Lingelbach, Gabriele

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Comparativ (E-Journal)

154 Buchbesprechungen Christophe Charte, La République des Universitaires 1870-1940, Edi-tions du Seuil, Paris 1994,506 S. Im Zentrum des Buches von Christophe Charte über die Akademiker der Drit-ten Republik steht die Frage nach den Ursachen der immer wiederkehrenden Krise der französischen Universität seit 1870. In Abgrenzung vor allem zu den zahlreichen amerikanischen Arbeiten zur f ranzös ischen Univers i t ä t sge-schichte sucht Charle die Antwort we-niger in den strukturellen Gegebenhei-ten (beispielsweise im angeblichen Zentralismus des enseignement supé-rieur oder im vorherrschenden staatli-chen Dirigismus), die häufig für die Reformunfähigkeit des französischen Systems verantwortlich gemacht wer-den. Charles Aufmerksamkeit gilt viel-mehr vor allem der Sozialgeschichte der Akademiker Frankreichs. In einem ersten Schritt untersucht er die Anfangsphase der Dritten Repu-blik, als sich die Regierenden und die Akademiker Frankreichs nach dem Schock der militärischen Niederlage vom Modell der deutschen Universität inspirieren ließen. Als Quellenbasis die-nen ihm hier v.a. die Beiträge in der 'Revue internationale de renseigne-ment', in denen die nach Deutschland entsandten boursiers ihre Eindrücke schilderten und Reformen für die fran-zös ische Univers i tä t vorschlugen. Charle unterstreicht hier die bereits bekannte Ambivalenz in der Haltung gegenüber der deutschen Universität. Diese Ambivalenz resultierte daraus, daß die Entsandten sowohl den Nutzen ihrer Mission wie auch ihre kritische Distanz gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner beweisen mußten. Die zumeist jungen Geisteswissenschaftler lobten so vor allem die gute Ausstat-tung der Universitäten mit Lehrstühlen und die hohe Bezahlung der deutschen Professoren. Uneingeschränkte Aner-kennung fanden auch die Innovativität und Produktivität der deutschen Wis-senschaft, die vorherrschende Freiheit des Lernens und Lehrens wie auch die Unterrichtsmethode in Form des Semi-nars. Kritisiert wurden hingegen die übermäßige Spezialisierung, die päd-agogische Unfähigkeit vieler deutscher Professoren, der fehlende Kontakt zum enseignement secondaire und auch die Bezahlung der Privatdozenten allein über die Hörgelder, die es in den Au-gen der französischen Beobachter nur sozial Höhergestellten erlaubte, die uni-versitäre Laufbahn einzuschlagen. Bei der Umsetzung der von Deutschland in-spirierten Reformen kam es so auch keineswegs zu einer exakten Kopie der deutschen Strukturen. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Einführung der universitären Posten des chargé de cours und des maître de conférence: Zwar wurde es nun in Frankreich theo-retisch möglich, eine Karriere vollstän-dig an der Universität zu absolvieren, ohne wie zuvor üblich eine Zeit als Lehrer im enseignement secondaire zu verbringen, doch anders als die deut-schen Privatdozenten wurden die fran-zösischen Nachwuchswissenschaftler auf den neu geschaffenen Stellen von der Universität bezahlt. Die Kritik an dem als undemokratisch und unsozial empfundenen deutschen System ver-Buchbesprechungen 155 hinderte eine unveränderte Übernahme. Den Reformern in Frankreich gelang es aber nicht, die Bezahlung an den Uni-versitäten nach der Leistung auszurich-ten, wie dies durch die Hörgelder und die Berufungsverhandlungen in Deutschland der Fall war. Vielmehr blieb der enorme Gehaltsunterschied zwischen Paris und der Provinz eben-so bestehen wie die Berufungs- und Besoldungspraxis nach ancienneté. Charle stellt deutlich heraus, welchen Preis die französischen Akademiker für diese Beharrungskraft der alten Regeln zahlen mußten: Zwar zeigt sich bei der Gegenüberstellung der Rekrutierungs-muster der Pariser und der Berliner Universität vor allem bei der faculté des lettres eine von den Reformern begrüß-te größere soziale Offenheit gegenüber der petite bourgeoisie als dies an der vom Bildungsbürgertum dominierten Berliner Fakultät der Fall ist. Auf