Binder, Karin

Krauss, Stefan

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 Patrick WEBER, Karin BINDER & Stefan KRAUSS, Regensburg Natürliche Häufigkeiten zur Lösung Bayesianischer Aufga-ben: Systematische Vermeidung statt effektiver Nutzung Einleitung und Theoretischer Hintergrund Aufgrund der vielfältigen Anwendungsbereiche der Formel von Bayes in verschiedenen Domänen (z. B. Medizin und Jura) sind so genannte Bayes-ianische Aufgaben, die das Invertieren gegebener bedingter Wahrscheinlich-keiten erfordern, integraler Bestandteil des Stochastikunterrichts – auch wenn die Formel von Bayes nicht mehr überall explizit gelehrt wird. So fin-den sich auch in vielen Schulbüchern teils sehr realitätsnahe Bayesianische Aufgaben, z. B. Aufgaben zum HIV-Test (Freytag et al., 2008). Üblicherweise werden diese Aufgaben mit Hilfe der Pfadregeln und Wahr-scheinlichkeitsbäumen gelöst. Allerdings existiert seit über 20 Jahren eine gut untersuchte alternative Lösungsstrategie, die anstelle von Wahrschein-lichkeiten (egal, ob in Kombination mit den Pfadregeln oder der Formel von Bayes) auf absolute Zahlen (so genannte natürliche Häufigkeiten) zurück-greift. Die Strategie, natürliche Häufigkeiten zu nutzen, hat sich selbst ohne vorheriges Training wiederholt als intuitiver und verständlicher herausge-stellt (z. B. Gigerenzer & Hoffrage, 1995; McDowell & Jacobs, 2017). Trotz dieser intuitiven Alternative bleiben die typischen Lösungsraten für Bayesianische Aufgaben noch relativ niedrig. Eine aktuelle Metaanalyse ergab, dass gemittelt über sämtliche Studienteilnehmer einer großen Zahl an Studien zum Bayesianischen Denken (darunter auch Schülerinnen und Schü-ler) lediglich 4% der Aufgaben, die im Wahrscheinlichkeitsformat gestellt sind, korrekt gelöst werden, während immerhin 24% der Aufgaben, die mit natürlichen Häufigkeiten formuliert sind, richtig gelöst werden (McDowell & Jacobs, 2017). Wenn die Aufgabe noch durch eine Visualisierung (z. B. ein Baumdiagramm oder Einheitsquadrat) unterstützt wird, so steigen die Lösungsraten zwar auf ca. 50% (z. B. Böcherer-Linder & Eichler, 2017; Bin-der et al., 2015), jedoch erscheint dies immer noch nicht optimal. Woran scheitern also Menschen, die eine Aufgabe im intuitiven Häufigkeitsformat gestellt bekommen, jedoch zur falschen Lösung gelangen? Um diese Frage zu beantworten, prüften wir zunächst explorativ Antwortbö-gen aus früheren Studien zum Bayesianischen Denken (z.B. aus Hoffrage et al., 2015; Binder et al., 2015) und stellten fest, dass viele der Versuchsper-sonen die intuitiven natürlichen Häufigkeiten in Wahrscheinlichkeiten zu-rückübersetzten und schließlich die Aufgabe nicht mehr lösen konnten. Dies In Fachgruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.)Beiträge zum Mathematikunterricht 2018. Münster: WTM-Verlag 1927 – sowie die Tatsache, dass in den uns bekannten Schulbüchern die Bayesia-nischen Aufgaben nahezu ausschließlich mit Wahrscheinlichkeiten erklärt werden (für eine Ausnahme siehe Freytag et al., 2008: S. 103) – legt die Vermutung nahe, dass viele Teilnehmer auf die aus der Schule bekannten, jedoch komplizierteren Wahrscheinlichkeiten vertrauen, anstatt das intuitive Häufigkeitsformat effektiv zu nutzen. Gestützt wird diese Vermutung außer-dem durch den so genannten Einstellung-Effekt (Luchins, 1942), nach dem zuvor gelernte, etablierte Lösungsstrategien potenziell einfachere Strategien überblenden können, was die schnelle und korrekte Lösung eines Problems beeinträchtigen kann. Im Falle der Bayesianischen Aufgaben könnte also die in der Schule stark verfestigte Wahrscheinlichkeitsstrategie eine aktive An-wendung der intuitiven Häufigkeitsstrategie verhindern. Um die Vermutungen systematisch zu überprüfen, führten wir eine empiri-sche Studie mit folgenden Hypothesen durch: Hypothesen zur Unterscheidung von Präsentations- und Rechenformat H1:  Studierende rechnen eher mit Wahrscheinlichkeiten als mit natürli-chen Häufigkeiten, d.h. konkret, sie a. rechnen gegebene Wahrscheinlichkeiten nicht in Häufigkeiten um. b. rechnen gegebene Häufigkeiten in Wahrscheinlichkeiten um. H2: Unabhängig vom Ausgangsformat der Aufgabe gilt:  Studierende, die mit Häufigkeiten rechnen, schneiden besser ab als Studierende, die mit Wahrscheinlichkeiten rechnen. Methode In einem Papier-und-Bleistift-Test bearbeiteten N=183 Studierende der Uni-versität Regensburg