Der Blick und die Begierde der Frau : "Das kunstseidene Madchen" von Irmgard Keun

Abstract

Der literarische Blick auf die Stadt unterliegt historischen Wandlungen. Bei aller Veränderung und Vielfalt der optischen Modi bleibt er allerdings bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts stets männlich: Beobachtet und beschreibt wird die Stadt aus der Perspektive eines männlichen Erzählers bzw. einer männlichen Hauptfigur. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Frau vom öffentlichen Raum ausgeschlossen war. Anfang des 20. Jahrhunderts überschritten immer mehr Frauen, v. a. weibliche Angestellte, geschlechterorientierte räumliche Grenzen und zeigten sich an öffentlichen Orten. Mit der zunehmenden Sichtbarkeit der Frauen entstand in den 20er Jahren ein neues Frauenbild, die "Neue Frau", und wurde durch die Massenmedien verbreitet. Durch ein jungenhaftes Aussehen, sachliche und rationale Lebenseinstellung, eine unabhängige Existenz, die aktive Betätigung im urbanen und kommerziellen Raum und sexuelle Freiheit unterscheidet sich die "Neue Frau" entschieden vom alten Frauenideal. "Das kunstseidene Mädchen", die 18jährige Doris, weist bestimmte Merkmale der "Neuen Frau" auf. Vor allem verbringt sie die meiste Zeit im öffentlichen Raum und beobachtet und beschreibt die Großstadt Berlin. Sie versucht also, das Subjekt des Blicks zu sein. Ihre Erlebnisse sind jedoch durch die Unmöglichkeit eines weiblichen Blicks geprägt. V. a. die Szene, in der Doris für einen blinden Mann "Sehen sammelt", wie sie sich ausdrückt, macht klar, dass sie von der Subjektposition ausgeschlossen bleibt: Es stellt sich schließlich heraus, dass gerade der Wunsch des Mannes, die Stadt zu sehen, Doris\u27 Blick legitimiert. In ihrem Blick erscheint Berlin als glänzende Bühne des Massenkonsums und der Begierde, auf der Doris im Bewusstsein des eigenen Warencharakters sich selbst und ihren Wert mit einem internalisierten männlichen Blick misst und sich möglichst wertsteigernd präsentiert. Solche Selbstinszenierung, die unausweislich die Reproduktion des männlichen Blicks mit sich bringt, ist für sie der einzige Weg zum Aufstieg, zum "Glanz", wie sie ihr Ziel nennt. In der Stadt wird Doris immer wieder von der Macht und Gewalt des männlichen Blicks bedroht. Durch den Blick, der in ihr fälschlich eine Prostitutierte ausmacht, wird sie aus der Gesellschaft verbannt.: In der Dichotomie des Frauenbildes verkörpert die Prostituierte die wilde ungebändigte weibliche Sexualität außerhalb der Ordnung im Gegensatz zur domestizierten Ehefrau-Mutter. Doris versucht nicht nur, das Subjekt des Blicks, sondern auch das der Begierde zu sein. Damit verstößt sie gegen die Grenze gesellschaftlicher Normen der weiblichen Sexualität, wonach die Frau passiv sein und keine Begierde zeigen sollte. Ihrer Begierde kann sie sich nur im Falle eines Pelzmantels, den sie aus Liebe gestohlen hat, ohne Einschränkung ergeben. Interessanterweise ist die Begierde bezüglich des Pelzes taktil. Die Optik als der privilegierte moderne, urbane Wahrnehmungsmodus setzt die Distanz von Subjekt und Objekt voraus und kann eine perspektivische Ordnung schaffen; sie ist dem Intellekt und Verstand zugeordnet. Der Tastsinn zeichnet sich dagegen durch Abstandslosigkeit aus. Bei einer Berührung ist das Subjekt gleichzeitig das berührte Objekt, und das machtgesättigte einseitige Verhältnis Subjekt-Objekt wird aufgehoben. Der Anspruch auf die Subjektposition des Eros markiert gleichzeitig einen Widerspruch gegen die imaginierte Dichotomie des Frauenbildes. Der Schluss des Romans zeigt jedoch die unüberwindliche Gewaltsamkeit des gesellschaftlichen Geschlechtersystems. Doris sieht sich mit der Wahl konfrontiert: entweder als Straßenmädchen in einer illusionären Unabhängigkeit zu leben oder den Vorschlag eines Mannes anzunehmen und sich als domestizierte Frau in einer Gartenkolonie niederzulassen

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