Beschreibung der früheren Tradition in Südwestdeutschland, Nachgeburten zu bestatte

Hartmut Hensgen

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Bestattung von Nachgeburten ´Wo weder Sonne noch Mond hin scheint´Im Jahr 1991 wurde bei den Umbaumaßnahmen im Zehntknechtshaus in Zaisenhausen/Baden hinter dem Rathaus – heute Gemeindebücherei - ein interessanter Fundgemacht. In den Ecken des Kellers wurden, nur wenige Zentimeter tief vergraben, die Teile von fünf aufrecht stehenden Tongefäßen gefunden. Einerdieser Töpfe war glücklicherweise vollständig erhalten undmit der Inschrift ´R. App 1854´ versehen. Der umgehend zur Begutachtung der Fundeherbeigerufene Heimatforscher Karl Banghard ausFlehingen vermutete sogleich, dass diese Gefäße infrüheren Zeiten zur Bestattung von Nachgeburten gedienthaben könnten. Diese Vermutung erwies sich nach einerweiteren Begutachtung durch Kurt Sartorius ausBönnigheim, einem anerkannten ehrenamtlichen Expertenauf diesem Gebiet, als zutreffend. Hartmut Hensgen mit Fragmenten von Nachgeburtstöpfen aus dem ZehntknechtshausFoto: Franz StofflSartorius hatte bereits seit den 1980er Jahren eine Menge von diesen ´Nachgeburtstöpfen´ in über 30 Kellern alter Häuser in Bönnigheim geborgen. Auf den Böden der Gefäße befandensich meist braune Reste einer organischen Substanz. Anfangs stieß die These von Sartorius, es handele sich dabei um die Bestattungen von Nachgeburten, auf große Skepsis in der Fachwelt, war doch diese Tradition im allgemeinen Bewusstsein völlig in Vergessenheit geraten. Als auch in den Kellern von anderen badischen und württembergischen Orten viele ähnliche Gefäße aus der Zeit von 1600 bis 1920 gefunden wurden, beschäftigte sich die offizielle Wissenschaft näher mit der Bedeutung dieser Funde. Zuerst wurde vermutet, es könnte sich um Vorratsgefäße handeln. Doch da manche Töpfe mit dem Deckel nach unten eingegraben waren, schied diese Möglichkeit aus. Als Mausefallenkonnten sie ebenfalls nicht gedient haben, denn in keinem der Töpfe fand sich das Skelett einer Maus. Es musste einen anderen triftigen Grund gegeben haben, warum die Gefäße eingegraben worden waren.Moderne Untersuchungsmethoden bestätigten schließlich die Ansicht von Kurt Sartorius, denn man konnte in der organischen Schicht am Boden der Töpfe Hämoglobin und das 2021-Nachgeburtstöpfe.docx                1 von 5                    13.12.21weibliche Sexualhormon Östrogen feststellen. Insbesondere das Östrogen Estradiol, das während einer Schwangerschaft in der Plazenta gebildet wird, konnte nachgewiesen werden. In den Töpfen hatte sich eindeutig Mutterkuchen befunden.Nachgeburtstopf von Rosina App im Museum BönnigheimFoto: privatAufgrund der Inschrift auf dem Zaisenhäuser Nachgeburtstopf konnte die Besitzerin identifiziert werden. Es handelt sich um die 1837 geborene Rosina Katharina App (OSB Nr. 169 und Nr. 185). Sie heiratete im Jahr 1859, woraus sich schließen lässt, dass der Topf mit ihrem Namen ein Teil ihrer Aussteuer war. Da der Zaisenhäuser Nachgeburtstopf wegen seiner Inschrift eine Rarität darstellt, durfte Kurt Sartorius diesen Topf als Dauerleihgabe mit nach Bönnigheim nehmen, wo er im Schwäbischen Schnapsmuseum im Rahmen der Dauerausstellung ´Mythos Geburt´ zu besichtigen ist.Mittlerweile ist von der Fachwelt anerkannt, dass es sich bei der Bestattung von Nachgeburten um einen uralten weltweiten Brauch handelt, der unabhängig von Kultur und Religion vom alten Ägypten bis nach China und Neuseeland verbreitet war.  Ausstellungsgegenstände im Bönnigheimer Museum belegen dies eindrucksvoll.Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Mutter und Kind eine gefährliche Zeit. Viele Frauen starben bei der Geburt, die Kindersterblichkeit war extrem hoch. