Strotmann, Angelika

German

Open Access-Zeitschriften an der WWU Münster (Westfälische Wilhelms-Universität)

THEOLOGISCHE REVUE  118. Jahrgang – August 2022 –    Homolka, Walter: Der Jude Jesus – Eine Heimholung. – Freiburg: Herder 2020. 256 S., geb. € 18,00 ISBN: 978-3-451-38356-4  Das handliche, gut lesbare Buch von Rabbiner Dr. Walter Homolka, Prof. für Jüdische Studien an der Univ. Potsdam, gibt einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des jüdischen Interesses an Jesus von Nazaret als zentraler Gestalt des Christentums. Der Schwerpunkt liegt auf der modernen, seit dem 19. Jh. zunehmend positiven Rezeption Jesu als Jude durch zahlreiche jüdische Forscher:innen und Schriftsteller:innen, die H. als Heimholung Jesu ins Judentum bezeichnet. Sie ist für ihn nicht zu denken, ohne die nach der Schoah kontinuierlich gewachsene Bereitschaft von Christ:inn:en aller Konfessionen sich auf einen ernsthaften Dialog mit Vertreter:innen des Judentums einzulassen. Ausdruck dafür ist auch das prominent platzierte Geleitwort des Wiener Dogmatikers Jan-Heiner Tück (24–48), das aus röm.-kath. Perspektive die Bedeutung der jüdischen Heimholung Jesu für die Christologie herausstellt. Das Buch basiert (mit den Kap. 1, 2, 3.a. und 5.a.–d.) auf einer schon 2010 in erster Auflage erschienenen, aber wenig verbreiteten Vorgängerversion, die im kleinen Berliner Verlag Hentrich & Hentrich in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ herauskam.1 Sie wurde für die zu besprechende Ausgabe aktualisiert und um die Kap. 3.b. und 3.c. sowie das Kap. vier erweitert. Neu erstellt hat H. auch das schon einer Einleitung nahekommende, sehr ausführliche Vorwort (9–23) sowie das zusammenfassende und zugleich in die Zukunft weisende Schlusskap. („Der jüdische Jesus – eine Herausforderung für die christliche Theologie“, 217–226).  Kap. 1 („Jesusbilder von der Antike bis zur frühen Neuzeit: Ein Faktencheck“) präludiert das Thema des Buches. Nach einem Kurzabriss der biografischen Eckdaten zu Jesus von Nazaret (47–58) folgt eine Vorstellung der zumeist polemisch-abwertenden jüdischen Jesusbilder in der Spätantike (Mischna + Talmud) und im Mittelalter (z. B. Toldot Jeschu),2 die H. als Ventil und als Abgrenzungsversuche von einem gegenüber Jüdinnen und Juden immer dominanter und aggressiver auftretenden Christentum versteht (58–74).  Thematisch beginnt das Buch jedoch erst mit Kap. 2 („Jüdische und christliche Leben-Jesu-Forschung: Der historische Jesus“, 75–120), das von einer grundlegenden Wende im jüdischen  1 Walter Homolka, Jesus von Nazareth. Im Spiegel jüdischer Forschung, Berlin 2010 (Jüdische Miniaturen, 85). Warum Homolka nirgends im Buch auf diesen Vorgängerbd. hinweist, ist mir schleierhaft, zumal die im besprochenen Bd. übernommenen Kap. mit einigen Ergänzungen und kleineren Umstellungen zum großen Teil und bis in den Wortlaut hinein identisch sind mit denen der Ausgabe von 2010.  Stattdessen erwähnt H. in der Danksagung („Jude Jesus“, 4) nur die englische Übersetzung dieses kleinen Bd.es von 2015 (Jesus Reclaimed – Jewish Perspectives on the Nazarene) und die polnische Übersetzung von 2019 (Upominanie się o Jezusa. Nazarejczyk z perspektywy żydowskiej). 