der anderen Seite mußten die Franzosen im Vergleich zu den Deutschen aber eine stark standardisierte Bildungslaufbahn (in Paris) vorweisen, um an der faculté reüssieren zu können. Außerdem muß-ten sie viel länger auf den unteren Stu-fen der universitären Hierarchie aushar-ren, bis sie auf einen Lehrstuhl berufen wurden. Bei der Präsentation dieser «biographie collective" (S. 17) der Aka-demikerschaft der Dritten Republik stellt Charle eine enorme Sammlung von Fakten und Archivmaterialien vor. Hier profitiert er von seinen früheren Arbeiten über die „E l i t e s de la République" (1987) und die „Naissance des 'intellectuels'" (1990) und insbe-sondere von seinen dictionnaires biographiques über die „Professeurs de la faculté des lettres de Paris" (1985/ 86) und die „Professeurs du Collège de France" ( 1988). In ihrer Dichte und sta-tistischen Aufarbeitung prosopogra-phischer Daten ist „La République des Universitaires" sicherlich bisher un-übertroffen. In einem zweiten Teil behandelt Charle die drei Fakultäten lettres, sciences und droit in getrennten Ab-schnitten. Er streicht heraus, wie unter-schiedlich die Fakultäten in bezug so-wohl auf die soziale Herkunft ihrer Mit-glieder, wie auch auf ihre Einstellung gegenüber Forschung und Lehre waren. Die facultés des sciences erwiesen sich als soziale Aufstiegsmöglichkeit für untere Gruppen des Bürgertums. Eben-so erhielten Nachwuchswissenschaft-ler, die nicht in Paris studiert hatten, eine Chance, u.a. weil die naturwissen-schaftliche angewandte Forschung an den Provinzuniversitäten durch priva-te Mäzene unterstützt wurde. Insgesamt waren die Naturwissenschaftler relativ erfolgreich bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach mehr universitären Stellen und besserer finanzieller Aus-stattung. Charle führt diesen Erfolg u.a. auf das internationale Klima der Kon-kurrenz wie auch auf die offizielle Ideo-logie, den „culte de la science" (S. 181) der Dritten Republik zurück. Die facultés des lettres waren demgegen-über weniger in der Lage, die Reform-forderungen umzusetzen. Die Pariser Sorbonne behielt ihre dominierende Stellung g e g e n ü b e r den Provinz-fakultäten bei und blieb auch sozial re-striktiver als die facultés des sciences. 156 Buchbesprechungen Des weiteren vermochte sie nicht, ihre engen Verbindungen zur education secondaire auflösen, so daß die Geistes-wissenschaftler- in der Forschung nur wenige Leistungen vorweisen konnten. Berufungen nach ancienneté oder nach der Zugehörigkeit zu einem intellektu-ellen 'Netzwerk' und die Schwerfällig-keit bei der Etablierung neuer Teil-disziplinen und Forschungsrichtungen blieben laut Otarie die Regel. Des wei-teren blieben die facultés des lettres an-ders als die facultés des sciences aus-ländischen Forschern oder Vertretern nichtkonformer politischer Positionen verschlossen. Die facultés de droit un-terschieden sich von den anderen bei-den Fakultäten durch einen starken Tra-ditionalismus, eine besonders große so-ziale Homogenität und einen dement-sprechend starken esprit de corps. Re-formen konnten in einem solchen K l i -ma kaum Fuß fassen. Der Preis war eine immer größer werdende Belastung der Professoren mit der Lehre und insbe-sondere mit Prüfungen (denn sie hat-ten es abgelehnt, neue Posten auf den unteren Stellen der Fakultätshierarchie zu schaffen, die einen Teil der Ausbil-dung hätten übernehmen können). Der Qualitätsverlust in Forschung und Leh-re führte wiederum dazu, daß andere In-stitutionen mit der faculté de droit zu konkurrieren begannen: Innovative Disziplinen lagerten sich beispielswei-se zum Collège de France aus und v.a. in der Zwischenkriegszeit zog die Ecole libre des sciences politiques einen Teil des ambitionierten Nachwuchses ab. Auch den anderen Fakul tä ten er-wuchsen solche Konkurrenzinstitu-tionen. In einem dritten Teil geht Charle zunächst auf die Verbindungen zwi-schen dem champ universitaire und dem champ du pouvoir ein. Die fran-zösischen Akademiker waren - so lau-tet seine These - keine 'Mandarine', die wie in Deutschland