Rolfes, Tobias

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In: Kerstin Hein, Cathleen Heil, Silke Ruwisch & Susanne Prediger (Hrsg.). Beiträge zum Mathematikunterricht 2021. Münster: WTM Verlag. https://doi.org/10.37626/GA9783959871846.0 Online unter https://eldorado.tu-dortmund.de/handle/2003/30630 Tobias ROLFES, Kiel Funktionales Denken beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff: Von operationalen zu strukturellen Vorstellungen  Der Flächeninhaltsbegriff und der Rauminhaltsbegriff sind zentrale Begriffe des Mathematikunterrichts in der Sekundarstufe. Zumeist werden diese beiden Begriffe unter der Leitidee „Messen“ subsumiert. Sie können aber auch unter der Leitidee „Funktionaler Zusammenhang“ gefasst werden, wenn die Abhängigkeit der Flächen- und Rauminhalte von anderen Größen (z. B. Längen, Ähnlichkeits-faktoren) im Fokus steht. Funktionales Denken tritt dabei vor allem dann auf, wenn die Auswirkung einer Veränderung der Funktionsvariablen auf den Flächen- bzw. Rauminhalt untersucht wird (z. B. „Wie verändert sich der Raum-inhalt eines Körpers, wenn er mit dem Faktor 2 zentrisch gestreckt wird?“). Nach der Theorie der Begriffsbildung von Sfard (1991) haben mathematische Begriffe eine doppelte Gestalt als Prozess und Objekt. Sfard geht davon aus, dass eine Begriffsbildung bei Lernenden in hierarchischen Entwicklungsstufen erfolgt. In der ersten Phase (Interiorization) herrscht die Sicht als Prozess vor, indem die entsprechenden Operationen (z. B. das Berechnen des Flächeninhaltes eines Trapezes anhand von Längenmaßen) verinnerlicht werden.  In der zweiten Phase (Condensation) erfolgt der Übergang zu einer Objektvorstellung durch „‘squeezing’ lengthy sequences of operations into more manageable units“ (Sfard, 1991, S. 19). Das heißt, die Lernenden sind in dieser Phase immer mehr in der Lage, den Prozess als Ganzes zu betrachten. Gerade diese Phase des Übergangs von operationalen zu strukturellen Vorstellungen sei besonders schwierig. Die höchste Stufe (Reification) ist erreicht, wenn die strukturellen Vorstellungen vollständig ausgebildet wurden und der Begriff als ein Objekt gesehen wird. Mit diesem Objekt können nun wiederum Operationen durchgeführt werden. Der funktionale Zusammenhang zwischen dem Flächen- bzw. Rauminhalt zweier ähnlicher Figuren bzw. Körper und dem Ähnlichkeitsfaktor k, d.h. A2 = k2·A1 bzw. V2 = k3·V1, repräsentiert diese Objektsicht der beiden Begriffe. Bei diesen strukturellen Vorstellungen des Flächen- und Rauminhaltsbegriffs werden nicht mehr die Längen als Objekte betrachtet, mit denen operiert wird, sondern der Flächeninhalt und der Rauminhalt selbst sind zu Objekten geworden, mit denen Operationen durchgeführt werden. Relevanz haben diese funktionalen Beziehungen zwischen Ähnlichkeitsfaktor und Flächen- bzw. Rauminhalten zum Beispiel bei Pictorial Charts, in denen Quantitäten mithilfe von unterschiedlich großen, ähnlichen Bildern dargestellt werden (vgl. Rolfes, 2021). Empirische Forschung zeigt, dass eine korrekte strukturelle Vorstellung zum Flächen- und Rauminhalt bei der überwältigenden Mehrheit der Testpersonen in den Klassenstufen 7 und 10 (De Bock et al., 1998) und auch in der Eingangsphase der gymnasialen Oberstufe (Klinger, 2018) nicht vorhanden ist. Stattdessen lag zum Großteil eine Linearitätsillusion vor, d. h. es wurde ein linearer Zusammenhang zwischen Ähnlichkeitsfaktor und Flächeninhalt bzw. Rauminhalt angenommen (De Bock, 1998; Klinger, 2018).  