Große Kracht, Hermann-Josef

German

Open Access-Zeitschriften an der WWU Münster (Westfälische Wilhelms-Universität)

THEOLOGISCHE REVUE  119. Jahrgang – Juni 2023 –    Gottloser Staat? Im interdisziplinären Gespräch mit Horst Dreier, hg. v. Michael KÜHNLEIN. – Baden-Baden: Nomos 2022. 240 S. (Texte und Kontexte der Philosophie, 5), brosch. € 34,00 ISBN: 978-3-8487-5547-9  Horst Dreier gehört zur ersten Riege der deutschen Staats- und Verfassungsrechtler. Im Juni 2018 erschien im Beck-Verlag sein viel beachteter Bd. Staat ohne Gott. Der etwas reißerische, auf den Verlag zurückgehende Titel – der Autor wollte das Buch eigentlich „Der säkulare Staat“ nennen, was treffender, aber auch langweiliger gewesen wäre – weckte zunächst den Eindruck einer laizistischen Kampfschrift, was aus dem Kreis der deutschen Staatsrechtslehre eine echte Sensation gewesen wäre. Aber schon der erste Satz gab Entwarnung: „‚Staat ohne Gott‘ heißt nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott.“ (2018, 9) Vielmehr schaffe erst der säkulare Staat wichtige Voraussetzungen für die freie und ungehinderte Entfaltung der Religionen und des religiösen Lebens. Dennoch: Die wuchtige Ansage Staat ohne Gott hat für Aufregung gesorgt. Nun hat Michael Kühnlein in seiner verdienstvollen, 2016 gestarteten Reihe „Texte und Kontexte der Philosophie“ einen ersten Diskussionsbd. zu Dreiers Staat ohne Gott hg. Beteiligt sind (außer Kühnlein selbst) vierzehn profilierte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kirchen und Politik. Für ‚die Politik‘ verweisen Wolfgang Schäuble und Wolfgang Thierse u. a. darauf, dass der bundesrepublikanische Staat keineswegs so ‚gottlos‘ ist, wie Dreier ihn gerne hätte. So sei der Deutsche Bundestag, wie Schäuble betont, kein Parlament ohne Gott, was schon an den Morgenandachten in den Sitzungswochen deutlich werde, auch wenn daran heute nicht mehr, wie früher einmal, bis zu hundert, sondern nur noch „etwa zehn“ Personen teilnähmen (39). Thierse befürchtet, dass die Formel vom ‚Staat ohne Gott‘ einer „Privilegierung von Religionslosigkeit“ (155) Vorschub leiste, wobei der Staat grundsätzlich kein säkulares Abstraktum sein könne, sondern unhintergehbar „religions- und weltanschauungsdurchwirkt“ sei (157). Für ‚die Kirchen‘ betont Wolfgang Huber im Blick auf die Anerkennung und Wertschätzung der Menschenrechte, dass „ein allzu legalistischer und etatistischer Umgang“ mit ihnen, wie Dreiers Neutralitätsmaxime ihn (angeblich) verlange, nicht ausreichend sei, da nun einmal „über die persönliche Bindung an Menschenwürde und Menschenrechte nicht nur in neutralen Ausdrücken gesprochen werden“ könne (150f). Überraschend ist im Blick auf die Kirchen, dass Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte des Rates der EKD, an Staat ohne Gott nichts auszusetzen hat und das Buch geradezu emphatisch feiert (159–165).  Aus ‚der Wissenschaft‘ finden sich verschiedene Beiträge aus der Politikwissenschaft (Hans Maier, Peter Nitschke), den Rechtswissenschaften (Christian Hillgruber, Thomas Gutmann, Ulfrid Neumann), der Philosophie (Peter Koller, Kühnlein), der Religionswissenschaft (Astrid Reuter) sowie Theologische Revue 119 (Juni 2023)                                       Kühnlein_Gro DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2023-4948 2  der Ev. (Rochus Leonhardt, Michael Moxter) und der Kath. Theol. (Johanna Rahner). Die meisten Beiträge sympathisieren zwar nicht unkritisch, aber doch weitgehend mit Dreiers Grundanliegen (und können hier nicht einzeln skizziert werden). Dezidierte Gegenpositionen beziehen lediglich Hillgruber und Nitschke. Hillgruber gesteht dem Staat des Grundgesetzes umstandslos zu, „sich unter Verwendung sinnfälliger Symbole selbst darzustellen und dabei auch religiös zu positionieren“ (47), etwa beim Schulkreuz. Er hält auch – gegen die geltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – eine ungleichmäßige Förderung der christlichen Großkirchen nach dem „Maß ihrer Verfassungskompatibilität“ (50) für legitim und wünschenswert. Nitschke plädiert im Blick auf die nominatio Dei in der Präambel des Grundgesetzes sogar dafür, dass sich auch staatspolitisch „die oft willkürlich an zeitbedingten Effekten orientierte Vernunft […] das