Einleitung der Gastherausgeber/in des Themenheft

PD. Dr. Klein, Christian

Prof. Dr. Martínez, Matías

Prof. Dr. Wolff, Lynn L.

German

Elektronische Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Wuppertal

- 1 -  Christian Klein, Matías Martínez und Lynn L. Wolff Einleitung Wirklichkeit erzählen im Comic Comics werden häufig gerade mit solchen Elementen assoziiert, die mit unse-rer Wirklichkeit nicht viel zu tun haben. Die Prominenz von sprechenden Tie-ren, Superhelden oder phantastischen Science-Fiction-Welten – um nur einige dieser Elemente zu nennen – lässt oft übersehen, dass auch faktuale Erzählun-gen von Anfang an zum Kernbestand des Comics gehörten. Während sich fiktionale Texte dadurch auszeichnen, dass sie vermittelt durch einen fiktiven Erzähler Sachverhalte präsentieren, ohne eine Referenz des Dargestellten auf eine Wirklichkeit außerhalb des Textes zu behaupten, erheben faktuale Texte den Anspruch, dass das geschilderte Geschehen eine konkrete außersprachli-che Wirklichkeit wiedergibt. Die Leser erwarten von Wirklichkeitserzählungen entsprechend, dass die dargestellten Ereignisse tatsächlich wie geschildert statt-gefunden haben, dass sie so stattfinden sollten (im Falle von normativen Wirk-lichkeitserzählungen wie etwa Ratgebern) oder dass sie so stattfinden werden (im Falle von voraussagenden Wirklichkeitserzählungen wie etwa naturwissen-schaftlichen Prognosen; zum Konzept ‚Wirklichkeitserzählung‘ vgl. Klein / Martínez 2009). In der Comicforschung findet sich zur Bezeichnung faktualer Comics eine Vielzahl an Begriffen (vgl. Hangartner 2016, 291-303). Einige von ihnen akzen-tuieren den spezifischen Gegenstandsbereich oder Geltungsanspruch faktualer Comics, wenn von „Fact-based Comics“ (Kunzle 2017), „Nonfiction Comics“ oder „Factual Comics“ (Williams 1999) die Rede ist. Die Mehrzahl der Gat-tungsbegriffe geht allerdings vom Zweck bzw. der Wirkungsabsicht faktualer Comics aus. Will Eisner (2000) profiliert mit seinem Begriff „Instructional Comics“ die handlungsanleitende Funktion von solchen Comics, die technisch-instrumentelles Fachwissen vermitteln oder das konkrete Verhalten der Leser in typischen Situationen steuern wollen. Auch Heike Elisabeth Jüngst (2010) stellt mit ihrem Terminus „Information Comics“ die kommunikative Funktion ins Zentrum ihrer Abgrenzung dieser Untergruppe von Comics. Besonders populär wurde indes der Begriff „Educational Comic“ zur Bezeichnung von Comics „that deal in ‚facts‘ instead of ‚fiction‘“ (Rifas 2010, 161). Darüber hin-aus haben sich mittlerweile zur Bezeichnung besonders prominenter faktualer Subgenres eigene Termini wie „Graphic Memoir“ (für auto-/biographische Erzählungen im Graphic Novel-Format) oder „Comic-Reportage“ (für journa-listisch-dokumentarische Comic-Erzählungen) durchgesetzt. Schon früh etablierte sich faktuales Erzählen als feste Größe in der Ge-schichte des Comics (vgl. Duncan et al. 2016). Legt man den wirkungsbezoge-nen Definitionsansatz zugrunde, dann lassen sich bereits zu Beginn des 20. DIEGESIS 8.1 (2019) - 2 -  Jahrhunderts klare Vertreter des „Educational Comic“ ausmachen. So veröf-fentlichte etwa der deutsch-amerikanische Comiczeichner Ernst Riebe ab 1912 in einer US-amerikanischen Gewerkschaftszeitung die Erlebnisse des fiktiven Charakters Mr. Block, der aufgrund seiner Gutgläubigkeit zum leichten Opfer kapitalistischer Propaganda und Ausbeutungsprozesse wird. Ein Blick in die Comicgeschichte macht schnell deutlich, dass sich auch Wirklichkeitserzählun-gen im engeren Sinne, also solche Comics, die referentialisierbare Geschehnis-se im faktualen Darstellungsmodus präsentieren, schon sehr früh in verschie-denen Formaten finden lassen. So erschien ab 1918 mit Robert Ripleys Zeitungsstrips Believe It or Not im New York Globe ein Comic, der sich kuriosen Fakten aus allen Wissensbereichen widmete, enorme Popularität erreichte und im Laufe der Zeit in andere Medienformate übernommen wurde. In den 1920er Jahren hatte James C. Mansfield mit seinen Comicstrips Highlights of History, die in zahlreichen US-amerikanischen Zeitungen von 1926 bis 1939 erschienen und zentrale Momente der Menschheitsgeschichte fokussieren, großen Erfolg. Als sich dann Anfang der 1940er Jahre mit den Comic-Heften ein neues Publikationsformat jenseits der Zeitungsstrips durchsetzte, das die Möglichkeit bot, längere Geschichten in Comicform zu präsentieren, nutzte man diese auch für Wirklichkeitserzählungen. Den Anfang machte 1941 die von George J. Hecht verantwortete Heftreihe True Comics, die zum Vorbild für viele andere faktuale Comic-Heftreihen wurde. Hecht wollte mit seiner Reihe dem lauter werdenden Vorwurf, Comics wären nur auf Spannung und Nervenkitzel aus, der umso größer ausfalle, je unrealistischer die Handlung sei, etwas entgegen-setzen. Das auf dem Heftumschlag abgedruckte Motto lautete entsprechend: „Truth is stranger and a thousand times more interesting than fiction!