Die Demokratiefeindlichkeit wird in der Schweiz sichtbarer. Ein Grund dafür ist das veränderte Informationsverhalten. Was kann die Soziale Arbeit beitragen, um die Demokratie zu stärken bzw. Demokratiefeindlichkeit abzuwehren

Baier, Dirk

Bühler, Judith

ZHAW digitalcollection

  24    SozialAktuell | November 2023FokusthemaDemokratie und DemokratiefeindlichkeitDemokratie bedeutet, dass sich jeder Mensch in grösst-möglicher Freiheit entfalten kann. Die Freiheit, neue Ideen zu denken, zu diskutieren, Mehrheiten und Konsens dafür zu finden, ist charakteristisch für Demokratien. Diese Freiheit schliesst auch ein, dass Ideen verfolgt werden können, die gegenüber der Demokratie kritisch eingestellt sind. Demokra-tie muss dies aushalten und auf dem Weg der Überzeugung die Mehrheit der Stimmbürger*innen für sich gewinnen und einen Konsens mit den Gegner*innen finden. In jüngster Zeit mehren sich die Zeichen, dass die Demokratie Kräften gegen-übersteht, die gegen ihre Grundprinzipien gerichtet sind. Demokratiefeindlichkeit bedeutet, dass demokratische Grundprinzipien (Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechts-staatlichkeit, Konstitutionalismus, Achtung der Menschen- und Grundrechte, Pluralismus und Medienfreiheit) generell oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen abgelehnt werden. An die Stelle der Demokratie soll ein anderes gesellschaftspoliti-sches Ordnungssystem treten. Neben der politischen Ebene kann Demokratiefeindlichkeit auch andere Ebenen umfassen, so z. B. die Ebene der individuellen Einstellungen (persönliche Ebene) oder die Ebene von kollektiven Akteuren (organisati-onale Ebene).Demokratiefeindlichkeit in der SchweizÜber die persönliche Ebene geben Befragungsstudien zu Einstellungen Auskunft. Neun von zehn Befragten sind mit der Demokratie in der Schweiz zufrieden (Baier, 2022). Dies heisst Demokratiefeindlichkeit –  auch ein Tätigkeitsfeld für  die Soziale ArbeitDie Demokratiefeindlichkeit wird in der Schweiz sichtbarer.  Ein Grund dafür ist das veränderte Informationsverhalten.  Was kann die Soziale Arbeit beitragen, um die Demokratie zu  stärken bzw. Demokratiefeindlichkeit abzuwehren?Text: Judith Bühler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, und Dirk Baier, Institutsleiter, Departement Soziale Arbeit der ZHAW© Judith Bühler & Midjourney   25    SozialAktuell | November 2023 Fokusthemaebenso, dass etwa jeder zehnte Befragte Unzu-friedenheit äussert. Wird das Vertrauen in de-mokratische Institutionen betrachtet, so verwei-sen Studien darauf, dass Gerichte und der Bundesrat ein hohes Vertrauen geniessen, im Gegenzug zu politischen Parteien und Medien. (Szvircsev Tresch, 2023, S. 123). Bestimmte Mei-nungen, die demokratischen Grundprinzipien widersprechen,  kommen in der Bevölkerung vor. So stimmten in der Studie von Baier (2022) 20 % ausländer- und muslimfeindlichen Aussagen zu, 10 % homophoben Aussagen.Auf Basis von Befragungen schätzt Baier (2023), dass circa 2 % der Bevölkerung staatsver-weigernd (und damit demokratiefeindlich) ein-gestellt ist. Bemerkenswert ist, dass anhand verschiedener Schweizer Einstellungsstudien keine signifikante Zunahme solcher Positionen festzustellen ist. Wenn nicht mehr Menschen demokratiefeindlich denken, so scheint aber die Sichtbarkeit von Demokratiefeindlichkeit in den letzten Jahren gestiegen zu sein. Dies bedeutet, dass einzelne demokratiefeindliche Personen oder Gruppen aktiver werden, häufiger in Er-scheinung treten und damit potenziell auch mehr Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen.Wird die organisationale Ebene betrachtet, so finden sich in jüngerer Zeit Beispiele, dass soziale Akteur*innen, die sich für Vielfalt, Men-schenfreundlichkeit sowie Antidiskriminierung usw. einsetzen, systematisch bedrängt werden (u. a. Drohungen, Störaktionen und Mahnwa-chen bei Anlässen). Dies erfolgt online, verbal oder physisch; die Folge sind Angst und Verun-sicherung unter den veranstaltenden Organisa-tionen sowie unter Angehörigen von Minderhei-ten.Schliesslich werden auch auf politischer Ebene demokratiefeindliche Tendenzen sichtbar. Dies zeigt sich einerseits in verschiedenen Diskussio-nen, in denen Pluralität als ein zentraler Grund-wert der Demokratie in Zweifel gezogen wird (z.  