Eberle, Franz

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Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichUniversity LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.chYear: 2023Wissens- versus Kompetenzorientierung: eine unselige PolarisierungEberle, FranzOther titles: Orientation sur le savoir vs orientation sur les compétences: une polarisation malheureusePosted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-252732Journal ArticlePublished Version  The following work is licensed under a Creative Commons: Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) License.Originally published at:Eberle, Franz (2023). Wissens- versus Kompetenzorientierung: eine unselige Polarisierung. Gymnasium Hel-veticum, 77(2):8-9.8 (Version française de ce texte sur : https://bit.ly/2FYzUdk) GYMNASIUM HELVETICUM 2/2023WEGM Neuer RahmenlehrplanDer Streit um die Kompetenz-orientierung hat auch das Gymnasium er-reicht, aktuell im Zusammenhang mit der Maturitätsreform «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM). So meinte René Roca ebenfalls in der NZZ (31.8.2022), dass nun auch noch die Maturitätsschulen «ins neue System ein-gepasst» würden, aber WEGM «letztlich eine blosse Anpassung an das bereits ge-scheiterte angelsächsische Modell ist, das den Fokus nur noch auf Kompetenzen legt und den Bildungs- und Wissensbegriff weitgehend entleert. … Die nächsten Reform schritte, so etwa die grundsätzliche Infragestellung des Fächerkanons …, sind schon in der Pipeline.» Sind diese Kritiken und Ängste richtig und berechtigt? Die Antwort ist Nein, denn die befürchteten Fehlentwicklungen resultieren keineswegs zwingend. Ein guter kompetenzorientierter Lehrplan und Unterricht vermeidet sie. Abgesehen davon, dass das Ziel des Erwerbs von Kom-petenzen ja bereits seit rund 30 Jahren im Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen (RLP) verankert und nur die Debatte neu ist, werden in diesen Aussagen oberfläch-lich getroffene Annahmen über den Kompetenzbegriff und dessen Implikatio-nen verwendet. Eine unselige Polarisierung und Ideologisierung der Diskussion um die Kompetenzorientierung in der Bildung ist die Folge und ein Aufräumen mit Irrtü-mern sowie eine Differenzierung der Dis-kussion deshalb überfällig. Das ist auch im Hinblick auf die im Rahmen von WEGM laufende Revision des RLP wichtig, denn ein zeitgemässer und zukunftsgerichteter Lehrplan kommt ohne die Grundidee kompetenzorientierter Bildung nicht aus.Zu einer Klärung gehört zunächst eine tragfähige Grunddefinition des Kompetenz begriffs. Aus einer umfassenden Analyse haben 2007 der Psychologe Johan-nes Hartig und der Erziehungswissen-schaftler Eckhard Klieme die nachfolgend zitierten Bestandteile des Begriffs ent-wickelt; sie treten sowohl in der er-ziehungswissenschaftlichen als auch in der pädagogisch-psychologischen Forschung immer wieder zutage (Klieme & Hartig, 2007, S. 21): «Kompetenzen sind Dis-positionen, die im Verlaufe von Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben (er-lernt) werden und die Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebens-Wissens- versus KompetenzorientierungEine unselige PolarisierungDie Kompetenzorientierung in der Schule steht spätestens seit Einführung des Lehr-plans 21 im Sperrfeuer der Kritik. So be-klagte sich der Philosoph Konrad Paul Liessmann bereits vor rund acht Jahren in der NZZ (14.9.2014) über das «Ver-schwinden des Wissens», «denn all die ge-forderten Kompetenzen lassen sich an jedem beliebigen Gegenstand erwerben, Reflektieren und Analysieren kann man alles Mögliche, dazu bedarf es keiner spezi-fischen fachlichen Inhalte.» Und Carl Bossard kritisierte kürzlich in einem Inter-view mit der NZZ (22.11.2022), dass die Schule seit Einführung des Lehrplans 21 «statt auf fachliche und inhaltliche Lern-ziele … vor allem auf den Output fokus-siert. Das zeigt sich in der Kompetenz-sprache. Alles muss messbar und kontrollierbar sein. Das Lernen hat an Be-deutung verloren, und an dessen Stelle ist einseitig das Können getreten. Das hat äus-serst dichte und dicke Lehrplanvorgaben zur Folge.»situationen ermöglichen. Sie umfassen Wis-sen und kognitive Fähigkeiten, Kompo-nenten der