Gerlach (geb. Tiedemann), Kerstin

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Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM)

GDM-Mitteilungen 114 · 2023 Personalia 83Nachruf auf Ludwig BauerFritz Haselbeck und Matthias BrandlProfessor em. Dr. LudwigBauer ist am 9. Juni 2022im Alter von 76 Jahrenin Wörth a. d. Donau ver-storben. Er war von 1982bis 2011 an der UniversitätPassau tätig.Ludwig Bauers Ideenund Konzepte fanden inder Mathematikdidaktiknachhaltige Resonanz. Ei-ne besondere Würdigung erfuhren seine Arbeitenund Untersuchungen zum Interessensbegriff, zumSpannungsverhältnis zwischen Stoffstruktur undsubjektiven Denkweisen, zur kognitiven Bedeutungmathematischer Verfahrensweisen, zu einer gutenAufgabenkultur, zur Lernwerkstattarbeit im Sin-ne des Lernens mit Kopf, Herz und Hand, zuMethoden kreativer und spielerischer Lernformen,zu Dimensionen einer verantworteten Leistungs-bewertung und in besonders ausgeprägter Weisezu didaktischen Themen der Unterstützung rechen-schwacher Kinder.Ludwig Bauer hat mit seinen Gedankengängenüberzeugt und angesteckt. Seine vorgelegten Kon-zepte einer souverän strukturierten Mathematikleh-re, seine durchdachten Lernkonstrukte sowie seineaufhellenden Unterrichtsbeispiele zeugten von ei-ner differenzierten, psychologisch vielseitig bedach-ten und versiert pragmatisierten Didaktik. In An-lehnung an Martin Wagenschein waren für LudwigBauers Didaktik-Verständnis Attribute wie „gene-tisch“, „sokratisch“ und „exemplarisch“ prägend.Angehende Lehrerinnen und Lehrer lernten beiLudwig Bauer, diesen Dingen auf den Grund zu ge-hen, sie didaktisch, psychologisch und methodischumsichtig zu betrachten und wertend zu erörtern.Seine Leistungen als Fachdidaktiker und Per-sönlichkeit verdienen Respekt, Anerkennung undWertschätzung.Mit Ludwig Bauer verlässt eine Persönlichkeitdie Mathematikdidaktik, die ein stabiles menschli-ches Wertefundament auszeichnete, das er genau-so überzeugend wie vorbildlich konturiert gelebthat. In angenehmer Weise präsentierte er eine of-fene entgegenkommende Art und ein Höchstmaßan respektvoller Haltung und Wertschätzung. Manspürte seinen intelligenten Blick für die Perspektivedes Anderen; Toleranz, klar logisch entfaltetes, po-sitiv gepoltes Denken und zielbestrebtes Handelncharakterisierten seine Alltagshaltung und Kom-munikation mit seinen Mitmenschen. Diese Eigen-schaften gaben Ludwig Bauer als Persönlichkeitund sozialer Partner charakterliche Substanz undTiefe. Sein Name stand für Aufgeschlossenheit undVerantwortung, Gediegenheit und Solidarität, fürreflektiertes Nachsinnen und geistige Tiefenschärfeohne ablenkende Metaphorik.In diesem Sinne hat er seine beruflichen Auf-gaben im Dienst einer ernsthaften „didaktischenMaßgabe“ mit großem Engagement gestaltet, mitkreativen Ideen und mit einem überzeugenden per-sönlichen Standpunkt ausgestattet. Der Aspekt derdisziplinvollen Selbstschulung in Zusammenhangmit vornehmer Höflichkeit äußerte zentrale Merk-male seiner Persönlichkeit. Prof. Ludwig Bauer hatfür uns mit bleibender Wirkung wertvolle Maßstäbegesetzt.Fritz Haselbeck, ehemals Universität PassauE-Mail: dr.haselbeck@web.deMatthias Brandl, Universität PassauE-Mail: matthias.brandl@uni-passau.de84 Personalia GDM-Mitteilungen 114 · 2023Nachruf auf Heinrich BauersfeldKerstin Gerlach (geb. Tiedemann)Als Heinrich Bauersfeld 2012 in einem Interviewgefragt wird, welche Wissenschaftler ihn in seinerArbeit als Mathematikdidaktiker am stärksten be-einflusst hätten, ist seine Antwort klar: “I see, nearlyall of them were ‘travelers’ among many depart-ments (. . . ).” (vgl. Karp und Roberts 2014, S. 52 f.).Bauersfelds Vorbilder waren Reisende zwischen Fa-kultäten, wissenschaftlichen Disziplinen und Com-munitys. Sie haben Grenzen überschritten, neueund zunächst vielleicht fremdartige Ideen aufge-griffen und sie auf bereichernde Weise für das ei-gene Denken und Forschen genutzt. Als Beispielefür solche Reisenden nennt Bauersfeld Ernst vonGlasersfeld, Niklas Luhmann und jenen Wissen-schaftler, der ihn persönlich wie wissenschaftlicham meisten