Freis, David

OPUS Augsburg

133RezensionenVSWG 104, 2017/1, 133–134Mat Savelli / Sarah Marks (Hg.)Psychiatry in Communist Europe (Mental Health in Historical Perspective 1). Palgrave Macmillan, Hampshire 2015, 222 S., 60.00 £.Die Geschichte der Psychiatrie hat in den letzten Jahrzehnten auch über die Medizingeschichte hinaus weite Beachtung gefunden. Profitiert hat sie dabei vom Anschluss an kultur- und geschlech-tergeschichtliche Debatten ebenso wie von neueren Trends in der Wissenschaftsgeschichte. Trotz beständiger Neuerscheinungen zum Thema gibt es jedoch weiterhin erstaunlich viele Desiderata. Diese betreffen nicht zuletzt die Zeitgeschichte der Psychiatrie sowie ihre Entwicklung in nicht-westlichen Gesellschaften. Insbesondere hinsichtlich der Psychiatrie in den Staaten des Ostblocks, klaffen weiterhin große Forschungslücken; zudem liegen (außer zur DDR-Psychiatrie) kaum Arbei-ten auf Deutsch und Englisch vor. Die neun pointierten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes können diese Lücken nicht fül-len, bieten aber einen bisher einmaligen Einblick in die Psychiatriegeschichte des Ostblocks. Das bekannte Bild wird dabei nicht grundlegend in Frage gestellt: Die Psychiatrie in den kommunisti-schen Staaten war tatsächlich häufig geprägt von Pawlowschen Ansätzen, der Ablehnung der angeb-lich bürgerlichen Psychoanalyse und nicht zuletzt vom politischen Missbrauch psychiatrischer Di-agnosen und Institutionen gegen Regimekritiker. Den Autorinnen und Autoren des Bandes gelingt es jedoch, zu einer wesentlich differenzierteren Darstellung zu gelangen. Ausgehend von der Frage, ob sinnvollerweise von einer spezifisch „kommunistischen Psychiatrie“ gesprochen werden könne, thematisieren zahlreiche Beiträge das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in der Psychiatrie der Staaten des Ostblocks. Neben der Sowjetunion befasst sich der Band auch mit Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei, der DDR und Jugoslawien. Positiv hervorzuheben ist, dass zahlreiche der Autorinnen und Autoren auch institutionell in den entsprechenden Ländern verortet sind, so dass die Beiträge zu einem gewissen Grad nicht nur die jeweilige Geschichte der Psychiatrie, sondern auch deren Historiographie für eine internationale Leserschaft zugänglich machen. Vollständig ist die Liste der Länder natürlich nicht. Aber so wünschenswert es wäre, beispielsweise auch über die Entwicklungen in Polen informiert zu werden – man würde dem Band mit seinem sondierenden Anspruch Unrecht tun, dies als Mangel zu sehen. Das Themenspektrum ist nicht weniger weit als der geographische Rahmen; diskutiert werden insbesondere die Rezeption und Anwendung neuer Theorien, Behandlungskonzepte und -metho-den von der Arbeitstherapie über Schocktherapien bis hin zur aufkommenden Psychopharmakolo-gie. Die oben erwähnten Charakteristika der Psychiatrie in den Ostblockstaaten sind dabei durchweg präsent, deutlich wird aber auch, dass diese sich nicht darauf reduzieren lässt. Neben der Pluralität von Theorien und Methoden betonen die Autorinnen und Autoren insbesondere die komplexen Dynamiken zwischen Moskau und seinen Satellitenstaaten sowie die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs für den Transfer von Ideen und Theorien zwischen Ost und West. Hier liegen Stärken und Schwächen des Bandes nah beieinander. Einerseits gelingt es, ein Panorama der Entwicklung der Psychiatrie in den Staaten des Ostblocks zu zeichnen und dabei auch bisher nur unzureichend erforschte Aspekte in den Fokus zu rücken. Andererseits machen es aber gerade die Themenvielfalt This material is under copyright. Any use outside of the narrow boundaries of copyright law is illegal and may be prosecuted. This applies in particular to copies, translations, microfilming as well as storage and processing in electronic systems. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Fra z Steiner Verlagrezensionen134und die Vielzahl nationaler Kontexte bisweilen schwierig, die Beiträge systematisch miteinander in Beziehung zu setzen. Mit Blick auf vergleichende und transnationale Perspektiven gibt es sicherlich noch Potential, sowohl innerhalb des Ostblocks als auch im Vergleich mit dem Westen. Es bleibt zu hoffen, dass der Band dazu beitragen wird, weitere Forschungen auf diesem Gebiet anzustoßen. Erfreulicherweise handelt es sich hier um einen jener Sammelbände, die deutlich mehr sind als die Summe ihrer Teile. Die Beiträge zeichnen die Geschichte der Psychiatrie im kommunistischen Europa vollständiger und differenzierter als bislang geschehen. Damit betritt der sehr lesenswerte Band selbst Neuland und bietet zugleich das Potential, weitere Forschungen zu stimulieren. Er trägt zur Medizin- und Psychiatriegeschichte ebenso bei wie zur Politik- und Gesellschaftsgeschichte Osteuropas im 20. Jh. David FreisMünsterFranz Steiner Verlag

German

Rezension: Mat Savelli / Sarah Marks (Hg.): Psychiatry in Communist Europe (Mental Health in Historical Perspective 1). Palgrave Macmillan, Hampshire 2015, 222 S., 60.00 £

Rezension: Mat Savelli / Sarah Marks (Hg.): Psychiatry in Communist Europe (Mental Health in Historical Perspective 1). Palgrave Macmillan, Hampshire 2015, 222 S., 60.00 £

Abstract

Similar works

Full text

Available Versions

OPUS Augsburg