2 Die frühe Neuzeit wird anders als die Überschrift suggeriert nur gestreift. Theologische Revue 118 (August 2022)  DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2022-4330 2  Jesusbild erzählt – der sich im 19. Jh. entwickelnden Heimholung Jesu ins Judentum. Verschiedene Faktoren haben nach H. zu dieser Wende beigetragen: neben der jüdischen Aufklärung (zw. 16. u. 18. Jh.) und der politischen Emanzipation der Juden zu Beginn des 19. Jh.s, auch die ab Ende des 18. Jh.s entstehende christliche Leben-Jesu-Forschung, die in der Abkehr vom kirchlichen Dogma nach dem menschlichen, dem historischen Jesus fragte. Doch anders als von jüdischer Seite erwartet, führte die sich entwickelnde jüdische Jesusforschung nicht zu einer Annäherung der christlichen Jesusforschung an die jüdische. Im Gegenteil – so H. – wurde sie gegen Ende des 19. Jh.s von nicht wenigen christlichen Vertretern als Angriff auf das Christentum verstanden und als Versuch des Judentums sich als die bessere Religion darzustellen. Paradigmatisch stehen dafür nach H. der Berliner Antisemitismusstreit und die Kontroverse zwischen Adolf Harnack und Leo Baeck, wobei die christliche Seite den historischen Jesus vom antiken Judentum abzulösen versuchte, die jüdische ihn ganz in diesem Judentum verwurzelt sah.  Mit Kap. 3 („Jüdische Ansätze zur Leben-Jesu-Forschung in der Moderne“, 121–167) springt H. in die Zeit nach der Schoah und stellt in 3.a. zunächst Ansätze jüdischer Jesusforschung aus der zweiten Hälfte des 20. Jh.s vor,3 in 3.b. jüdische Jesusforscher:innen des beginnenden 21. Jh.s und in 3.c. schließlich Beiträge der Archäologie zur Leben-Jesu-Forschung. Nach H. unterscheiden sich die in 3.a. und in 3.b. porträtierten Jesusforscher:innen v. a. durch ihr Interesse. Während ein großer Teil der älteren jüdischen Jesusforschung versuchte, durch die jüdische Heimholung Jesu „eine gemeinsame Grundlage mit dem christlichen Umfeld zu finden“ (142, vgl. a. 141), sei das für die jüngere Generation kaum noch ein Thema. Diese interessiere sich für den historischen Jesus, z. B. um einen „tieferen Einblick in das Judentum zu Beginn des rabbinischen Zeitalters zu gewinnen“ (142), und unterscheide sich dadurch kaum noch von „genuin christlichen oder schlicht historischen Perspektiven auf Jesus“ (ebd.). Kap. 4 („Der jüdische Jesus in der Moderne: Eine diverse Wirkungsgeschichte“, 168–198) suggeriert zunächst einfach eine Weiterführung der in Kap. drei begonnenen Wirkungsgeschichte des jüdischen Jesus in der Moderne, tatsächlich aber stellt H. in 4.a. verschiedene literarisch-theol. Versuche von jüdischer wie nichtjüdischer Seite vor, diese Wirkungsgeschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten. Er unterscheidet dabei zwischen rezeptionsgeschichtlichen Werken, die aus einer jüdischen Perspektive geschrieben wurden bzw. aus einer Perspektive, die die jüdische Perspektive integriert, und christlichen rezeptionsgeschichtlichen Werken, die die jüdische Perspektive auf Jesus wissenschaftlich eher kritisch beurteilen. Das Kap. schließt mit einem Exkurs zur jüdischen Jesusrezeption in der englischen, jiddischen und hebräischen Literatur und einem kurzen Ausblick auf den deutschsprachigen Kontext (4.b.). Etwas ratlos lässt die Rez.in das umfangreiche Kap. 5 über Ratzingers Jesus-Trilogie zurück („Joseph Ratzinger und der jüdische Jesus: Eine [sic!] theologischer Rückfall“, 199–216), wird doch hier einer bestimmten konservativen römisch-kath. Rezeption des