geprägt habe, Jerome Bruner.Bauersfeld wird 1926 in Frankfurt am Main ge-boren, wo die Familie zunächst lebt, bevor sie in denfrühen 1930er-Jahren nach Hannover zieht. Die Zeitdes Nationalsozialismus erlebt Bauersfeld als Schü-ler. Er erlebt, wie seine Schule 1941 zum Militär-krankenhaus umfunktioniert wird und er selbstim Februar 1943 wie alle Jungen seines Jahrgangsals Flakhelfer eingesetzt wird. Bei den Angriffenauf Hannover im November 1943 wird die elter-liche Wohnung komplett zerstört. Der 86-jährigeBauersfeld erinnert sich später, dass dabei nichtnur die umfangreiche Bibliothek seines Vaters, son-dern auch seine eigenen Bücher vernichtet wurden(ebenda, S. 36).Nach dem Krieg bleibt Bauersfeld in Hannoverund studiert dort von 1946 bis 1951 das Lehramtfür höhere Schulen mit den Fächern Mathematik,Physik und Chemie. 1954 wird er unter der Be-treuung des Mathematikers Lothar Collatz mit ei-ner Arbeit zum Thema „Zum Differenzenverfahrenbei Anfangswertaufgaben partieller Differentialglei-chungen 2. Ordnung in zwei abhängigen Veränder-lichen“ an der Technischen Hochschule Hannoverpromoviert. Nach Stationen in Osnabrück und er-neut Hannover folgt Bauersfeld 1966 einem Ruf andie Universität in seiner Geburtsstadt Frankfurt amMain.In Frankfurt am Main erlebt er den Streit umdie Mengenlehre an deutschen Grundschulen. AufGrundlage eines Beschlusses der Kultusminister-konferenz aus dem Jahr 1968 wird sie als moderneMathematik in den frühen 1970er-Jahren an Grund-schulen eingeführt. Bauersfeld begleitet diese Re-form von 1969 bis 1974 als Mitglied der Bildungs-kommission des Deutschen Bildungsrats und Vorsit-zender des Ausschusses „Schulnahe Curriculums-entwicklung“ ebenso wie als forschender und dis-kussionsfreudiger Professor. Im Frankfurter Projektentwickelt er (anfänglich mit seinem FrankfurterKollegen Weis) einen Lehrgang zur Mengenlehresamt Lehrwerk alef und erprobt beides vier Jahrelang in 40 hessischen Versuchsklassen. Als die Kri-tik an der modernen Mathematik lauter wird undder SPIEGEL 1974 auf seiner Titelseite provokantfragt, ob die Mengenlehre krank mache, meldetBauersfeld sich in einem Interview zu Wort undwirbt dafür, der modernen Mathematik eine Chan-ce zu geben: „Ein Rückfall in den alten Rechenun-terricht wäre das Schlimmste, was uns passierenkann.“ (SPIEGEL vom 24. 3. 1974) Bauersfeld un-termauert seine Position mit Ergebnissen aus demFrankfurter Projekt, wonach die Rechenfertigkeit inden Versuchsklassen keinesfalls geringer sei als inden Klassen der Kontrollgruppe. Die Mengenlehrewird später trotzdem aus den Lehrplänen für dieGrundschule gestrichen.Mitten in der hitzigen Debatte um die Mengen-lehre wechselt Bauersfeld 1974 an die UniversitätBielefeld, wo er bis zu seiner Emeritierung 1993bleiben wird. Er wird als einer der drei Gründungs-direktoren an das von der VW-Stiftung neu gegrün-dete Institut für Didaktik der Mathematik (IDM)berufen. Hier leitet er die Arbeitsgruppe „Kommu-nikation im Unterricht“ und widmet sich fortanausschließlich der Forschung. Inhaltlich gerät nachdem individuellen Erwerb von Rechenfertigkeitennun die soziale Dimension des Mathematikunter-richts in seinen Fokus. Die Bedeutungskonstruk-tion durch soziale Interaktion wird als eine vonvier „hidden dimensions“ des Mathematikunter-richts zentraler Gegenstand seiner Arbeit (Bauers-feld 1980):Instead, we saw as core problems the commu-nication between teachers and students, withthe failing of their mutual understanding and at-tributing of related consequences and reactions.