In diesem Beitrag wird die Verhaltensvalidität von Fahrern in unterschiedlichen Untersuchungsumgebungen – Fahrsimulator und Realfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr – bei der Fahrzeuglängsführung anhand des Geschwindigkeitsübertretungsverhaltens und dem Abstandsverhalten bewertet

Abendroth, Bettina

Bruder, Ralph

Maul, Daniel

Maul, Stefan

Schreiber, Michael

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GfA (Hrsg.) 2011, Mensch, Technik, Organisation - Vernetzung 157Übertragbarkeit des Längsführungsverhaltens von Simulatorstudien auf Realfahrten - Was macht der Fahrer im Simulator anders als im Feld? Bettina ABENDROTH, Michael SCHREIBER, Daniel MAUL, Stefan MAUL und Ralph BRUDER Institut für Arbeitswissenschaft, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, D-64287 Darmstadt Kurzfassung: In diesem Beitrag wird die Verhaltensvalidität von Fah-rern in unterschiedlichen Untersuchungsumgebungen – Fahrsimulator und Realfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr – bei der Fahrzeug-längsführung anhand des Geschwindigkeitsübertretungsverhaltens und dem Abstandsverhalten bewertet. Schlüsselwörter: Fahrsimulator, Verhaltensvalidität, Geschwindig-keitsübertretungen, Abstandsverhalten. 1. EinleitungProbandenstudien in Fahrsimulatoren sind heute ein wichtiger Bestandteil derFahrzeugforschung, wenn es darum geht die Fahrer-Fahrzeug-Interaktion zu unter-suchen. Fahrversuche im Fahrsimulator sind im Hinblick auf Gestaltung und Repro-duzierbarkeit der Untersuchungsszenarios sowie bei kritischen Fahrszenarios Fahr-versuchen im Feld überlegen. Ebenso sind erste Tests mit neuen Systemen häufig nur im Fahrsimulator möglich, da die Systeme im Realfahrzeug noch nicht verfügbar oder zugelassen sind. Die Frage, in wieweit von einer Übertragbarkeit der in Fahrsimulatoren erhobenen Daten auf das reale Verhalten im öffentlichen Straßenverkehr ausgegangen werden kann, wird jedoch widersprüchlich diskutiert. Im Rahmen der hier vorgestellten Unter-suchungen steht die Verhaltensvalidität der Fahrer im Vordergrund. Analysiert wurde diese durch den Vergleich ausgewählter Kennwerte, die am Institut für Arbeitswis-senschaft (TU Darmstadt) im Rahmen unterschiedlicher Projekte im Fahrsimulator sowie im realen Straßenverkehr erhoben wurden. 2. Methode2.1 Datenerhebung Die in diesem Beitrag dargestellten Ergebnisse basieren auf einer Simulatorstudie mit 41 Probanden sowie einer Feldstudie mit 27 Probanden (Abendroth 2001). An der Simulatorstudie haben 41 Probanden (32 männlich und 9 weiblich) im Alter zwi-schen 19 und 53 Jahren (Ø 28,3 Jahre, SD 9,8 Jahre) teilgenommen. Die Anzahl der Probanden in der Feldstudie lag bei 27 (26 männlich und 1 weiblich) im Alter zwi-schen 31 und 68 Jahren (Ø 52,1 Jahre, SD 10,7 Jahre). In beiden Versuchsreihen befuhren die Fahrer eine Autobahnstrecke. Das Fahrsi-mulator-Szenario entsprach einem 62 km langen Autobahnabschnitt der A3 von Seli-genstadt bis nach Würzburg-Kist. Bei der Feldstudie wurde ein 228 km langer Rund- Lizenz: CC BY 4.0 International - Creative Commons, Namensnennung : https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de158 kurs von Darmstadt über die A5 in Richtung Süden und zurück über die A6, A61, A60, A67 und A672 befahren. Der Fahrauftrag für die Probanden lautete in beiden Studien „wie immer fahren“. Durchgeführt wurden die Versuchsfahrten der Simulator-studie an dem mit der Simulationssoftware STISIM Drive (2.06.08) ausgestatteten statischen Simulator des Instituts für Arbeitswissenschaft, der aus Fahrersitz, Arma-turenbrett und Pedalen eines Mittelklassefahrzeuges sowie einer Rechnereinheit und einem Beamer für die grafische Umgebungsdarstellung besteht. Für die Feldversu-che wurde ein Fahrzeug der oberen Mittelklasse genutzt. 