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man das 2021-Nachgeburtstöpfe.docx                2 von 5                    13.12.21Wohlergehen des Neugeborenen nicht nur durch Gebete, sondern auch durch bestimmte Bräuche, Rituale und magische Praktiken zu beeinflussen suchte.  So schrieb man im Volksglauben der Plazenta und der Nabelschnur eine besondere Bedeutung zu. Weil die Plazenta die enge körperliche Verbundenheit des Kindes mit der Mutter belegt, war diese mit großer Sorgfalt zu behandeln. Eine Nachgeburt durfte nicht achtlos weggeworfen werden. In der Plazenta wurde ein geistiges Wesen vermutet, das eine enge Verbindung zum Kind hatte. Wurde dieses ´Zwillingswesen´ schlecht behandelt, konnte das Kind krank werden undsterben. Deshalb war das sorgfältige Bestatten, das Zurückgeben der Nachgeburt an die Mutter Erde, eine wesentliche Voraussetzung für das Gedeihen des Kindes. Die Zeit von der Abnabelung bis zur rituellen Eingliederung in die Gemeinschaft, die bei den Christen durch die Taufe vollzogen wird, erschien als besonders bedroht. Man musste das Kind, das in dieser ´Zwischenzeit´ noch nicht richtig in der Welt verankert war, besonders schützen und Maßnahmen zugunsten des Neugeborenen ergreifen. Das Baby musste vor demEinfluss von Hexen und anderen bösen Mächten bewahrt werden. Man befürchtete, dass diese aus der Nachgeburt einen Wechselbalg machen könnten, der dann gegen das Kind ausgetauscht wurde, das daraufhin bald starb. Wenn man aber die Plazenta begrub, konnte man das Menschenkind dem Zugriff der bösen Mächte entziehen. Als besonderer Schutzbezirk vor solchen Dämonen galt das eigene Haus. Wenn also die Nachgeburt innerhalb des Dachtraufes begraben wurde, konnten die Dämonen dem Kind nichts anhaben. So schrieb bereits 1517 der Humanist Geiler von Kaysersberg: „Wir bringen allesamen ein rot wammesch uff Erden, pellem secundinam, das muoß darnach der man under der stegen vergraben“. Aus: Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg, Nr. 36, S. 461869 schrieb der Arzt Gottfried Lammert: „Der Mutterkuchen soll nicht an einem unreinen Orte, im Abtritte oder Miste, ausgeschüttet werden, sondern in fließendes Wasser geworfen oder in die Erde gegraben werden; dann wird Mutter und Kind gesund bleiben.“Aus: Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg, Nr. 36, S. 46Und in den Aufzeichnungen des Pfarrers Heinrich Höhn zu Beginn des 20 Jahrhunderts heißt es: „Meist wird die Nachgeburt unbeschrien unter dem Dachtrauf begraben oder an einem sonstigen Ort, wo weder Sonne noch Mond hin scheint, z. B. im Keller, auch unter einem Baum, wo sie im Schatten ist. Hierzu muß ein neuer, mit Deckel bedeckter Hafen benutzt werden. Er soll so eingegraben werden, daß der Deckel nach unten zu liegen kommt, auch muß bei dem Vorgang ein Vaterunser gebetet werden … Begräbt man die Nachgeburt wie die2021-Nachgeburtstöpfe.docx                3 von 5                    13.12.21Nabelschnur unter einem Stock mit roten Rosen, so bekommt das Kind rote Wangen und wird von übel riechendem Atem bewahrt“. Aus: Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg, Nr. 36, S. 47Interessant ist bei dem von Pfarrer Höhn beschriebenen Brauch, dass die Bestattung der Nachgeburt ´unbeschrien´, also heimlich in aller Stille erfolgen sollte. Die Nachgeburt war den Leuten nicht ganz geheuer und man wollte wohl auch ganz sicher gehen, dass die Bestattung gleichermaßen von Pfarrer und bösen Geistern unbemerkt blieb. Außerdem wird an Höhns Beschreibung deutlich, dass für das einfache Volk früher kaum eine Trennung zwischen dem ‚rechten´ christlichen Glauben und einem Glauben an andere Mächte und Geister existierte.Für den Umgang mit der Nabelschnur, der man eine besondere Kraft nachsagte, galten ähnliche Vorschriften wie für die Nachgeburt. In manchen Gegenden wurde die Nabelschnur von der Mutter bis zum ersten Kirchgang aufgehoben und dann heimlich weggeworfen, um Übel vom Kind abzuwenden. Anderswo entsorgte man sie in ganz