Kolip P. Sexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!. Journal of Health Monitoring. 2022;7(2):3-6

Kolip, Petra

Publications at Bielefeld University

Sexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!

Publikationsserver des Robert Koch-Instituts

Journal of Health Monitoring3Journal of Health Monitoring 2022 7(2)EDITORIALSexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!Sexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!Sexuelle Gesundheit und sexuelles Wohlbefinden sind nur selten ein Thema für Public Health. Umso wichtiger ist es, hartnäckig das Augenmerk hierauf zu lenken. Das Thema ist dabei sehr facettenreich und lässt sich nicht auf sexuell übertragbare Krankheiten reduzieren. Die WHO-Definition sexueller Gesundheit aus dem Jahr 2015 stellt einen engen Bezug zum allgemeinen Wohlbefinden her: „Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozi-alen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen“ (zitiert nach [1], S. 265). Sexuelle Gesundheit ist eng mit Menschenrechten assoziiert und impliziert die Möglichkeit, „angenehme und sichere sexuelle Erfahrun-gen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt“ [1]. Studien zur sogenannten integrierten bio-logischen und Verhaltenssurveillance, die eine wichtige Grundlage für Interventionen sind, werden seit vielen Jah-ren im Robert Koch-Institut durchgeführt. Diese Studien verbinden Angaben zur Häufigkeit bestimmter Infektionser-krankungen mit Daten zum sexuellen Verhalten. Dabei wer-den auch vulnerable Gruppen adressiert: Männer, die Sex mit Männern haben, Drogengebraucher*innen (intrave-nös), Sexarbeiter*innen und Migrant*innen. Einige Beiträ-ge dieser Ausgabe des Journal of Health Monitoring grei-fen weitere wichtige Themen auf, so das Sexual- und Verhütungsverhalten Heranwachsender, die Nutzung unterschiedlicher Informationsquellen zur Sexualaufklä-rung sowie Schwangerschaftsabbrüche.Der Beitrag von Hintzpeter et al. zeigt auf der Basis der Daten der KiGGS Welle 2, dass Jugendliche immer später sexuell aktiv werden, dass im jungen Erwachsenenalter Sexualität überwiegend in festen Paarbeziehungen gelebt wird und dass Pille und Kondom nach wie vor die wichtigs-ten Verhütungsmittel sind. Spannend wird es sein zu beob-achten, wie sich hier das Sexual- und Verhütungsverhalten durch die Corona-Pandemie verändert hat. Die neunte Befragung der BZgA zur Sexualität in der Altersgruppe 14 bis 25 Jahre gibt zudem Hinweise darauf, welche Informa-tionsquellen Jugendliche und junge Heranwachsende nut-zen. Auch wenn das Verhütungsverhalten positiv bewertet werden muss, kann es gleichwohl zu ungewollten Schwan-gerschaften kommen. Das Fact sheet von Prütz et al. zeigt auf der Basis der Daten des Statistischen Bundesamtes, dass die Schwangerschaftsabbrüche zwar weiterhin rück-läufig sind, dass aber die Versorgungsstruktur, regional unterschiedlich, suboptimal ist. So ist der Anteil der medi-kamentösen Abbrüche vergleichsweise niedrig, und die Zahl der Einrichtungen, die Abbrüche vornehmen, geht noch immer zurück, sodass Frauen teilweise weite Wege auf sich nehmen müssen – auch dies ein Thema, das aus Public-Health-Perspektive Aufmerksamkeit verlangt. Die Studien des RKI und der BZgA geben wichtige Hin-weise auf zielgruppengerechte Prävention und Gesundheits-kommunikation. Auch wenn dieser individuenbezogene Journal of Health Monitoring · 2022  7(2) DOI 10.25646/9953Robert Koch-Institut, Berlin Petra KolipUniversität Bielefeld,  Fakultät für GesundheitswissenschaftenEingereicht: 12.06.2022Akzeptiert: 20.06.2022Veröffentlicht: 29.06.2022Journal of Health Monitoring4Journal of Health Monitoring 2022 7(2)EDITORIALSexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!Ansatz zur Erhöhung des Wissens wichtig sein mag, so sehr verwundert es aus Public-Health-Perspektive, dass in der Diskussion um die Förderung der sexuellen Gesund-heit und des sexuellen Wohlbefindens strukturelle Rahmen-bedingungen weitgehend ausgeblendet werden. Vulnerable Gruppen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter und ihre Lebenswelten stehen deshalb im Zentrum eines wich-tigen Modellvorhabens des interdisziplinären Zentrums für Sexuelle Gesundheit und Medizin „WIR“ (Walk in Ruhr), das vom PKV-Verband unterstützt wird. Das Vorhaben zielt auf die Förderung der sexuellen Gesundheit junger Men-schen in herausfordernden Lebenssituationen – etwa