(Karp und Roberts 2014, S. 46)Bauersfeld fördert interaktionistische Ansätze undsetzt die zentralen Impulse zur Entwicklung dernoch heute lebendigen Interpretativen Forschungin der Mathematikdidaktik. Er kooperiert u. a. mitGDM-Mitteilungen 114 · 2023 Personalia 85Paul Cobb, einem Schüler von Glaserfelds, undbeginnt, Interaktionsprozesse im Mathematikunter-richt zu rekonstruieren: Wie konstruieren Lehrendeund Lernende in alltäglicher Unterrichtsinteraktiongemeinsam und Schritt für Schritt mathematischeBedeutung?Bauersfeld hat keine Schule gebildet und auchkein umfassendes Buch geschrieben. Er hat sichstattdessen in zahlreichen Vorträgen und Artikelnnational und international zu Wort gemeldet unddabei nicht nur eine beeindruckende Bandbreitean Themen, sondern auch an Perspektiven geboten.Er war zeitlebens von der Funktionsweise unse-res Gehirns begeistert, hat neurowissenschaftlicheForschungsergebnisse rezipiert, psychologische ge-nauso wie soziologische Theorien zur Erforschungdes Mathematikunterrichts genutzt:Teaching and learning appeared as psycholog-ical and social events that come about in thesubculture of a classroom. (ebenda)Eine Integration psychologischer und soziologi-scher Sichtweisen hat Bauersfeld selbst nicht unter-nommen; er hat sich (und nachfolgende Forschen-de) nicht festgelegt. Er hat vielmehr das Feld für dienoch junge Disziplin Mathematikdidaktik geöffnet.Und vielleicht liegt gerade darin die größte Leis-tung dieses Mathematikdidaktikers der ersten Stun-de: Bauersfeld war offen für andere Disziplinen,Sichtweisen und Ideen. Er hat unterschiedliche Per-spektiven aufgegriffen, aufeinander bezogen undnebeneinanderstehen lassen. Er hat Fragen gestelltund konnte es aushalten, nicht auf alles eine (einfa-che) Antwort zu haben. Er hat die Mathematikdi-daktik zur Vielfalt ermuntert. Dieser Duktus machtdie Lektüre von Bauersfelds wohlformulierten Tex-ten noch heute vergnüglich und zu einer Bereiche-rung für alle, die in der Mathematikdidaktik for-schen. Seine Texte sind eine Ermunterung, tradier-te oder sich gerade erst bildende Grenzen immerwieder zu überschreiten: Was haben andere Dis-ziplinen, Forschungsrichtungen und Forschungs-traditionen beizutragen? Was können wir z. B. ausanderen Forschungsarbeiten lernen, wenn es darumgeht, gelingende Unterrichtsgespräche zu gestalten?Was sind überhaupt gelingende Unterrichtsgesprä-che? Ob es um fragwürdige Interaktionsmuster imUnterricht (Bauersfeld 1978), um den unterrichtli-chen Umgang mit Sachaufgaben (Bauersfeld 1991)oder um Konsequenzen neurowissenschaftlicherForschung für das Lehren und Lernen von Mathe-matik (Bauersfeld 2000) ging, Bauersfeld hat beiaktuellen mathematikdidaktischen Fragen jenseitsvon disziplinären Grenzen gelesen, geforscht undkommuniziert.Spricht man heute mit ehemaligen Mitarbeiternund Studierenden von Bauersfeld, dann schimmerteine Besonderheit der Person früher oder späterdeutlich durch: Bauersfeld konnte begeistern. Erwar ein brillanter Redner in Vorlesungen, persönli-chen Gesprächen und wissenschaftlichen Vorträgen.Er war humorvoll und einnehmend. Er konnte Er-forschtes, Gelesenes und Gedachtes auf charmanteWeise zugänglich machen. Er las Zeitschriften ausaller Welt und nahm sich Zeit für ausführliche Dis-kussionen. Er war ein Formulierungskünstler undhatte ein fein ausgebildetes Gespür für theoretischeInkonsistenzen. Er ist als Wissenschaftler durch un-terschiedliche Disziplinen, Gedankenwelten undForschungsrichtungen gewandert.Heinrich Bauersfeld war ein Reisender. Er starbam 1. Dezember 2022, seinem 96. Geburtstag.LiteraturBauersfeld, H. (2000). Neurowissenschaft und Mathema-tikdidaktik. In E. Begemann (Hrsg.), Lernen verstehen –Verstehen lernen (S. 147–168). Frankfurt am Main: PeterLang.Bauersfeld, H. (1991). Sachaufgaben! Nichts als Ärger!?Gesprächsbrocken aus dem Lehrerzimmer oder Fol-gen des Eindeutigkeitsbestrebens. Die Grundschulzeit-schrift, 42(5), 8–10.Bauersfeld, H. (1980). Hidden dimensions in the so-calledreality of a mathematics classroom. Educational Studiesin Mathematics, 11(1), 23–41.Bauersfeld, H. (1978). Kommunikationsmuster im Mathe-matikunterricht. Eine Analyse am Beispiel der Hand-lungsverengung durch Antworterwartung. In H. Bau-ersfeld (Hrsg.), Fallstudien und Analysen zum Mathema-tikunterricht (S. 158–170). Hannover: Schroedel.Karp, A. & Roberts, D. L. (2014). Leaders in MathematicsEducation: Experience and Vision. Rotterdam: Sense Pu-blishers.Kerstin Gerlach (geb. Tiedemann), Universität BielefeldE-Mail: kerstin.gerlach@uni-bielefeld.de

Nachruf auf Heinrich Bauersfeld

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