Wort Gottes zum Maßstab machen“ solle (114). Im Jahr 2022 auf ein solches Plädoyer für eine unvermittelte Gottes- statt Volkssouveränität zu treffen, verblüfft dann doch. Das Herzstück des Bd.es bildet die abschließende Replik (223–238), in der Horst Dreier v. a. auf sein Verständnis der ‚religiös-weltanschaulichen Neutralität‘ des Staates zu sprechen kommt. Dreier betont hier sehr deutlich, dass es sich als Anhänger der ‚Reinen Rechtslehre‘ des österreichischen Rechtspositivisten Hans Kelsen versteht, der ähnlich wie Max Weber von der Unbegründbarkeit von Werturteilen ausging und in diesem Sinne eine formale, von inhaltlichen Vorgaben religiöser oder sittlicher Art abgekoppelte, eben ‚reine‘ Lehre des Rechts, des Staates und der Demokratie entwickelte. Von daher erklärt sich Dreiers scharfe Absage an eine Sakralisierung des Staates, der Verfassung oder der Menschenrechte, aber auch seine Distanz zu Jürgen Habermas und den Vorstellungen einer deliberativen Demokratietheorie. Wenn Habermas etwa verlange, dass bei Parlamentsdebatten „religiöse Stellungnahmen oder Rechtfertigungen aus dem Protokoll zu streichen“ seien (zit. nach 229), dann artikuliere sich darin „der Grundfehler“ einer liberalen Vernunft, die dazu neige, „nur der Religion ein Rationalitätsdefizit zu unterstellen“ (230). Es sei aber freiheitsrechtlich und demokratietheoretisch inakzeptabel, von allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft zu erwarten, „sich in einer säkularen Sprache (was auch immer das genau sei) auszudrücken“ (230). Zudem schuldeten sich die Bürger:innen in der liberalen Demokratie für ihre Auffassungen und Überzeugungen keineswegs wechselseitig ‚gute Gründe‘, wie in der deliberativen Demokratietheorie regelmäßig unterstellt werde. Sie schulden einander, wie Dreier 2018 geschrieben hatte, „im Grunde gar nichts. Es ist ihr gutes Recht, ihre womöglich noch so bornierten Interessen völlig diskursfrei zu vertreten und zu verfolgen.“ (2018, 107) In diesem Sinne schwebt Dreier nicht ein deliberativer, sondern – mit Kelsen – ein „robuster Demokratiebegriff“ vor, „der sich nicht an den philosophischen Stilisierungen eines rationalen Diskurses mit dem viel zitierten zwanglosen Zwang des besseren Arguments, sondern an den von Macht-, Interessen- und Konfliktstrukturen orientierten [gemeint ist wohl: geprägten; HJGK] Entscheidungsprozessen auch und gerade im modernen Parlamentarismus orientiert“ (231). So sympathisch und aussichtsreich eine derart nüchterne Konzeption gerade für die hochgradig pluralisierten Dissens-Gesellschaften der Gegenwart erscheinen mag: eine entscheidende Flanke bleibt bei Dreier (noch) offen, und dies räumt er auch ein. Die „Strukturen des freiheitlichen Verfassungsstaates“ (237) allein reichen nämlich nicht aus, um das gegenwärtig ja auch in vielen Ländern Europas in die Krise geratene Projekt der Demokratie zu retten. Notwendig seien auch eine „lebendige demokratische Kultur“ und eine „zivilgesellschaftliche Basis“, „die die rechtlichen Vorgaben […] mit Leben erfüllen“ (237). Zur Frage, wie sich diese für den säkularen Staat Theologische Revue 119 (Juni 2023)                                       Kühnlein_Gro DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2023-4948 3  unverzichtbaren soziomoralischen Ressourcen der Demokratie gesellschaftlich entwickeln und verlässlich regenerieren können, schweigt sich Dreiers Replik leider aus. Im Jahr 2018 hatte er noch davon gesprochen, dass es im Blick auf das Verbindende vielleicht schon ausreichen könnte, „wenn man sich einig darin wäre, allfällige Konflikte in geregelten Verfahren und auf einem klar abgegrenzten Turnierfeld auszutragen“ (214). Allein: Das dürfte für den notwendigen sozialen Zusammenhalt in der Demokratie dann doch zu wenig sein.   Über den Autor:  Hermann-Josef Große Kracht, apl. Prof. Dr. phil., theol. habil., M.A, Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt (grossekracht@theol.tu-darmstadt.de)  

Gottloser Staat? Im interdisziplinären Gespräch mit Horst Dreier, hg. v. Michael Kühnlein

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Gottloser Staat? Im interdisziplinären Gespräch mit Horst Dreier, hg. v. Michael Kühnlein

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