2.2 Datenauswertung Während der Feldversuche wurden unterschiedliche fahrzeugtechnische Mess-werte mit einer Abtastrate von 10 Hz erfasst und später auf eine Speicherfrequenz von 1 Hz aggregiert, im Fahrsimulator wurden die fahrzeugspezifischen Messwerte mit einer Abtastfrequenz von 50 Hz aufgezeichnet. Für die Analyse der Geschwindigkeitsübertretungen wurden aus dem Feldversuch die Daten von Streckenabschnitten mit Tempolimits von 80, 100, 120 oder 130 km/h betrachtet. Zusätzlich wurden aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den Simulator-versuchen die Geschwindigkeiten von über 140 km/h auf die maximal mögliche Höchstgeschwindigkeit im Simulator von 140 km/h zurückgesetzt. Aus den Daten der Simulatorversuche wurden die Streckenabschnitte ausgesucht, die Geschwindig-keitsbeschränkungen von 100 oder 120 km/h aufwiesen. Anschließend wurde für je-den Probanden der beiden Versuchsreihen die mittlere Höhe der Geschwindigkeits-übertretungen berechnet. Zur Analyse des Abstandsverhaltens wurde die Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug in beiden Versuchsumgebungen betrachtet. Da die Sensorreichweite zur Abstandsmessung im Realfahrzeug auf 150 m begrenzt ist, wurden auch bei den Simulatordaten nur Abstandsdaten von maximal 150 m in die Datenauswertung ein-bezogen. Für jeden Probanden wurde mit diesen Daten für jeden Abschnitt einer Folgefahrt die mittlere Zeitlücke berechnet, mit der dem vorausfahrenden Fahrzeug gefolgt wurde. Um die jeweiligen Stichproben einander gegenüberzustellen, werden als empiri-sche Testverfahren t-Tests für unabhängige Stichproben verwendet. Die Vorausset-zung der Normalverteilung der Stichproben kann entweder aufgrund des zentralen Grenzwerttheorems angenommen werden oder wird durch einen Kolmogorov-Smirnov-Lilliefors-Test überprüft. Varianzhomogenität wird mithilfe des F-Tests über-prüft. Liegt diese vor, kommt der t-Test zum Einsatz, bei Varianzheterogenität dage-gen der Welch-Test. 3. ErgebnisseDie Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug beträgt im Feldversuch im Mittelüber alle Probanden und alle Folgefahrt-Abschnitte 1,47 s, während im Simulator der mittlere zeitliche Abstand mit 2,87 s fast doppelt so hoch ist (vgl. Abbildung 1a). Für dieses Ergebnis liegt Signifikanz vor (t = 33,083, df = 846,347, p < 0,001, Varianzhe-terogenität, Welch-Test). Im Fahrsimulator überschreiten die Probanden die Geschwindigkeitsbegrenzung im Mittel um 2,8 m/s (SD 1,64 m/s), während im Feld die Überschreitung im Mittel über alle Probanden bei 3,7 m/s (SD 0,52 m/s) liegt (vgl. Abbildung 1b. Die Ge-  159schwindigkeitsübertretungen im Feldversuch liegen hoch signifikant höher als im Fahrsimulator (t = -3,325, df = 51,276, p = 0,002, Varianzheterogenität, Welch-Test). Bei Analyse der Höhe der Geschwindigkeitsübertretung in Abhängigkeit des gelten-den Tempolimits fällt auf, dass die absolute Geschwindigkeitsübertretung bei niedri-geren Tempolimits höher ist, als bei höheren Geschwindigkeitsbeschränkungen (Ab-bildung 2). Analysiert man dementsprechend nur die in beiden Versuchsumgebun-gen vorkommenden Tempolimits von 100 und 120 km/h, sind die Unterschiede ge-ringer (Simulator Ø 2,8 m/s, Feld Ø 3,4 m/s), jedoch auch statistisch signifikant (t = -2,344, df = 188, p = 0,02, Varianzhomogenität, t-Test für unabhängige Stichproben).   Abbildung 1: a) Verteilung der mittleren Zeitlücken je Folgefahrtabschnitt im Simulator und Feldver-such, b) Verteilung der mittleren Geschwindigkeitsübertretungen je Proband im Simula-tor und Feldversuch   Abbildung 3: Verteilung der mittleren Geschwindigkeitsübertretungen in Abhängigkeit vom Tempoli-mit in Simulator (links) und Feldversuch (rechts)   4. Diskussion  Die Übertragbarkeit der gewählten Fahrgeschwindigkeit von Fahrsimulatorfahrten auf Realfahrten wurde in zahlreichen Studien überprüft. Die meisten Studien konnten eine Validität des Geschwindigkeitsverhaltens nachweisen, tendenziell wurde jedoch im Fahrsimulator schneller gefahren als im Feld (z.B. Harms 1996; Hirata et al. 2007). Für das Geschwindigkeitsübertretungsverhalten