Selbstregulation und sozial-kommunikative Fähigkeiten wie auch motivationale Orientierungen.» In dieser Definition ist die sonst üblicher-weise zitierte und auch dem Lehrplan 21 zugrunde gelegte Begriffsbeschreibung von Franz E. Weinert von 2001 bereits ein-gearbeitet. Während Weinerts (2001, S. 27 f.) Definition noch auf die Lösung «be-stimmter Probleme» fokussiert und damit zu Recht einen Teil der Kritik hervor-gerufen hat – Bildung sei mehr als die Aus-bildung von Problemlösenden –, weiten Klieme und Hartig das Zielspektrum all-gemein auf die «Bewältigung von unter-schiedlichen Aufgaben bzw. Lebens-situationen» aus. Gegen diese Hauptaufgabe schulischer Bildung kann wohl niemand sein.In der Bildungspraxis haben sich an-stelle der Elemente des zweiten Satzes der wissenschaftssprachlichen Grunddefinition die folgenden Begrifflichkeiten durch-gesetzt, die auf dem Werk des pädagogi-schen Anthropologen Heinrich Roth (Roth, 1971) beruhen: Sachkompetenzen (fachliche und methodische), Selbst-kompetenzen (persönlichkeitsbezogene) und Sozialkompetenzen (sozial-kommuni-kative) als jene Teilbereiche von Kompe-tenzen, die bei der Bewältigung von Auf-gaben bzw. Lebenssituationen zusammenspielen. Die Pädagogische Psychologie unterscheidet zudem inner-halb dieser Teilbereiche zwischen kogniti-ven und nicht-kognitiven Kompetenzen (z.B. Motivationen und Werthaltungen). Die Verknüpfung von Wissen und Können dient meist als Kurzbeschreibung des Be-griffs Kompetenz. Sie muss noch mit dem Wollen ergänzt werden. Die hier be-schriebenen Bestandteile des Kompetenz-begriffs überschneiden sich und stehen im Hinblick auf die Bewältigung von Auf-gaben bzw. Lebenssituationen in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis.Auf der Grundlage des dargelegten Kompetenzbegriffs ergeben sich nun für den gymnasialen RLP im Hinblick auf das Ausräumen der Befürchtungen vier ent-scheidende Folgerungen. Erstens, die «unterschiedlichen Aufgaben und Lebens-situationen» sind nicht irgendwelche. Für das Gymnasium sind es gemäss Bildungs-zielartikel des MAR/MAV (Art. 5 Ungekürzte Fassung des Artikels in der NZZ vom 15.2.2023Prof. Dr. Franz EberleProfessor emeritus für Gymnasial- und Wirt-schaftspädagogik an der Universität Zürich,Mitglied der Schweizerischen Maturitäts-kommission und des Schweizerischen Wissen-schaftsrats, Präsident der EDK-Kommission für die Anerkennung der Lehrdiplome für Maturitäts-schulen, Alt-Direktor Lehrerinnen- und Lehrer-bildung Maturitätsschulen an der Universität Zürich.9GYMNASIUM HELVETICUM 2/2023Certificate of Advanced Studies (CAS) en Études francophonesCompatible avec un emploi – en ligne – reconnuInformez-vousUne approche transversale de la francophonieUne formation transdisciplinaire en 4 modules     La francophonie: Histoire et politique    Langue française et littératures francophones    La francophonie dans la Cité    Identités culturelles et patrimoines partagésDébut des études4 septembre Durée6 moisCoût5100 CHF** 10% Rabais pour toute inscription avant le 15 mai Délai d’inscription16 août Volume de travail10 crédits ECTS – environ 250 à 300 hType de formationEnseignement 100% en ligne� � �MAR95; Art. 8 neues MAR) die künftige, erfolgreiche Bewältigung eines Studiums (Allgemeine Studierfähigkeit oder -kom-petenz) und die Kompetenz, künftig einen verantwortungsvollen Beitrag zur Lösung anspruchsvoller Aufgaben in der Gesell-schaft leisten zu können (im Sinne einer vertieften Gesellschaftsreife).Zweitens, die Bewältigung von be-stimmten Aufgaben und Situationen er-fordert ganz bestimmte, auf diese Aufgaben und Situationen ausgerichtete Sach-, Selbst- und Sozialkompetenzen, die keines-wegs beliebig sind. Allgemeine Studier-fähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife er-fordern vor allem viel Sachwissen aus einer breiten Zahl von Fächern. In der Lehrplan-arbeit muss deshalb sorgfältig analysiert werden, welches Wissen und Können in den verschiedenen Fächern Voraussetzung für die Allgemeine Studierfähigkeit und Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben in der Gesellschaft ist.Drittens, in welchen Unterrichts-gefässen die Kompetenzen vermittelt wer-den, ist eine nachgelagerte Frage. Im Gym-nasium