Die vorliegende Untersuchung beschäftigte sich mit den folgenden Forschungsfragen: (FF1) Lassen sich Sfards (1991) hierarchische Stufen beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff empirisch identifizieren? (FF2) In welcher Weise sind Studienanfängerinnen und -anfänger in der Lage, funktionales Denken bei Flächen- und Rauminhaltsproblemen durchzuführen? (FF3) Ist bei Studien-anfängerinnen und -anfängern noch eine Linearitätsillusion feststellbar? Methode Die Stichprobe bestand aus 83 Lehramtsstudierenden mit Fach Mathematik in der Studieneingangsphase. Es wurden vier Flächen- und drei Rauminhaltsitems ad-ministriert, bei denen jeweils zwei ähnliche Figuren oder Körper gegeben waren. In einigen Items mussten zum Flächen- oder Rauminhalt proportionale Größen (z. B. Gewicht) bestimmt werden (vgl. Abb. 1). Es waren zwar geschlossene Fragen, aber die Testpersonen tippten in der computerbasierten Erhebung ihren Rechenweg in ein offenes Textfeld. Für die Datenauswertung wurden die Antworten zunächst in richtig und falsch kodiert und Rasch-skaliert. Die Items zeigten einen sehr guten Modellfit (rit ≥ .48, INFIT ≤ 1.05, EAP/PV-Reliabilität .73). Niveaustufen wurden entsprechend eines Standardsetting-Verfahrens (Cizek, 2012) identifiziert. Hierbei wurden auf der Basis empirischer Itemschwierigkeiten Niveaustufen mit inhaltlichen Gemeinsamkeiten gebildet. Abschließend wurde mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse noch eine vertiefte Analyse des Lösungsansatzes vorgenommen, indem in induktivem Verfahren Kategorien richtiger und falscher Antworten gebildet wurden.  Abb. 1: Beispiel-Item aus der Erhebung zum Flächeninhalt. Ergebnisse Anhand der empirischen Itemschwierigkeiten konnten drei Niveaustufen identifiziert werden (vgl. Abb. 2). In der Stufe I befanden sich die Items Kies und Bronzetafel. Diese Items basierten auf der Flächeninhaltsbestimmung von bekannten geometrischen Figuren (Rechteck, Trapez). Zudem waren die für Rasen düngenEin Gärtner muss zwei kreisförmige Rasenstücke düngen. Für das links abgebildete Rasenstück benötigt er 2 kg.Das rechts abgebildete Rasenstück hat einen 1,5fach so großen Durchmesser wie das links abgebildete.Berechnen Sie, wie viel Kilogramm Dünger der Gärtner für das rechte Rasenstück benötigt.Flächeninhaltsberechnungen erforderlichen Längen gegeben bzw. direkt berechenbar. Somit konnten die Testpersonen diese Items mit einem rein operationalen Verständnis des funktionalen Zusammenhangs zwischen Längen und Flächen- bzw. Rauminhalten lösen. Die Items der Stufe I löste die überwiegende Mehrheit der Studierenden korrekt (ca. 80–90 %). Auf dem anderen Ende der Skala befanden sich Items der Stufe III. In diesen Items mussten Ergebnisse anhand des Verhältnisses von Flächen- bzw. Rauminhalten von unregelmäßigen Formen (Goldbarren, Eiffelturm, Fußballspieler) bestimmt werden. Diese Items waren im Prinzip nur lösbar, wenn adäquate strukturelle Vor-stellungen von Flächen- und Rauminhalten bei ähnlichen Figuren und Körpern vorhanden waren. Items der Stufe III lösten nur ca. 10 % der Probanden korrekt.   Abb. 2: Niveaustufen der Items zum funktionalen Denken beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff. In die mittlere Stufe II fielen die Items Müllcontainer und Rasen (53 % bzw. 36 % Lösungsrate). In beiden Items handelte es sich um geometrische Formen mit bekannten Flächen- bzw. Rauminhaltsformeln. Allerdings waren in den Items die relevanten Längen nicht gegeben. Eine vertiefte Analyse der korrekten Antworten des Items Rasen (vgl. Abb. 1) zeigte, dass die meisten Testpersonen (24 von 31) zur korrekten Lösung gelangten, indem sie für den kleineren Kreis den Flächeninhalt mit dem Gewicht gleichgesetzt (πr2 = 2) oder frei einen Radius gewählt hatten („Sei r = 1m“). Vier Personen leiteten das Ergebnis allgemein anhand der Kreisformel her [π(1,5r)2], und nur drei Personen verwendeten strukturelle Vorstellungen mithilfe des Ähnlichkeitsfaktors (1,52). Bei der Analyse der falschen Antworten zeigte sich, dass der Großteil der falschen Antworten aufgrund einer Linearitätsillusion erfolgte. So lag bei Items der Stufe II und III der Anteil der korrekten Lösungen zusammen