Das Erleben von verbaler und auch körperlicher Gewalt gehört zum Alltag der Beschäftigten
in Notaufnahmen und ist ein internationales Problem, welches auch an der Charité bzw. in
Deutschland manifest wird. Die retrospektiv erhobenen Zahlen an der Charité waren die ersten Daten zur Quantifizierung der arbeitsplatzbezogenen Gewalt in deutschen Notaufnahmen und entsprechen im Wesentlichen den internationalen Daten mit ihrer erschreckend hohen Inzidenz. Das Personal fühlt sich nicht ausreichend vorbereitet, eskalierende Situationen zu beherrschen, bzw. zu verhindern (81). Die Ursachen für das häufige Gewalterfahren sind vielfältig. Neben primär nur patientenseitig
zu verortenden Faktoren wie beispielsweise einer Intoxikation, können andere Faktoren eine
Rolle spielen, die ebenso auf die Beschäftigten eskalierend wirken. Die regelmäßig vorkommenden Überfüllungssituationen der Notaufnahmen mit einem an der Grenze der Belastbarkeit arbeitendem Personal und langen Wartezeiten für die Patienten, stellen einen solchen Faktor dar. Wesentliche Ursachen der Überfüllungszustände, wie die erhöhte Inanspruchnahme durch eine fehlende Regulation im Gesundheitssystem oder ein verzögerter Abfluss in die stationäre Weiterbehandlung, liegen außerhalb der Notaufnahmen selbst und sind nicht durch diese allein lösbar (82). Gesundheitspolitisch empfohlene Maßnahmen zur Entlastung der klinischen Notfallversorgung wie die Umleitung von Patientenströmen sollten bezüglich ihrer Wirksamkeit und im Kontext der Patientensicherheit evaluiert werden (83). Unzureichend strukturell geordnete Prozesse, wie zum Beispiel der Informationsgewinn von essentiellen Gesundheitsdaten, insbesondere der älteren, kognitiv eingeschränkten Patienten, belasten die Notaufnahmen. Sie verlängern die Behandlungszeit (84), was insbesondere in dieser vulnerablen Gruppe zu sekundären Komplikationen wie delirant- aggressiven Zuständen und somit zu einer Personalgefährdung führen kann. Verbesserungen im intersektoralen Informationsaustausch oder durch ein patientenzentriertes Notfalldatenmanagement könnten hier Abhilfe leisten.
In einer bundesweiten Umfrage zur Sicherheitsinfrastruktur wurde deutlich, dass sich nur jede
Zweite der befragten Notaufnahmen mit dem Thema befasst, obwohl über 90 % der Leitungskräfte Kenntnis von einem oder mehreren Gewalterlebnissen in ihren Bereich angaben. In den Augen der leitenden Beschäftigten der Notaufnahmen erscheint insbesondere ein Deeskalationstraining für die Mitarbeiter eine sinnvolle personenbezogene Maßnahme, um die Inzidenz von Gewalt zu verringern, bzw. ihr zu begegnen. Auch infrastrukturelle, flankierende Maßnahmen und technische Lösungen werden als hilfreich erachtet. Nur ein Drittel der Befragten hält eine permanente Anwesenheit eines Sicherheitsdienstes für sinnvoll (85). Auch wenn evidenzbasierte Ergebnisse zur Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen zur Prävention von Gewalt auch aktuell (90) noch immer ausstehen, wurde als Konsequenz aus den erhobenen Daten zum Gewalterleben an der Charité (81) ein Deeskalationsmanagement etabliert. Dieses umfasst die primäre, sekundäre und tertiäre Prävention von Gewalt und Aggression. Durch eine theoretische und praktische Schulung soll versucht werden, die Wahrnehmung der Mitarbeiter und insbesondere das Reaktionsmuster auf herausforderndes Verhalten durch deeskalierende Kommunikationstechniken zu verändern. Die Evaluation des Trainings erbrachte, dass die Absolventen ihren Zugewinn an Fähigkeiten in Konfliktsituationen als mittel bis hoch bewerteten und diese in der Praxis anwendeten (89). Das Deeskalationstraining wird, nachdem Notaufnahmen und Psychiatrien bereits regelhaft geschult werden, gegenwärtig auf alle Bereiche der Charité mit Patientenversorgung ausgeweitet. Hierzu werden weitere Trainer als Multiplikatoren ausgebildet. An den drei Notaufnahmen der Charité am Campus Virchow- Klinikum wurde zwischenzeitlich in den Hauptbelastungszeiten (Wochenende) sowie zu Spät- und Nachtdienstzeiten ein in zivil gekleideter Personenschützer eingesetzt, um das Personal bei missglückter Deeskalation abzusichern bis die Polizei eintrifft. Neben Informationstafeln im Wartebereich, die den Patienten und Angehörigen Auskunft geben zum Ablauf der Behandlung in der Notaufnahme, wurden Schließsysteme etabliert und ein Notrufbutton an den Bereichstelefonen der Pflegekräfte installiert, über die kollegiale Ersthilfe gerufen werden kann. Die Auswirkungen insbesondere eines wiederholten Gewalterlebens am Arbeitsplatz können für die Betroffenen, aber auch die Krankenversorgung gravierend sein (19, 71-73, 92). Als ein wesentlicher Faktor wurde daher auch ein Standardvorgehen für die Nachbetreuung von Gewaltopfern formuliert. In diesem ist neben der kollegialen Ersthilfe bei entsprechendem
Wunsch eine psychologische Nachbetreuung organisiert. Um eine Unterschätzung des Problems zu vermeiden und nicht weiter auf retrospektiv erfasste Daten zurückgreifen zu müssen, sollte zukünftig ein niederschwellig zugängliches Meldesystem für gewalttätige Übergriffe etabliert werden. Anzustreben ist eine Befragung der Patienten und Angehörigen über die durch sie wahrgenommenen Gründe möglicher Konflikte während ihrer Behandlung in den Notaufnahmen, um daraus weitere, sinnvolle Interventionen ableiten zu können. Um
eine internationale Vergleichbarkeit der verschiedenen Methoden zur Gewaltprävention zu
ermöglichen, sollten zukünftig Begriffe im Kontext des Themas einheitlich definiert und die
Interventionen bzw. die Studienmethodik angepasst werden (90). Das Leitbild der Notaufnahmen wurde ergänzt um den Satz: „Unsere Notaufnahmen sollen ein sicherer Arbeitsplatz für unsere Mitarbeiter sein. Physische und psychische Verletzungen unserer Mitarbeiter und auch der von uns betreuten Patienten sollen verhindert werden.“ (93)