Der verurteilte Philosoph, die Satyrn und das Hässliche: Das frühe Sokrates-Porträt im Kontext

Abstract

Geraume Zeit nach der Hinrichtung des Sokrates, aber lange vor dessen Rehabilitierung, beschloss eine Gruppe von Freunden, Sokrates in der Akademie eine Bildnisstatue zu weihen: Doch in welcher Form sollte er dargestellt werden – er, den die Polis nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren als Verbrecher hatte hinrichten lassen? Schließlich fassten die Auftraggeber der Statue eine einigermaßen verblüffende Entscheidung: Sie ließen den verehrten Lehrer in Gestalt eines Satyrn darstellen. Die satyreske Physiognomie führte in verdichteter Form das intellektuelle und ethische Erbe des Sokrates vor Augen – ein Erbe, zu dem nicht zuletzt auch seine Verurteilung und sein Tod gehörten. Dieser Bildprägung ist ein unerhörter Erfolg beschieden gewesen. Sie hat alle späteren Versuche, Sokrates ins Bild zu setzen, in ihre eigene Bahn gezwungen. Schon Lysipp, bei dem die Polis nach der Rehabilitierung des Sokrates eine neue Bildnisstatue in Auftrag gab, scheint keine andere Möglichkeit mehr gesehen zu haben als die, den satyrhaften Typus beizubehalten. Der Erfolg dieser konstruierten Physiognomie ist so groß gewesen, dass ihr künstlicher Charakter darüber in Vergessenheit geriet: Was die Kunst geschaffen hatte, wurde der Natur zugeschrieben. Spätere Generationen haben nicht mehr daran gezweifelt, dass der lebendige Sokrates tatsächlich einem Satyrn ähnlich gesehen habe. Das gilt für bildende Kunst und Literatur, aber es gilt auch für die Altertumswissenschaft. Als Musterbeispiel dafür untersuchen wir den Beitrag von Bernhard Schweitzer, der das Sokrates-Porträt als das früheste überlieferte physiognomische Bildnis und als epochalen Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Bildniskunst interpretiert hat.Some time after the execution of Socrates, but long before his rehabilitation, a group of friends decided to dedicate a statue of Socrates in the Academy: but in what form should he be depicted – he whom the polis, following the due process of law, had had executed as a criminal? Finally the people commissioning the statue made a rather startling decision: they had their honoured teacher depicted as a satyr. The satyresque physiognomy presented in condensed form the intellectual and ethical legacy of Socrates – a legacy which included his sentencing and death. The image proved to be unprecedentedly successful. All later attempts to render Socrates visually were essentially compelled to follow the same path. Lysippos, who was commissioned by the polis to create a new statue of Socrates after his rehabilitation, already seems to have seen no alternative to adhering to the satyr type. The success of this constructed physiognomy was so great that its artificial character came to be forgotten: what art had created was attributed to nature. Later generations no longer doubted that the living Socrates had indeed looked like a satyr. This is true of the visual arts and literature, but it is also true of ancient studies. To illustrate this we examine the article by Bernhard Schweitzer, who has interpreted the Socrates portrait as the earliest physiognomic portrait known to us and as an epochal turning point in the history of Greek portraiture

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