liegen hingegen noch keine statistischen Analysen in der Literatur vor. Die Ergebnisse aus den hier verglichenen Studien zeigen, dass die Fahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Feld signifi- 160 kant stärker übertreten als im Fahrsimulator. Dies ist zunächst überraschend, da hö-here Geschwindigkeitsüberschreitungen tendenziell für ein risikoreicheres Fahrer-verhalten stehen und nicht, wie zu erwarten, im Simulator, sondern im Feld auftraten. Grundsätzlich würde man aufgrund der künstlichen Umgebung und dem sich daraus ergebendem niedrigerem Gefahrenpotential bei Fehlverhalten die simulierte Umge-bung mit einem stärkeren Sicherheitsempfinden der Probanden verbinden. Diese Er-kenntnis müsste eigentlich für risikoreicheres Fahrerverhalten im Simulator sorgen. Im Fahrsimulator wählen die Probanden annähernd doppelt so große Zeitlücken zu vorausfahrenden Fahrzeugen als im Feldversuch. Demzufolge kann bezüglich der Zeitlücke, als Maßstab für das Abstandsverhalten, das Verhalten im Fahrsimulator nicht auf die Realität übertragen werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Pane-rai et al. (2001). Sie zeigten, dass sich die in Meter gemessenen Abstände professi-oneller Fahrzeugführer zu vorausfahrenden Fahrzeugen im Simulator und bei einer Realfahrt signifikant unterscheiden und die Abstände im Simulator doppelt so groß sind wie bei der Realfahrt. Erklärungen die Panerai et al. (2001) für die größeren Ab-stände im Fahrsimulator lieferten, waren die schlechteren visuellen Informationen des Simulators gegenüber der Realität, insbesondere die schlechtere Tiefenwahr-nehmung und die durch die Probanden wahrgenommene unnatürliche Verhaltens-weise des simulierten vorausfahrenden Fahrzeugs, die zu Misstrauen führte. Dies könnten auch Gründe für die Zeitlückenvergrößerung in dem in dieser Arbeit betrach-teten Simulator sein. Bei einer innerhalb eines Tunnels durchgeführten Studie kamen Hirata et al. (2007) zu dem Ergebnis, dass im Simulator sowie im Feldversuch ver-gleichbare Abstände zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten wurden. Ein Grund für dieses Ergebnis könnte die Tatsache sein, dass die visuellen Informationen in dem monotonen und dunklen Tunnel in beiden Versuchsumgebungen vergleichbar schlecht sind. Insgesamt zeigen die auf das Längsführungsverhalten bezogenen Ergebnisse, dass schlechtere visuelle Informationen sowie die fehlenden Beschleunigungskräfte eine Unsicherheit beim Fahren im Simulator bewirken. Dies führt zu vorsichtigerem Fahren und somit zum Festlegen anderer Sollgrößen der Fahrzeugführung durch die Probanden im Simulator. Ebenso können die unterschiedlichen mentalen Modelle der Fahrer für das Fahren mit einem Realfahrzeug sowie das Fahren in einem Fahr-simulator, die durch die Erfahrungen der Fahrer mit diesen Aufgaben geprägt wer-den, einen Einfluss auf das Verhalten der Fahrer im Simulator sowie im Feld haben.   5. Literatur  1. Abendroth, B. 2001, Gestaltungspotentiale für ein PKW-Abstandsregelsystem unter Berücksichti-gung verschiedener Fahrertypen. Stuttgart: ergonomia. 2. Harms, L. 1996, Driving Performance on a Real Road and in a Driving Simulator: Results of a Va-lidation Study. In: A.G. Gale, I.D. Brown, C.M. Haslegrave & S. Taylor (Hrsg.), Vision in Vehicles V. Amsterdam: Elsevier, 19-26. 3. Panerai, F., Droulez, J., Kelada, J.-M., Balligand, E. & Favre, B. 2001, Speed and safety distance control in truck driving: comparison of simulation and real-world environment. In: Proceedings of the Driving Simulation Conference DSC. 4. Hirata, T., Yai, T. & Takagawa, T. 2007, Development of the Driving Simulation System MOVIC-T4 and its Validation Using Field Driving Data, Tsinghua Science and Technology, 12, 141-150. 

Übertragbarkeit des Längsführungsverhaltens von Simulatorstudien auf Realfahrten - Was macht der Fahrer im Simulator anders als im Feld?

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