historischen Jesus ein Platz eingeräumt, der weniger der wissenschaftlich-exegetischen Reputation des Autors geschuldet ist als vielmehr seinem Amt als Papst Benedikt XVI. Die Beobachtungen H.s zu Ratzingers Jesusbild, u. a. seiner Weigerung sich mit dem jüdischen Jesusbild substanziell auseinanderzusetzen (207), sind alle richtig,  3 H. erwähnt aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s das 600-seitige Jesusbuch von Joseph Klausner, das 1922 in Jerusalem in hebräischer Sprache mit dem Titel „Yeshu ha-Notsri“ (deutsche Übersetzung 1930 „Jesus von Nazareth“) erschien, sowie kleinere Beiträge zum historischen Jesus von Eduard Strauss, Martin Buber und Schalom Ben-Chorin (121–128). Theologische Revue 118 (August 2022)  DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2022-4330 3  geben aber nur sehr bedingt die gegenwärtige christliche, auch kath. Wahrnehmung der jüdischen Jesusrezeption wieder. Ganz von der Jesus/Christus-Frage weg führt schließlich das Unterkap. 5.e. („Gnade und Berufung ohne Reue“) zum umstrittenen Aufsatz Ratzingers von 2018 über den jüdisch-kath. Dialog. H. greift mit der vorliegenden erweiterten und aktualisierten Neuauflage seines Jesusbuches von 2010 weit über die jüdische Leben-Jesu-Forschung im engeren Sinn hinaus. Ihn interessiert nicht nur die Bedeutung, die Jesus von Nazaret auf jüdischer Seite gegeben wurde und wird, sondern auch die Bedeutung, die ihm in der Christologie gegeben wurde und wird, einschließlich der jüdischen Auseinandersetzung damit. Das ist für den überschaubaren Buchumfang ein ambitioniertes Programm, sodass Vieles nur angerissen werden kann. Und schließlich hätte sich die Rez.in einen insgesamt systematischeren und begrifflich klareren Zugriff gewünscht. Nur zwei Beispiele: (1.) Unter dem Titel „Die christliche Leben-Jesu-Forschung“ (2.b.) versammelt sich eine bunte Mischung von Theologen aus weiterer wie näherer Vergangenheit, von denen die Hälfte keine „Leben-Jesu-Forscher“ sind, sondern christliche Dogmatiker, deren Position zudem teilweise verkürzt dargestellt wird (vgl. zu Karl Rahner 90f). (2.) Auch unter dem Titel „Jüdische Leben-Jesu-Forschung im 21. Jh.“ (3.b.) werden zahlreiche Forscher:innen vorgestellt, die nicht zum historischen Jesus forschen, sondern allenfalls zur christlichen Bibel und ihrer Entstehung. Trotzdem ist das Buch von H. als Einführung in die Entwicklung der modernen jüdischen Jesusrezeption und in die jüdische Auseinandersetzung mit der christlichen Deutung Jesu durchaus zu empfehlen – und das nicht nur, weil es die einzige Veröffentlichung zum Thema im deutschsprachigen Kontext ist, sondern weil selbst diejenigen, die schon Basiswissen mitbringen und tiefer und systematischer in die Materie einsteigen möchten, noch eine Reihe von Anregungen erhalten.4  Über die Autorin:  Angelika Strotmann, Dr., Professorin i. R. für Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn (strotman@mail.uni-paderborn.de)    4 Hermeneutisch anspruchsvoller angelegt ist Walter HOMOLKA, Jewish Jesus Research and its Challenge to Christology Today, Leiden 2017 (Jewish and Christian perspectives series, 30). 

Homolka, Walter: Der Jude Jesus – Eine Heimholung

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Homolka, Walter: Der Jude Jesus – Eine Heimholung

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