Fahse, Christian

Girnat, Boris

Robitzsch, Alexander

Rolfes, Tobias

Eldorado - Repository of the TU Dortmund

 Tobias ROLFES, Landau, Boris GIRNAT, Hildesheim,  Christian FAHSE, Landau & Alexander ROBITZSCH, Kiel Schülerkompetenzen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Sekundarstufe In den Anfängen des Stochastikunterrichts dominierte der Wahrscheinlich-keitsbegriff nach Laplace die Unterrichtspraxis. Dieses Vorgehen erfuhr al-lerdings Kritik, da den Lernenden die vielfältige Anwendung von Wahr-scheinlichkeit in unterschiedlichen Bereichen verborgen blieb (Batanero, Chernoff, Engel, Lee & Sánchez, 2016). Daher wird heutzutage in vielen Curricula und Standards der Sekundarstufe (z. B. Common Core State Stan-dards Initiative, 2010; Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz, 2007) eine experimentelle Einführung in den Wahr-scheinlichkeitsbegriff als Grenzwert von relativen Häufigkeiten gefordert. Bisher empirisch kaum untersucht ist jedoch, in welcher Weise Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe in der Lage sind, adäquate Vorstellungen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff nach Laplace und zum frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs zu gewinnen. Daher ist das Ziel der vorgestell-ten Studie, in einer empirischen Untersuchung die Kompetenzen zum Wahr-scheinlichkeitsbegriff in der Sekundarstufe zu erfassen. Dabei wurden gleichermaßen Items zum klassischen wie auch zum frequentistische Wahr-scheinlichkeitsbegriff eingesetzt.  Methode Stichprobe. An der Erhebung nahmen 102 Schülerinnen und Schüler aus vier Lerngruppen (Klasse 8, 9, 10 und Leistungskurs 12) aus unterschiedlichen Gymnasien in Rheinland-Pfalz teil. Es wurden insgesamt 56 Items in einem Multi-Matrix-Design administriert. Aus Platzgründen werden in dem vorlie-genden Beitrag nur die Ergebnisse des Items M144 berichtet, das 51 Test-personen vorgelegt wurde. Erhebungsinstrument. Item M144 (Abb. 1) wurde in der Weise entwickelt, dass für die Lösung der Wahrscheinlichkeitsbegriff nach Laplace mit dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff konkurriert. Im Itemstamm wird erwähnt, dass eine Person einen normalen Spielwürfel kauft. Durch die Verwendung des Adjektivs normal soll verdeutlicht werden, dass es keine Indizien dafür gibt, dass es sich nicht um einen Laplace-Würfel handelt. Au-ßerdem ist eine Tabelle mit den Häufigkeiten je Augenzahl nach einem Ver-such mit 50 Würfen angegeben. Die auftretenden Häufigkeiten liegen - unter der Annahme, dass alle Augenzahlen gleichwahrscheinlich sind - innerhalb eines 95-prozentigen Konfidenzintervalls, da für eine Binomialverteilung In Fachgruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.)Beiträge zum Mathematikunterricht 2018. Münster: WTM-Verlag 1507 𝐵(𝑛, 𝑝, 𝑘) gilt: ∑ 𝐵 (50,16, 𝑘) = 0,91412𝑘=4 . Aus inferenzstatistischer Per-spektive gibt die Häufigkeitsverteilung daher keinen Anlass, die Nullhypo-these „Der Würfel ist ein Laplace-Würfel“ zu verwerfen. Selbstredend kann von den Testpersonen nicht erwartet werden, die exakte Breite des Konfiden-zintervalls zu bestimmen. Allerdings wurde vorausgesetzt, dass zu einem elaborierten Verständnis des Wahrscheinlichkeitsbegriffs nach Laplace das Wissen gehört, dass die real auftretenden Häufigkeiten einer Variabilität un-terliegen und eine gewisse Abweichung vom Erwartungswert bei einer wie-derholten Durchführung des Zufallsexperimentes normal ist.  Um den frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff anwenden zu können, muss die Information, dass es sich um einen normalen Spielwürfel handeln soll, ignoriert werden. Dann kann die Häufigkeitsverteilung analysiert und eine relative Häufigkeit von 550=110 nach dem Gesetz der großen Zahlen als Prognosewert für die Wahrscheinlichkeit einer Sechs bestimmt werden. Auswertungsmethode. Zur Auswertung wurde eine qualitative Analyse der Item-Antworten durchgeführt.   Abb. 1: Item, in dem der Laplace-Ansatz und der frequentistische Ansatz konkurrieren, mit einer Schülerantwort (Klasse 8, 13 Jahre). Ergebnisse Die Antworten zeigten, dass sowohl der Wahrscheinlichkeitsbegriff nach Laplace als auch der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff von den Schülerinnen und Schülern angewendet wurden. So antworteten 13 Testper-sonen basierend auf den Laplace-Ansatz mit 16 oder 16, 6̅%; 21 Testpersonen gaben als Wahrscheinlichkeit 550, 110, 10% oder vergleichbare Angaben an. Die verbleibenden 17 Testpersonen gaben keine oder andere Antworten. 