auf einen apoliti-schen Konsens hätten zurückgreifen können, vielmehr waren sie 'Intellek-tuelle', die sich vor allem in Form von Petitionen in die Politik einmischten, so beispielsweise während der Dreyfus-Affäre. Charle stellt auch hier die Un-terschiede zwischen den Fakultäten heraus: Die Mehrzahl der politisch ak-tiven Akademiker rekrutierte sich aus der faculté des lettres, während die Na-turwissenschaftler und vor allem die Juristen wesentlich zurückhaltender waren. In der Zwischenkriegszeit drif-teten dann die politischen Meinungen immer weiter auseinander, wobei die Geisteswissenschaftler zu 'linken', die Juristen und Mediziner hingegen zu 'rechten' Positionen neigten. Charle führt dies auch auf die Entwicklung der sozialen Zusammensetzung in den ein-zelnen Fakultäten zurück. Auch auf dem Gebiet der politischen Aktivitäten zeigte sich also, daß die Akademiker nicht in der Lage waren, jenseits der jeweiligen Fakultätszugehörigkeit eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Dieses Fehlen einer identité collective macht der Autor auch als eine der Ur-sachen aus, warum es den universitaires in der Zwischenkriegszeit nicht gelang, die Krise (Schwäche der Provinz-fakultäten, Vernachlässigung der For-schung, Überlastung in der Lehre etc.) gemeinsam zu überwinden. Die Vor-schläge zur Umformung des U n i -Buchbesprechungen versitätssystems als Ganzem scheiter-ten so u.a. auch an den Differenzen zwischen den verschiedenen Fakultä-ten. Andererseits trug die entstandene Diversität des französischen Ausbil-dungssystems, in dem neben den ver-schiedenen Fakultäten auch noch die grandes écoles und zahlreiche weitere spezialisierte Einrichtungen für For-schung und/oder Lehre nebeneinander existieren, dazu bei, eine dauerhafte Blockade des Systems zu verhindern. Zurückblickend stellt Charle fest, daß das enseignement supérieur in Frank-reich immer eine - wenn auch begrenz-te - Fähigkeit zu Innovation und Re-form zeigte, eben weil es so divers war und obwohl die universitaires keine kollektive Identität zu entwickeln ver-mochten. Indem er auf diese in der Ver-gangenheit vorzufindende Fähigkeit zur Innovation verweist, appelliert Charle an seine heutigen Kollegen: „Vivons et faisons notre histoire." (S. 469) Gabriele Lingelbach 157 Christian Geinitz, Volker Ilgen, Ute Scherb, Holger Skor, Andreas Weber, Kriegsgedenken in Freiburg. Trauer, Kult, Verdrängung, J . Haug Verlag, Freiburg i. Br. 1995, 240 S. (Alltag und Provinz, Bd. 6, hrsg. vom Ar-beitskreis für Regionalgeschichte Freiburg e.V.) Den Sammelband ziert eine Photogra-phie, die den kontroversen Charakter der Thematik geschickt bündelt. Im Editorial heißt es dazu: „Am 27. No-vember 1994, dem 50. Jahrestag der Zerstörung Freiburgs, bot sich den Be-suchern des Hauptfriedhofs (...) ein ungewohnter Anblick: Das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Welt-kriegs - eine trutzige, helmbewehrte Germania-Figur - trug eine Totenmas-ke und einen schwarzen Umhang mit Eisernem Kreuz und SS-Runen. Auf den Sockel hatten Unbekannte das Celan-Wort 'Der Tod ist ein Meister aus Deutschland' gesprüht: Ein unkonven-tioneller Beitrag zum Gedenken an die Schreckensnacht vom 27. November 1944, der zum Nachdenken anregen sollte (...) über die politischen Zusam-menhänge, die zum Zweiten Weltkrieg und damit auch zur Zerstörung Frei-burgs geführt hatten." (S. 9) Die Verf. aus dem Freiburger Ar-beitskreis für Regionalgeschichte wol-len längsschnittartig am Beispiel ihrer Stadt Veränderungen im Erscheinungs-bild öffentlicher Erinnerung anhand von Denkmälern und Gedenkveran-staltungen dokumentieren und aus den politischen Zusammenhängen heraus erklären. Marksteine bilden dabei der Krieg von 1870/71 gegen Frankreich, 

Christophe Charte, La République des Universitaires 1870-1940, Editions du Seuil,: Paris 1994, 506 S.

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Christophe Charte, La République des Universitaires 1870-1940, Editions du Seuil,: Paris 1994, 506 S.

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