jeweils zwei Bayesianische Aufgaben zu zwei verschie-denen Kontexten (Heroinabhängigkeit und Autounfall). Eine der Aufgaben wurde im Wahrscheinlichkeitsformat, eine im Häufigkeitsformat gestellt. Zusätzlich forderten wir bei einer Aufgabe die Zeichnung eines Baumdia-gramms, welches das Problem visualisiert, und stellten den Teilnehmern in der anderen Aufgabe ein ausgefülltes Baumdiagramm zur Verfügung. Ergebnisse und Diskussion Die Ergebnisse der Studie bestätigen die erste Hypothese: Die überwiegende Mehrheit der Studienteilnehmer (77%) rechnete gegebene Wahrscheinlich-keiten nicht in natürliche Häufigkeiten um, obwohl im Einleitungstext zur Aufgabe sogar eine Stichprobe, auf die sich die Wahrscheinlichkeiten bezo-gen, explizit angegeben war (H1a). Auf der anderen Seite rechnete fast die 1928 Hälfte der Studierenden (48%) gegebene Häufigkeiten in Wahrscheinlich-keiten um, obwohl neutral nach einem Anteil gefragt wurde (H1b; siehe Abb. 1). Insgesamt wurden also 66% aller Aufgaben mit Wahrscheinlichkei-ten bearbeitet, was auf eine klare Präferenz dieses Rechenformates gegen-über natürlichen Häufigkeiten schließen lässt.    Abbildung 1: Anteil an Aufgaben, die aktiv mit Wahrscheinlichkeiten bzw. natürlichen Häufigkeiten bearbeitet wurden, in Abhängigkeit vom Präsentationsformat (links: Wahr-scheinlichkeiten, rechts: natürliche Häufigkeiten). Darüber hinaus schnitten Teilnehmer, die natürliche Häufigkeiten als Re-chenformat benutzten, deutlich besser ab, als diejenigen, die sich zum Rech-nen mit Wahrscheinlichkeiten entschieden. So wurden Aufgaben, die mit Wahrscheinlichkeiten berechnet wurden, nur in 14% (bei Aufgaben im Prä-sentationsformat Wahrscheinlichkeiten) beziehungsweise 9% (bei Aufgaben im Präsentationsformat natürliche Häufigkeiten) der Fälle richtig gelöst. Aufgaben, die mit natürlichen Häufigkeiten berechnet wurden, besaßen da-gegen Lösungsraten von immerhin 52% (bei Präsentationsformat Wahr-scheinlichkeiten) beziehungsweise 61% (bei Präsentationsformat natürliche Häufigkeiten; siehe Abb. 2). Diese Ergebnisse bestätigen die Hypothese H2. Insgesamt konnte durch die Studie also der Einstellung-Effekt im Kontext Bayesianischer Aufgaben nachgewiesen werden (vgl. z. B. Luchins, 1942). Da viele Studierende den aktiven Einsatz natürlicher Häufigkeiten zugunsten der aus der Schule vertrauten Wahrscheinlichkeiten vermeiden, können die meisten daraufhin die Aufgabe nicht mehr korrekt lösen. Daher empfehlen wir, Schülerinnen und Schüler – wie auch Lehramtsstudierende für Mathe-matik, Schulbuchautoren und Lehrplangestalter/innen – stärker dazu zu er-mutigen, aktiv Häufigkeitsformate zur Lösung von Aufgaben zu bedingten Wahrscheinlichkeiten zu verwenden.  1929  Abbildung 2: Anteil korrekter Bayesianischer Inferenzen in Abhängigkeit von Präsenta-tions- und Rechenformat Literatur Binder, K., Krauss, S. & Bruckmaier, G. (2015). Effects of visualizing statistical infor-mation – an empirical study on tree diagrams and 2 × 2 tables. Frontiers in psychology, 6(1186). Böcherer-Linder, K. & Eichler, A. (2017). The impact of visualizing nested sets. An em-pirical study on tree diagrams and unit squares. Frontiers in psychology, 7(1186). Gigerenzer, G. & Hoffrage, U. (1995). How to improve Bayesian reasoning without in-struction: Frequency formats. Psychological Review, 102(4), 684–704. Freytag, C., Herz, A., Kammermeyer, F., Kurz, K., Peteranderl, M., Schmähling, R., Schmitt, B., Sinzinger, M., Zebhauser, E. & Zebhauser, M. (2008). Fokus Mathematik 10 Gymnasium Bayern. Berlin: Cornelsen Verlag.  Hoffrage, U., Krauss, S., Martignon, L. & Gigerenzer, G. (2015). Natural frequencies improve Bayesian reasoning in simple and complex inference tasks. Frontiers in Psy-chology, 6(1473). Luchins, A. S. (1942). Mechanization in problem solving: The effect of einstellung. Psy-chological monographs, 54(6), i–95. McDowell, M. & Jacobs, P. (2017). Meta-Analysis of the Effect of Natural Frequencies on Bayesian Reasoning. Psychological bulletin, 143(12), 1273–1312.  1930

Natürliche Häufigkeiten zur Lösung Bayesianischer Aufgaben: Systematische Vermeidung statt effektiver Nutzung

https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/37765/1/BzMU18_WEBER_Bayes.pdf

Natürliche Häufigkeiten zur Lösung Bayesianischer Aufgaben: Systematische Vermeidung statt effektiver Nutzung

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