Aeberli, Annina

German

Bern Open Repository and Information System (BORIS)

source: https://doi.org/10.48350/169450 | downloaded: 2.8.2022Die beseelte Natur:  Eine Welt voller GeisterVon Annina AeberliHaben Tiere und Pflanzen Rechte? Und Flüsse? In der west-lichen Kultur haben wir eben erst begonnen, uns diese Fragen zu stellen. Für animistisch-geprägte Kulturen wie die indigenen Völker Borneos ist schon lange klar, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen soziale Wesen sind. Sie wohnen Seite an Seite mit uns Menschen auf dieser Erde.Die Penan und ihre Nachbarn, die Kenyah, erleben ihre Umwelt traditionell als beseelt. Die Geister kommunizieren durch Omen mit den Menschen. Für ein friedliches Zusammenleben mit den Geistern müssen Regeln und Verbote (Tabus) befolgt werden. Ob Tier oder Pflanze, alles kann zu einem handelnden Wesen werden. Die Mythen hinter den FelsformenEine wichtige Verhaltensregel besagt beispielsweise, dass man über Tiere nicht lachen darf. Tut man es doch, kommt ein Sturm auf, der alles zu Stein werden lässt. So sind Felsen und Berge, die wie Menschen oder Tiere aussehen, entstanden. Am Baram-Fluss gibt es einen Stein in Form einer Ziege. Die Kenyah erzählen dazu folgende Geschichte: «An dieser Stelle stand einmal ein grosses Dorf. Eines Tages starb der grosse Häuptling. Wie es die Tradition verlangte, wurde bei der Beerdigung jemand von tieferem Rang geopfert, damit der wichtige Mann von hohem Rang den Weg ins Jenseits am Malau-Fluss  nicht alleine beschreiten muss. Die Grossmutter des geopferten Jungen war traurig und wollte sich rächen. Sie packte einen  Frosch, angezogen in der traditionellen Kenyah-Kleidung, in eine Tabakschachtel. Dann besuchte sie die Festlichkeiten der Beerdi-gung und bot Tabak an. Als die Leute die Schachtel öffneten, sprang der Frosch heraus und alle lachten. In derselben Nacht zog ein erbarmungsloser Sturm auf. Das Dorf opferte eine Ziege, um den Geist zu besänftigen. Doch noch während des Opfers erstarrte alles zu Stein. Deshalb sieht man noch heute den Stein in Form der Ziege, die geopfert wurde, um den Geist zu besänftigen.»Diese Legende, die auch heute noch erzählt wird, bringt zum Ausdruck, dass die Penan und die Kenyah den Tieren immer  mit Respekt begegnen sollen. Entsprechend verschwenden sie kein Fleisch und verhalten sich Tieren gegenüber respektvoll. Die Formen der Natur inspirierten viele Mythen.oben links:Fischen hat bei den indigenen Kenyah eine lange Tradition. Ihre Dörfer befinden sich entlang von grossen Flüssen, wie dem Baram-Fluss.oben rechts:Fische sind eine wichtige Nahrungsquelle im Regenwald.unten rechts: Das Wildschwein wird von den Indigenen am häufigsten erlegt und ist ihr Lieblings-fleisch.Botschaften der NaturEin weiteres Tabu besagt, dass die Jäger nicht über die Jagd sprechen dürfen, weder vor noch während der Jagd. Stattdessen sagen sie, dass sie in den Wald gehen. Dasselbe gilt fürs Fischen. Dies würde die Tiere warnen und Unglück bringen. Erst recht darf man den Fischern nicht nachrufen «Bringt viele Fische nach Hause!» Diese Art von Angeben ist bis heute nicht gerne gesehen und bringt Unglück. Die Fischer würden mit leeren Händen zurückkehren.Obschon die Penan und die Kenyah viele Regeln und Tabus teilten, unterschieden sie sich auch in gewissen Aspekten. Die sesshaften Kenyah bauten Reis an und hielten im Gegensatz zu den Penan Hühner und vor allem Schweine, die als Opfergaben verwendet wurden. In den Eingeweiden der Schweine wurden die Botschaften der Geister gelesen. Wichtige Unterfangen wie der Bau eines neuen Langhauses oder der Aufbruch zu einer Kopfjagd hingen von guten Omen (Vorzeichen) ab.Für die Kenyah spielte auch der Reis-Geist eine sehr wichtige Rolle. Während der Aussaat musste man die schönsten Kleider anziehen, um ihm zu gefallen. Und man durfte ihn nicht verärgern, indem man Reis verschwendete, denn das führte zu einer schlechten Ernte. Generell wurde der Reis-Geist mit Weiblichkeit assoziiert. Die Kenyah sagen noch heute, dass der Reis «schwanger» ist, wenn die Reiskörner heranreifen. Der Reisanbau, der früher den Lebensrhythmus der Kenyah bestimmte, wird immer weniger praktiziert. Viele ziehen in die Stadt oder halten sich nicht mehr das ganze Jahr über im Dorf auf. Die Regierung hat über Jahrzehnte den Trockenreisanbau schlecht- geredet und durch Gesetze erschwert. Sie fördert lieber Monokul-turen wie Ölpalmplantagen, die profitreicher sind. Zudem hat die Christianisierung seit den 1940er Jahren ihre Spuren hinterlassen: Viele Geister wurden durch den christlichen Gott ersetzt oder ergänzt und die meisten animistischen Omen und Tabus, die unter anderem auch den Reisanbau regelten, wurden aufgegeben. 

Die beseelte Natur. Eine Welt voller Geister.

https://boris.unibe.ch/169450/1/Tong_Tana_DE_2021_Dez_low.pdf

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