Leistungsspektrum abgebildet wird. Zum Zeitpunkt der Interviews stand die Semesterabschlussklausur in Analysis I 182noch bevor, sodass sich die Studierenden bei ihren Einschätzungen bezüg-lich des Nutzens der einzelnen Lernangebote lediglich auf ihr persönliches Empfinden und nicht auf die Klausurergebnisse beziehen konnten. 4. Ergebnisse und Diskussion Anhand der Bewertung der „Fragen und Erkenntnisse“ lassen sich zwei Gruppen erkennen. Laut eigener Aussage haben drei Befragte das Lernange-bot als hilfreich oder sehr hilfreich wahrgenommen. Zum einen habe sich durch das Angebot ein neuer Fokus beim Ansehen der Videos etabliert, wie am Beispiel von Studentin 1 deutlich wird: „Ich fand das schön, dass man halt nach JEDEM Video gefragt hat, ob man noch Fragen hat, oder auch Erkenntnisse, wenn man keine Fragen hat, und dass ich mich immer darauf fokussiert habe, irgend’ne Erkenntnis zu finden, irgend’ne Frage.“ Sie habe sich durch das Lernangebot herausgefordert gefühlt, Fragen und Erkennt-nisse herauszuarbeiten. Zum anderen böte es aus Sicht eines Kommilitonen einen Anlass, um nachträglich die neuen Lerninhalte zu reflektieren und den eigenen Lernstand zu bestimmen. Von dieser Studierendengruppe wird zu-dem hervorgehoben, dass die Diskussion eigener Fragen und Fragen anderer in der Übungsgruppe neue Perspektiven auf die Inhalte eröffnet und somit zu einer tieferen Wiederholung beigetragen hätten. Damit beschreiben die Studierenden die Vorteile des Fragenstellens für den Lernprozess, die auch Graesser und Olde (2003) herausstellen. Diese Gruppe nutzt das Angebot regelmäßig und notiert deutlich mehr Fragen als Erkenntnisse. Exemplarisch für die drei Befragten, die dieses Lernangebot als nicht oder eher nicht hilfreich bewerteten, ist die Aussage von Student 2: „Da habe ich mir immer überlegt: Ja okay, was schreibe ich jetzt dahin? Wenn mir nicht so Großartiges einfällt, dann schreib‘ ich einfach das, was in den Sinn kommt.“ Er fand die Aufgabe „eher nicht hilfreich“, aber die Übungsgrup-penleitung „hat ja gesagt, dass sie das braucht und damit die nächste Übung gestaltet“. Bei der Interpretation der Aufgabe und deren Bearbeitung er-schloss sich ihm kein persönlicher Nutzen, was sich in seinem Verhalten, Gedanken ohne weitere Überlegungen aufzuschreiben, äußert. In dieser Gruppe werden deutlich mehr Erkenntnisse als Fragen formuliert. 5. Zusammenfassung und Ausblick Insgesamt wurde das Lernangebot „Fragen und Erkenntnisse“ sehr unter-schiedlich wahrgenommen. Die Vorgehensweise, mehr Erkenntnisse als Fra-gen zu notieren, scheint mit den Mediationsprozessen der Studierenden und insbesondere der Bewertung des Nutzens zusammenzuhängen. Die Gruppe der Befragten, die die „Fragen und Erkenntnisse“ als wenig hilfreich einge-ordnet haben, haben nicht nur mehrfach Einträge ausgelassen, sondern auch 183überwiegend Erkenntnisse formuliert. Dahingegen haben die drei Studieren-den, die mehrheitlich Fragen formuliert haben, das Angebot als hilfreich ein-gestuft und es mit wenigen Ausnahmen immer genutzt. Sie geben unter-schiedliche Beispiele an, wie das Lernangebot sie in ihrem Lernprozess un-terstützt hat. Einige Aussagen der Studierenden zeugen von mangelnder Transparenz hin-sichtlich der mit dem Angebot intendierten Lernziele. Für diese Studieren-den wäre es zukünftig möglicherweise hilfreich, bei Lernangeboten die di-daktischen Intentionen noch expliziter zu benennen (vgl. auch Nowak & Pat-terson, 2010), um ihren Mediationsprozess stärker zu lenken. Eine tiefergehende Auswertung der Fragen und Erkenntnisse auf inhaltlicher Ebene steht noch aus. Es ist noch zu klären, inwieweit qualitative Unter-schiede zwischen den Einträgen vorliegen und wie sich dies in der Bewer-tung des Lernangebots sowie dem Lernerfolg widerspiegelt. Literatur Baars, G. J. A. & Arnold, I. J. M. (2014). Early Identification and Characterization of Students Who Drop Out in the First Year at University. Journal of College Student Retention: Research, Theory & Practice, 16(1), 95–109. Geisler, S., Glasmachers, E., Rolka, K. & Eichelsbacher, P. (2018). Das Projekt „2 Start“ – Eine Unterstützungsmaßnahme für Studienanfänger/innen in Mathematik. In Fach-gruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.), Beiträge zum Ma-thematikunterricht 2018 (S. 591–594). Münster: WTM-Verlag.  Graesser, A. C. & Olde, B. A. (2003). How does one know whether a person understands a device? The quality of the questions the person asks when the device breaks down. Journal of Educational Psychology, 95, 524-536. Helmke, A. & Schrader, F.-W. (2010). Hochschuldidaktik. In D. H. Rost (Hrsg.), Hand-wörterbuch Pädagogische Psychologie. 4. Aufl. (S. 273–279). Weinheim: Beltz Ver-lag. Heublein, U. & Schmelzer, R. (2018). Die Entwicklung der Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen. Berechnungen auf Basis des Absolventenjahrgangs 2016. DZHW Projektbericht. Hannover: DZHW. Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstüt-zung. 4. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa. Novak, G. & Patterson, E. (2010). An Introduction to Just-in-Time Teaching (JiTT). In S. Simkins & M. H. Maier (Hrsg.), Just-In-Time Teaching: Across the Disciplines, Across the Academy. New Pedagogies and Practices for Teaching in Higher Educa-tion (S. 3–23). Virginia: Stirling. 184

Evaluation eines Lernangebots zu eigenen „Fragen und Erkenntnissen“ aus Studierendensicht

https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/39358/1/BzMu2020_BROHSONN-id372.pdf

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