“ 1942 gründete M.C. Gaines den Verlag Educational Comics, in dem er Heftreihen wie Picture Stories from the Bible, Picture Stories from American History oder Picture Stories from Science herausbrachte. Ab 1951 erschien die von Will Eisner verantwortete Reihe PS – The Preventive Maintenance Monthly, in dem er für das US-amerikanische Militär Verhaltens- und Wartungsratschläge in unterhaltsamer Form präsentierte. Ab 1953 erschien erstmals auch in Deutschland mit Aben-teuer der Weltgeschichte eine eigene faktuale Comic-Heftreihe. Seit dem Ende der 1960er Jahre wurde der Comic dann im Kontext der Underground-Bewegung zunehmend als Ausdrucksmedium persönlicher Er-fahrungen genutzt. Mitte der 1970er gründete der Underground-Comiczeichner Leonard Rifas den Verlag EduComics, in dem er Comics her-ausbrachte, die über die gesellschaftlichen und politischen Folgen so verschie-dener Themen wie Atomkraft, Tabak, Lebensmittel oder Aids aufklären. Grundlage dieser Comics waren akribische Recherchen, die Rifas charakteristi-scherweise mit einer dezidierten Haltung verband. Die Kombination von zu-verlässiger Information und subjektiver Wahrnehmung lässt Rifas als einen Wegbereiter der faktualen Graphic Novels erscheinen. Spätestens Mitte der 1980er bildete sich die Graphic Novel als eigenständiges Publikationsformat heraus: eine Comic-Erzählung im Buchformat, die nicht auf Serialisierung an-DIEGESIS 8.1 (2019) - 3 -  gelegt ist, eher selten in der comic-typischen arbeitsteiligen Produktion, son-dern aus einer Hand entsteht und inhaltlich wie formal als eher anspruchsvoll gilt. Die Verarbeitung auto-/biographischer Erfahrungen sowie eine selbst- und medienreflexive Erzählhaltung zählten früh zu den typischen Merkmalen der Graphic Novel. Wesentlichen Anteil daran hatte Art Spiegelmans auto-/biographische Graphic Novel Maus (1986/1991), die auch dazu beitrug, dass faktuales Erzählen im Comic zunehmend als eigenständige und respektable Kunstform wahrgenommen wurde. Heute zählen auto-/biographische und journalistische Graphic Novels zu den erfolgreichsten Genres des faktualen Erzählens im Comic. Das vorliegen-de Heft konzentriert sich auf diese zwei Genres und widmet drei Beiträge den auto-/biographischen und zwei den journalistischen Comic-Erzählungen. Olivia Albiero setzt sich in ihrem Aufsatz mit den sehr erfolgreichen Co-mic-Biographien von Reinhard Kleist auseinander und zeigt, wie er seine Figu-ren an der Schnittstelle von fiktionalem und faktualem Erzählen entwirft. Kleist eröffne durch eine spezifische Darstellungsweise, so Albiero, in seinen biographischen Graphic Novels einen Erzählraum, in dem über das jeweils erzählte individuelle Leben hinaus immer auch auf ähnliche, aber nicht aktuali-sierte Lebensverläufe reflektiert werde. Dieser Beitrag wird in unserem Heft ergänzt durch ein ausführliches Interview mit Reinhard Kleist, in dem er Aus-kunft über sein Selbstverständnis und seine Arbeitsweise gibt. Nancy Pedri untersucht in ihrem Beitrag die besondere Funktion von Dokumenten in Gra-phic Memoirs von Krankheitsgeschichten, um deren Status zwischen objekti-ver Beweiskraft und subjektiver Emotionalisierung herauszuarbeiten. Gerade das Wechselspiel zwischen Objektivität und Subjektivität führe zu einem spezi-fischen Authentizitätseindruck, den dieses Comic-Genre beim Leser hervorru-fe. Wie wichtig Krankheitserzählungen im Comic-Format (nicht zuletzt auch im praktischen Umgang mit Krankheit) inzwischen geworden sind, führt Irme-la Marei Krüger-Fürhoff in ihrem Bericht über das Berliner Forschungsprojekt PathoGraphics aus, das sich auf die Repräsentation von Erfahrungen von Krankheit, medizinischer Behandlung und Behinderung in Literatur und Co-mic konzentriert. Kate Polak untersucht in ihrem Aufsatz Graphic Memoirs über die Erlebnisse von Holocaust-Überlebenden