1508 Die meisten Testpersonen gaben nur einzelne Zahlen als Lösung an. Verein-zelt war erkennbar, dass ein Abwägen zwischen dem Wahrscheinlichkeits-begriff nach Laplace und dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff stattfand. Bei der Schülerantwort aus Abb. 1 hält es der Schüler für erwäh-nenswert, dass die Gleichwahrscheinlichkeit der Augenzahlen nur gilt, wenn der Würfel auf allen Seiten gleich schwer ist. Zwar ist in der Antwort nicht direkt erkennbar, dass ein frequentistischer Ansatz in Erwägung gezogen wurde, aber die Ergänzung könnte darauf hinweisen, dass die Häufigkeitsta-belle zumindest Irritationen bei der Anwendung des Laplace-Ansatzes ver-ursacht hat. Somit könnte der Schüler sich zu der Ergänzung veranlasst ge-sehen haben, dass 16 natürlich nur gilt, wenn es sich um einen nicht gezinkten Würfel handelt. Ein Schüler (14 Jahre) aus der Klassenstufe 9 gab als Lösung an: „16 , weil die 50 Mal nur ein kleiner Ausschnitt sind und es immer genau gleich wahrscheinlich ist, eine 1, 2, 3, 4, 5, 6 zu würfeln.“ Der Schüler stellte fest, dass die Anzahl der Durchführungen mit 50 zu ge-ring ist, um aus der Häufigkeitstabelle Indizien abzuleiten, dass es sich beim Würfel nicht um eine Gleichverteilung handelt. Eine Schülerin (18 Jahre) aus dem Leistungskurs in Jahrgangsstufe 12 ant-wortete: „550=110 (zu wenig Angaben (Werte?))“ Zwar verwendet sie den frequentistischen Ansatz, verdeutlicht aber durch einen Zusatz in Klammern ihre Zweifel, ob die Anzahl der Durchführungen ausreicht. Diese Aussage könnte darauf hindeuten, dass der Schülerin be-wusst ist, dass beim frequentistischen Ansatz die Verlässlichkeit des Schätz-wertes für die Wahrscheinlichkeit mit zunehmender Anzahl der Durchfüh-rung steigt.  Ein Schüler (17 Jahre, LK12) formulierte als Antwort: „550=110, normalerweise 16 “. Auch dieser Schüler verwendete den frequentistischen Ansatz, erkannte je-doch, dass seine Antwort im Widerspruch zu einer Antwort, die auf dem Wahrscheinlichkeitsbegriff nach Laplace basiert, steht. In welcher Weise das Adverb normalerweise hier zu interpretieren ist, ist unklar. Es könnte ge-meint sein, dass normalerweise die Wahrscheinlichkeit für eine Sechs bei einem Würfel 16 beträgt. Dass ihm trotzdem 110 als die näherliegende Lösung 1509 für diese Aufgabe erschien, deutet darauf hin, dass weder der Wahrschein-lichkeitsbegriff nach Laplace noch der frequentistische Wahrscheinlichkeits-begriff ausreichend konzeptuell durchdrungen wurden. Diskussion Die Schülerantworten zeigen, dass sowohl der Wahrscheinlichkeitsbegriff nach Laplace als auch der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff bei diesem Item angewendet wurden. Bei nur wenigen Schülerinnen und Schüler war in den Antworten identifizierbar, dass erkannt wurde, dass beide Ansätze in diesem Item konkurrieren. Einschränkend muss allerdings erwähnt wer-den, dass das Testformat keine Begründung der Antwort erforderte und da-her nur in Ansätzen erkennbar ist, welcher Denkprozess bei den Schülerin-nen und Schüler stattfand. Im Schulunterricht werden zumeist Aufgaben verwendet, bei denen entwe-der der Laplace-Ansatz oder der frequentistische Ansatz adressiert wird. Aufgaben, bei denen die Lernenden abwägen müssen, welcher der beiden Ansätze im vorgegebenen Kontext angemessener ist, werden selten themati-siert. Wie die vorliegenden Schülerantworten aus unterschiedlichen Jahr-gangsstufen zeigen, bieten gerade solche Aufgaben das Potenzial, ein ver-tiefteres Verständnis der beiden Wahrscheinlichkeitsbegriffe zu erlangen. Hierbei könnte der Begriff der Information ein „unified approach“ (Chernoff & Sriraman, 2014, S. xvii) für die Integration der verschiedenen Wahr-scheinlichkeitsbegriffe sein: „For what a probability does is assigning a num-ber to the aggregate of the currently available information“ (Devlin, 2014, S. xiv). Literatur Batanero, C., Chernoff, E. J., Engel, J., Lee, H. S. & Sánchez, E. (2016). Research on teaching and learning probability (ICME 13 Topical Surveys). Cham, Schweiz: Springer.  Chernoff, E. J. & Sriraman, B. (2014). Introduction to probabilistic thinking: Presenting plural perspectives. In E. J. Chernoff & B. Sriraman (Hrsg.), Probabilistic thinking. Presenting plural perspectives (S. xv–xvii). Dordrecht, Niederlande: Springer. Common Core State Standards Initiative. (2010). Common Core State Standards for Mathematics. Washington, DC: National Governors Association for Best Practices and the Council Chief State School Officers. Devlin, K. (2014). The most common misconception about probability? In E. J. Chernoff & B. Sriraman (Hrsg.), Probabilistic thinking. Presenting plural perspectives (S. ix–xiv). Dordrecht, Niederlande: Springer. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz. (2007). Rah-menlehrplan Mathematik (Klassenstufen 5 - 9/10). Mainz: Autor. 1510

Schülerkompetenzen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Sekundarstufe

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