mit den Lösungen mit Linearitätsillusion zwischen 84 % (Item Rasen) und 95 % (Item Fußballspieler). Diskussion Sfards (1991) hierarchisches Stufenmodell des Begriffserwerbs ließ sich beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff empirisch identifizieren. Die Begriffs-vorstellungen sind bei Studierenden der Studieneingangsphase noch sehr 1 2 3 40-1-2-388%Kies78%Bronze-tafelStufe I (operational)53%Müll-container36%Rasen11%Eiffel-turm6%Fuß-baller16%Gold-barrenLogitStufe II Stufe III (strukturell) operational ausgeprägt. Korrekte strukturelle Vorstellungen über den funktionalen Zusammenhang zwischen Ähnlichkeitsfaktor und Flächen- bzw. Rauminhalt wiesen nur sehr wenige Studierende (ca. 10 %) auf. Außerdem zeigten die Analysen, dass der lineare Ansatz (Linearitätsillusion) eine Art Notheuristik darstellte. Er wurde nur angewendet, wenn keine korrekten strukturellen Vorstellungen bestanden und auch kein operationaler Lösungsansatz über den funktionalen Zusammenhang zwischen Längen und Flächen- bzw. Rauminhalt gefunden wurde. Mit Blick auf den schulischen Mathematikunterricht zeigen die Ergebnisse somit, dass in der Sek. I und II nur unzureichende Vorstellungen zum Flächen- und Rauminhaltsbegriff entwickelt werden. Eine mögliche Ursache für diese Ergebnisse ist, dass Flächen- und Rauminhalte in der Sek. I sehr kalkülorientiert behandelt werden. Im Unterricht stehen vor allem die operationalen Vorstellungen im Vordergrund, und es wird kaum versucht, strukturelle Vorstellungen zu entwickeln. Auch in der Sek. II wird das Begriffsverständnis zum Flächen- und Rauminhaltsbegriff qualitativ kaum weiterentwickelt. Dieses ist problematisch, da in dieser Form ein kumulativer Kompetenzaufbau nur eingeschränkt stattfindet, wie die empirischen Ergebnisse dieser Studie zeigen. Stattdessen entwickelt sich Kompetenz zum Flächen- und Rauminhaltsbegriff im Verlauf der Sek. I und II relativ additiv und kompart-mentalisiert. Die vorliegenden empirischen Ergebnisse legen nahe, dass Unterricht zu Flächen- und Rauminhalten stärker auf eine adäquate strukturelle Vorstellung hinführen sollte. Hierfür ist nach Sfard (1991) die Übergangsphase von operationalen zu strukturellen Vorstellungen essenziell. Wie dieser Übergang initiiert werden könnte, ist eine noch offene Forschungsfrage. Möglicherweise könnten Analysen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Flächen- und Rauminhaltsformeln (z. B. „Warum kann die Flächeninhaltsformel für Kreise nicht A(r) = πr3 lauten?“) hierfür hilfreich sein. Auch der stärkere Einbezug von unregelmäßigen Figuren und Körpern könnte helfen, adäquate strukturelle Vorstellungen aufzubauen. Literatur Cizek, G. J. (Hrsg.) (2012). Setting performance standards: Foundations, methods, and innovations (2. Aufl.). New York: Routledge. De Bock, D., Verschaffel, L. & Janssens, D. (1998). The predominance of the linear model in secondary school students’ solutions of word problems involving length and area of similar plane figures. Educational Studies in Mathematics, 35(1), 65–83.  Klinger, M. (2018). Funktionales Denken beim Übergang von der Funktionenlehre zur Analysis. Wiesbaden: Springer Spektrum.  Rolfes, T. (2021). Interpretation of quantities displayed in pictorial charts. Frontiers in Psychology, 12, Article 609027.  Sfard, A. (1991). On the dual nature of mathematical conceptions: Reflections on processes and objects as different sides of the same coin. Educational Studies in Mathematics, 22(1),  1–36.  

Funktionales Denken beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff: Von operationalen zu strukturellen Vorstellungen

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Funktionales Denken beim Flächen- und Rauminhaltsbegriff: Von operationalen zu strukturellen Vorstellungen

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