und zeigt auf, wie in den untersuchten Comics etablierte Symbole, die zu einer Art ikonischer Synonyme für den Genozid geworden seien, zwar genutzt würden, um die Geschichten historisch zu rahmen, aber zugleich auch problematisiert und unterlaufen wür-den. Solche verfestigten Symbole überlagerten die individuelle Leidensge-schichte und führten zu einer stereotypen Rezeption, die die Comic-Autoren zu unterlaufen suchten. Julia Ludewig wirft in ihrem Beitrag einen Blick auf vier Comic-Reportagen und untersucht, wie diese multimodale Darstellungen nutzen, um sowohl beglaubigende wie metareflexive Effekte zu evozieren. Durch spezifische Strategien brächten Comic-Reportagen ihre Leser gleicher-maßen dazu, in die Erzählung immersiv einzutauchen und über das Berichtete zu reflektieren. Aus der produktiven Spannung zwischen diesen Wirkungen speise sich das besondere Potenzial des Genres Comic-Reportage. Auch Marie DIEGESIS 8.1 (2019) - 4 -  Vanoost und Sarah Sepulchre widmen sich in ihrem Artikel dem journalisti-schen Erzählen im Comic. Sie nehmen das Verhältnis zwischen paratextueller Rahmung und eigentlicher Erzählung in den Comics des seit 2008 erscheinen-den französischen Magazins XXI in den Blick. Unter den aktuell besonders geschätzten und einflussreichen Comics und Comic-Genres sind auffallend viele, die sich des Erzählens von Wirklichkeit im faktualen Modus annehmen. Die Beiträge dieses Heftes untersuchen die Er-zählstrategien und Wirkungsabsichten einiger wichtiger Beispiele. Insgesamt unterstreichen sie die Relevanz comic-spezifischer narrativer Modellierung für die Bedeutung der dargestellten Wirklichkeit. Wiederkehrende Befunde sind außerdem das Wechselspiel zwischen subjektivem Ausdruck und Objektivitäts-anspruch sowie die komplexe Rezeptionssteuerung zwischen Immersion und Reflexion. Angesichts der Vielgestaltigkeit des faktualen Erzählens im Comic möchte das vorliegende Heft dazu einladen, das Erzählen von Wirklichkeit im Comic noch stärker in den erzähl- und comictheoretischen Fokus zu rücken. Literaturverzeichnis Duncan, Randy / Taylor, Michael Ray / Stoddard, David (2016): Creating Comics as Journalism, Memoir and Nonfiction. New York. Eisner, Will (2000): Comics & Sequential Art. Tamarac. Hangartner, Urs (2016): „Sachcomics“. In: Julia Abel / Christian Klein (Hg.), Comics und Graph-ic Novels – eine Einführung. Stuttgart, S. 291-303. Jüngst, Heike Elisabeth (2010): Information Comics. Knowledge Transfer in a Popular Format. Frank-furt am Main. Klein, Christian / Martínez, Matías (2009): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktio-nen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart, S. 1-13. Kunzle, David M. (2017): „Comic Strip“. In: Encyclopædia Britannica. Encyclopædia Britannica Online. URL: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/127589/comic-strip/278935/The-fact-based-comic-historical-didactic-political-narrative (28.05.2019). Rifas, Leonard (2010): „Educational Comics“. In: M. Keith Booker (Hg.), Encyclopedia of Comic Books and Graphic Novels. Santa Barbara, CA, S. 160-169. Williams, Jeff (1999): Culture, Theory, and Graphic Fiction. Lubbock.   DIEGESIS 8.1 (2019) - 5 -  PD Dr. Christian Klein Bergische Universität Wuppertal Wuppertal, Germany E-Mail: chklein@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Matías Martínez Bergische Universität Wuppertal Wuppertal, Germany E-Mail: martinez@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Lynn L. Wolff Michigan State University East Lansing, MI, USA E-Mail: lwolff@msu.edu   This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License. Sie können den Text in folgender Weise zitieren: Klein, Christian / Martínez, Matías / Wolff, Lynn L.: „Einleitung. Wirklichkeit erzählen im Comic“. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählfor-schung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 8.1 (2019). 1-5. URN: urn:nbn:de:hbz:468-20190603-155506-3 URL: https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/download/344/547 

Einleitung.: Wirklichkeit erzählen im Comic

https://elpub.bib.uni-wuppertal.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00000620/dej19080101.pdf

Einleitung.: Wirklichkeit erzählen im Comic

Abstract

Similar works

Full text

Available Versions

Elektronische Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Wuppertal