ähnlicher Weise wie die Nachgeburt. Auch die sogenannte Glückshaube wurde besonders behandelt, weil diese als ein besonders positives Vorzeichen galt. Bei der Glückshaube handelte es sich um die Eihaut, die sich beim Geburtsvorgang nicht vollständig vom Kopf des Kindes gelöst hatte. Sie wurde sorgfältig aufbewahrt. In manchen Gegenden wurde sie in ein schwarzes Band eingenäht und den Kindern als Amulett um den Hals gehängt.Bis in die Zeit der Bundesrepublik ist der uralte Brauch der Bestattung von Nachgeburten belegt. Im Schuttertal im Schwarzwald wurde noch 1963 auf Anordnung der Hebamme die Nachgeburt in einem Topf im Keller vergraben, damit „s´Kind gesund bleibt.“Heute werden Nachgeburten nicht mehr bestattet. Durch die seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts übliche Verlegung der Geburt vom eigenen Haus in ein Krankenhaus hat sich der gesamte Prozess von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett grundlegend geändert. Mit der Geburt in einer Klinik verschwanden gleichzeitig uralte gewohnte Verhaltensweisen und Bräuche. Bei den Hausgeburten hatte es sich um einen ganzheitlichen Prozess gehandelt, der Mutter, Kind und die Nachgeburt einschloss. Das Neugeborene musste gewaschen und gestillt werden, die Mutter wurde von Angehörigen rund um die Uhr betreut. Und man musste sich selbst um die Nachgeburt kümmern. Heute steht dagegen die optimale medizinische Versorgung von Mutter und Kind im Vordergrund. Mit der Perinatal-Medizin entstand eine hochtechnologische Geburtsmedizin, diegroße Vorteile für Mutter und Kind besonders bei Komplikationen hat. Die Nachgeburt 2021-Nachgeburtstöpfe.docx                4 von 5                    13.12.21dagegen wird nur noch überprüft, ob sie vollständig vorhanden ist und keinerlei pathologische Anzeichen aufweist; dann wird sie entsorgt. Neuerdings fragen allerdings wieder vermehrt Eltern in den Krankenhäusern nach der Nachgeburt ihres Kindes, um diese mit nach Hause zu nehmen. Für sie ist die Plazenta wieder von Interesse. Oft knüpfen diese Eltern an den alten Brauch an, vergraben die Nachgeburt im Garten und pflanzen einen Baum an der Stelle. Eine Zwischenlagerung in der Tiefkühltruhe bleibt mancher Nachgeburt dabei nicht erspart, bis ein geeignetes Plätzchen fürdie Bestattung gefunden worden ist. Andere Eltern lassen sich aus einem Stück des Mutterkuchens Globuli herstellen. Diese Plazenta-Globuli sollen einen positiven Effekt auf die Selbstheilungskräfte des Körpers haben,den Müttern bei Stress oder Nervosität helfen und ihnen außerdem körperliche Beschwerden,wie Erkältungen oder Migräne erleichtern. Bei Kindern sollen die Globuli das Immunsystem stärken, Verdauungsbeschwerden, Unruhe oder Hautausschläge lindern. Ob diese kleinen Pillen tatsächlich positiv auf die Gesundheit von Mutter und Kind wirken, wurde bislang wissenschaftlich nicht untersucht. Es gibt bislang nur die positiven Erfahrungsberichte von Anwendern. Der alte Brauch, die Plazenta als einen besonderen Stoff zu begreifen, mit dem man achtsam umgehen sollte, ist damit in gewisser Weise wiederbelebt worden.Quellen: Sartorius Kurt, Damit s´Kind gesund bleibt, in: Eppingen - Rund um den Otilienberg, Band 6, 1994 Banghard Karl, Flehingen, Fundbericht vom Mai 1991  Mythos Geburt, Ausstellungstexte im Schwäbischen Schnapsmuseum, 2017 aid - Archäologie in Deutschland, 2009, Nr.5 Schubert Gertrud, Unglaublich magisch – Bräuche um Liebe und Geburt, in: Schwäbische Heimat, 2014-3, (auf S. 273 Abbildung des Zaisenhäuser Nachgeburtstopfes) ´Wo weder Sonne noch Mond hin scheint´ - Archäologische Nachweise von Nachgeburtsbestattungen in der frühen Neuzeit, in: Archäologische Information aus Baden-Württemberg, 1997, Nr. 36 2021-Nachgeburtstöpfe.docx                5 von 5                    13.12.21

Bestattung von Nachgeburten

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