erfolgt die Förderung in Fächern (curriculare Primärstruktur), die sich an der Gliederung der universitären Fach-wissenschaften orientieren (curriculares Wissenschaftsprinzip). Dafür gibt es gute Gründe, die Vorteile überwiegen. Dazu ge-hört, dass diese Gliederung nicht nur dem Fachwissenschafts- und Erkenntnisprinzip der abnehmenden Hochschulen entspricht, sondern auch besser die Wissenschaftspro-pädeutik als wichtige didaktische Be-sonderheit des Gymnasiums im Sinne des vorwissenschaftlichen Verstehens und Ge-nerierens von Wissenschaft ermöglicht. An-dere, vor allem berufliche Bildungsgänge orientieren sich primär an praktischen Kompetenzfeldern oder wichtigen The-men. Der allgemein bildende Unterricht in der beruflichen Grundbildung beispiels-weise folgt nicht einem fachwissenschaft-lichen Prinzip, sondern lebensrelevanten Themen. Auch dafür gibt es gute Gründe. Die Bildungsidee der Kompetenz-orientierung erfordert aber nicht auto-matisch diese zweite Art von curricularer Primärstruktur, wie sie neuerdings auch für die reformierte Kaufmännische Berufs-bildung vorgesehen ist. Auch in der Fächergliederung des Gymnasiums kann und soll kompetenzorientiert unterrichtet werden!Viertens, das Prinzip des Fachunter-richts am Gymnasium hat auch – allerdings weniger gewichtige – Nachteile. Viele an-spruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft zum Beispiel lassen sich nicht nur aus der Perspektive eines einzelnen Faches lösen. Es braucht Wissen und Können aus ver-schiedenen Fächern, interdisziplinäre Ver-bindungen zwischen den Fächern und zu-weilen fachergänzende Kompetenzen. Die curriculare Fächergliederung bewirkt aber häufig, dass die Lernenden in gymnasialen Lehrgängen in «Fachschubladen» denken und diese Verbindungen nicht machen. Deshalb kommt nun eine zweite curricula-re Ebene (curriculare Sekundärstruktur) ins Spiel. Es handelt sich um die trans-versalen Bildungsbereiche, die sich aus mehr als einem Fach speisen, damit quer zu den Fächern stehen, und um die sich die Unterrichtsfächer nicht nur einzeln, sondern auch koordiniert kümmern müs-sen. Im neuen gymnasialen RLP sollen es die folgenden Bereiche sein: Überfachliche Kompetenzen; basale fachliche Kompeten-zen für Allgemeine Studierfähigkeit; Digitalität; überfachliche Wissenschaftspro-pädeutik; Interdisziplinarität allgemein; Politische Bildung und Bildung für nach-haltige Entwicklung (BNE) als besonders wichtige interdisziplinäre Lerngebiete. Dabei kommen die transversalen Bereiche nicht einfach additiv zu den Fächern hinzu. Die curriculare Primär- und Sekundärstrukturen überlappen und be-dingen sich gegenseitig. Interdisziplinarität und überfachliche Kompetenzen müssen bereits im reinen Fachunterricht angestrebt werden. Ohne fachliche Verwurzelung gibt es diese nämlich gar nicht, das gilt auch für die sogenannten «Zukunftskompetenzen».Aus diesen dargelegten Zusammen-hängen lässt sich bezüglich der eingangs aufgeführten Kritiken und Befürchtungen festhalten: Gut umgesetzte Kompetenz-orientierung am Gymnasium bedeutet keineswegs inhaltsbeliebige Bildung. Sie bildet keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung, sondern erhöht die Bildungsqualität des Fachlernens. Aller-dings erfordert sie den Einbezug trans-versaler Bereiche. Sie bedingt keineswegs Messbarkeit und Kontrollierbarkeit des Outputs und sie führt nicht zwangsweise zu einem überfrachteten Lehrplan und einer Fülle kleinräumiger Lernziele.LiteraturKlieme, E. & Hartig, J. (2007). Kompetenz-konzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In M. Prenzel, I. Gogolin & H.-H. Krüger (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik [Sonderheft 8]. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10, 11–29.Roth, H. (1971). Pädagogische Anthropo-logie. Entwicklung und Erziehung. Band II. Hannover: Hermann Schroedel.Weinert, F. E. (2001). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine um-strittene Selbstverständlichkeit. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. (S. 17–31). Weinheim und Basel: Beltz.Neuer Rahmenlehrplan WEGM

Wissens- versus Kompetenzorientierung: eine unselige Polarisierung

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