Alfred Döblins Romanepos 'Der blaue Tiger' (1938), zweiter Teil seiner Amazonas-Trilogie, ist ein wichtiger Beitrag für das Verstehen der Kontaktnahme zwischen zwei einander fremden Kulturen - für Akkulturation (W. Reinhard) als eine Erscheinungsform der Fremdheitserfahrung. Zugleich ist das Romanepos ein 'modernes' Konzept für Subjektivität: Hier erfolgt interkulturelle Erfahrung zwischen europäischen Jesuiten und amerikanischen Einheimischen wechselseitig. Der Text drückt diese Dialektik inhaltlich wie formal durch ein essayistisches Erzählverfahren aus. Essayismus manifestiert sich dabei auf zwei Erzählebenen, die der Text miteinander kontrastiert. So erzählt das Epos den Zerfall der 'christlichen Republik', ein humanitäres jesuitisches Projekt im Amazonasbecken, anhand zwei parallel verlaufender Diskurse: auf der Ebene der geschichtsbestimmenden Mächte an der Metropole sabotieren die Machthaber und Technokraten das Projekt von den Machtzentren aus, und auf der Ebene der handelnden Figuren an der Peripherie wirkt die Eigendynamik der Kontaktnahme dem Missionsprojekt entgegen. Döblin entwirft hierfür den 'empirischen Menschen' (Dollinger), ein Handlungssubjekt, dessen Austausch mit den Anderen stets dialogisch 'nach beiden Richtungen' (Peter Burke) verläuft: Das Fremde verhält sich zum 'empirischen Menschen' komplementär, der Erfahrungsprozess des Handlungssubjektes selbst ist zum Ende hin offen - ohne fest bestimmbaren Ausgang. Döblins anthropologisches und historisches Denken greift aktuellen Analysen der Eroberung Amerikas in vielen Aspekten vor: Die Jesuitenmission zerfällt nicht allein an der einseitig aggressiven Akkulturation durch die Missionare, sondern zerbricht an der Sogwirkung, die von der widerstandsfähigen lokalen Kultur ausgeht. Döblin behandelt den Desintegrationsprozess der Mission am Wandel der Jesuiten-Generationen und entwirft ein typologisches Modell des interkulturellen Clash am 'Überläufer', am 'eindeutigen Christen' und 'Imperialisten'