B. Ablehnung von inklusivem Sprachge-brauch). Andererseits werden populistisch ge-prägte Referenden und Volksinitiativen lanciert (z. B. «Tschüss Genderstern» in der Stadt Zürich).Verändertes Informationsverhalten und Verschwörungserzählungen1 Das Informationsverhalten der Menschen hat sich in den zurückliegenden Jahren verän-dert und nimmt Einfluss auf die Einstellung zur Demokratie. Klassische Medien haben an Bedeu-tung verloren, soziale Medien an Bedeutung gewonnen. Sie werden von Ebner (2019) als «Ra-dikalisierungsmaschinen» bezeichnet, weil sie es ermöglichen, dass Menschen sich in algorith-mische Echokammern zurückziehen, die ihren Einstellungen entsprechen. Diese Echokammern bieten eine Art Rückzugsort, in dem Menschen in ihrer Haltung Bestätigung erfahren. Diese Komfortzonen sind besonders attraktiv, wenn die erlebte Umwelt ausser Kontrolle gerät und Menschen in ihrer Anpassungs fähigkeit und Am-biguitätskompetenz herausfordert. Solche Kri-sen sind auch Nährböden für Verschwörungser-zählungen (nachfolgend VEs). VEs sind Versuche, ein Ereignis durch das zielgerichtete, heimliche Wirken einer machtvollen Gruppe zu erklären (Nocun/Lamberty, 2020, S. 18). Diese Erklärun-gen vermitteln dem Verschwörungsglaubenden ein Gefühl von Kontrolle über die Situation. Die Glaubwürdigkeit von VEs speist sich dabei aus gefühlter Plausibilität, Feindbildern und der wie-derholten Verbreitung (Blume, 2020, S. 19). Für die Schweiz kann diesbezüglich gesagt werden, dass aktuell mehr als ein Viertel der Menschen eine Affinität zu verschwörungstheoretischem Denken aufweist (Baier, 2021). Verschiedene Stu-dien belegen, das Verschwörungsdenken mit der Ablehnung der Demokratie und der Zustimmung zu extremistischen Haltungen einhergeht und VEs damit eine «Gesellschaft zersetzende» Wir-kung entfalten. Die Konfrontation mit VEs bzw. mit Adressat*innen, die diesen anhängen oder im Fokus von diesen stehen, ist damit eine neue Aufgabe für die Soziale Arbeit (Cox, 2023).Anforderungen an die Soziale ArbeitSoziale Arbeit und Demokratie gehören zu-sammen. Demokratiefeindlichkeit ist auch eine Feindlichkeit gegenüber der Sozialen Arbeit und ihrem Grundverständnis der Teilhabe aller Men-schen. Für die Soziale Arbeit lassen die diskutier-ten Entwicklungen folgende Folgerungen zu: – Soziale Arbeit muss Formen von Demokra-tiefeindlichkeit sichtbar machen und ein Be-wusstsein dafür wecken. – Organisationen, die sich für demokratische Grundprinzipien einsetzen, müssen darauf vorbereitet sein, dass sie mit demokratie-feindlichen Aktivitäten konfrontiert werden und diesbezüglich professionelle Resilienz entwickeln. – Die Soziale Arbeit soll neue anwaltschaftli-che Aufgaben übernehmen, da besonders Adressat*innen-Gruppen der Sozialen Arbeit Gefahr laufen, Ziel von demokratiefeindli-chen Aktionen zu werden. Hierfür ist auch eine professionelle Onlinepräsenz der Sozi-alen Arbeit gefragt. – Soziale Arbeit soll VEs, welche die Tätigkeits-felder sowie die Adressat*innen der Sozialen Arbeit betreffen, dekonstruieren. – Soziale Arbeit soll sich politisch für Demo-kratie engagieren. •LiteraturBaier, D. (2021). Verschwörungs-theorien befeuern Extremismus. Tangram 45, S. 79–84Baier, D. (2022). Sozio-politische Einstellungen in der Schweizer Bevölkerung vor und während der Covid19-Pandemie. ZHAWBaier, D. (2023). Staatsverweige-rer in der Schweiz – eine empiri-sche Annäherung. ZHAWBlume, M. (2020). Verschwö-rungsmythen. Woher sie kom-men, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können. OstfildernCox, C. B. (2023). Conspiracy Theory: The Demand for Social Work Interventions. Families in Society (online first)Ebner, J. (2019). Radikalisie-rungsmaschinen. Wie Extre-misten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren. Frankfurt am MainNocun, K., Lamberty, P. (2020). Fake Fact: Wie Verschwörungs-theorien unser Denken bestim-men. KölnSzvircsev Tresch, T., et al. (2023). Sicherheit 2023 – Au-ssen-, Sicherheits- und Verteidi-gungspolitische Meinungsbil-dung im Trend. ETH ZürichFussnote1.  Theorien sind wissenschaft-lich überprüfbare Erklärun-gen – damit widersprechen sich die Begriffe «Verschwö-rung» und «Theorie» im wis-senschaftlichen Sinne. Aus diesem Grund wird in diesem Text der Begriff «Verschwö-rungserzählung» verwendet.

Demokratiefeindlichkeit : auch ein Tätigkeitsfeld für die Soziale Arbeit

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