von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Wohnung oder mit Suchtproblemen, Haft- oder Pay-Sex-Erfahrungen. Ziel des Programms „Junge Welten Leben (JuWeL)“ ist es, eine positive gesundheitsfördernde Sexualkultur in den Lebenswelten der Zielgruppen zu etablieren, zum Beispiel im offenen Strafvollzug, in Wohngruppen oder Beratungs-stellen. Auch im Themenfeld sexuelle Gesundheit gilt, dass verhaltens- und verhältnisbezogene Ansätze Hand in Hand gehen müssen – hier liegt ein spannendes Lernfeld vor uns. Der Themenschwerpunkt in dieser Ausgabe des Journal of Health Monitoring wird zudem genutzt, um einen Vor-schlag zur Erfassung des Geschlechts in standardisierten Befragungen zu machen. Bereits vor Änderung des Perso-nenstandsgesetzes im Jahr 2018, das nunmehr auch einen Eintrag jenseits der binären Zuordnung in männlich/weib-lich erlaubt, war die Erfassung des Geschlechts eine Her-ausforderung. Die theoretischen Arbeiten der Frauen (gesundheits)forschung zur Differenzierung des biologi-schen (sex) und sozialen (gender) Geschlechts haben seit den 1980er Jahren gezeigt, dass beide Kategorien in der individuellen Zuordnung nicht übereinstimmen müssen. Aber die Frage blieb bislang offen, wie das soziale Geschlecht denn erfasst werden kann, zumal dann, wenn in repräsen-tativen Studien mit standardisierten Erhebungsinstrumen-ten nur einige wenige Fragen gestellt werden können. Das RKI-Team legt nun einen pragmatischen Vorschlag vor, der in der Studie GEDA 2019/2020-EHIS bereits erprobt wurde und internationale Erfahrungen aufgreift: Das Geschlecht wird in einem zweistufigen Verfahren abgefragt. Auf die Frage, welches Geschlecht in der Geburtsurkunde eingetra-gen ist (für die derzeitig in die Befragungen eingeschlosse-nen Personen in einem binären Format) folgt die Frage, welchem Geschlecht sich die befragte Person zugehörig fühlt (männlich/weiblich/einem anderen, und zwar). Dies gibt die Möglichkeit, Personen jenseits der biologischen binären Zuordnung zu erfassen. Zugleich bleibt eine Kon-tinuität zu bisherigen Erhebungen gewahrt, weil eine binäre Auswertungsoption bestehen bleibt. Die in dem Beitrag berichteten Erfahrungen der Interviewer*innen zeigen, dass die Befragten zwar punktuell irritiert sind, diese zweistufige Abfrage aber grundsätzlich funktioniert. Für fundierte Ana-lysen unter Berücksichtigung geschlechtlicher Diversität mag diese Erhebungsvariante zwar vielleicht zu grob sein, für eine Nutzung im Rahmen von repräsentativen Surveys ist sie aber sicherlich ein erster richtungsweisender Schritt.KorrespondenzadresseProf. Dr. Petra KolipUniversität BielefeldFakultät für GesundheitswissenschaftenAG 4 Prävention und GesundheitsförderungPostfach 10 01 31 33501 BielefeldE-Mail: petra.kolip@uni-bielefeld.deJournal of Health Monitoring5Journal of Health Monitoring 2022 7(2)EDITORIALSexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!ZitierweiseKolip P (2022) Sexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur! J Health Monit 7(2): 3–6. DOI 10.25646/9953Die englische Version des Artikels ist verfügbar unter:  www.rki.de/journalhealthmonitoring-enInteressenkonfliktDie Autorin leitet die wissenschaftliche Studie zur Evalua-tion des Programms „Junge Welten Leben (JUWeL)“.Literatur 1. Robert Koch-Institut (Hrsg) (2020) Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des  Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. RKI, BerlinJournal of Health Monitoring6Journal of Health Monitoring 2022 7(2)EDITORIALSexuelle Gesundheit braucht Daten – und Ideen zur Gestaltung einer positiven Sexualkultur!Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im  Geschäftsbereich des Bundesministeriums für GesundheitImpressumJournal of Health MonitoringHerausgeberRobert Koch-InstitutNordufer 2013353 BerlinRedaktionJohanna Gutsche, Dr. Birte Hintzpeter, Dr. Franziska Prütz,  Dr. Martina Rabenberg, Dr. Alexander Rommel, Dr. Livia Ryl,  Dr. Anke-Christine Saß, Stefanie Seeling, Dr. Thomas ZieseRobert Koch-InstitutAbteilung für Epidemiologie und GesundheitsmonitoringFachgebiet Gesundheitsberichterstattung  General-Pape-Str. 62–6612101 BerlinTel.: 030-18 754-3400E-Mail: healthmonitoring@rki.dewww.rki.de/journalhealthmonitoringSatzKerstin Möllerke, Alexander Krönke ISSN 2511-2708 Hinweis Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung des Robert Koch-Instituts wider.

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