Laarmann, Matthias

Nießen, Johannes

German

Latein und Griechisch in Nordrhein-Westfalen (LGNRW - E-Journal)

LGNRWSeite 52Konfliktfeld Leistungsbewertung: zielsprachen-gerechtes Übersetzen – provon Dr. Matthias LaarmannImmanuel-Kant-Gymnasium Dortmund-Asseln matthias.laarmann@web.de „So wörtlich wie möglich, so frei wie nötig“ – eine Übersetzungsparole, die seit Genera-tionen von Philologen an Philologen weiter-gereicht wird. Und damit fängt das Problem an. Es droht ein unpädagogischer Philologis-mus, wenn im schulischen Lateinunterricht die ausgangssprachenorientierte Parole ge-wissermaßen zur regulativen Idee erhoben und Schüler*innen zur maßgeblichen Über-setzungsdoktrin auferlegt wird. Der lebhafte, vielstimmige und argumentationsstarke Wi-derspruch zur „Wörtlichkeitsmaxime“ äußert sich schon seit Jahrhunderten und kann für den deutschsprachigen Raum besonders gut verfolgt werden (Kitzbichler, J. u. a. [Hrsg.]: Dokumente zur Theorie der Übersetzung anti-ker Literatur in Deutschland seit 1800. Berlin / New York: de Gruyter 2009). Guten Rat in unserer Sache holt man sich aus der Antike, und zwar von Hierony-mus (345-420), einem Hauptpatron des ziel-sprachenorientierten Übersetzens. Dessen 1600. Todestages gedachte in diesem Jahr Papst Franziskus (*1936) mit dem Aposto-lischen Schreiben Sacrae Scripturae affectus (30.09.2020; http://www.vatican.va/content/francesco/la/apost_letters/documents/papa-fran-cesco-lettera-ap_20200930_scripturae-sacrae-af-fectus.html), in dem der Papst im Anschluss an P. Ricoeur (1913-2005) von der „Überset-zung als Akt sprachlicher Gastfreundschaft“ (posse similitudinem institui inter versionem, uti actum hospitalitatis linguisticae) redet. In seiner berühmten Epistola 57 de optimo gene-re interpretandi macht sich Hieronymus zum Fürsprecher eines Übersetzens nach der De-vise non verbum e verbo, sed sensum exprime-re de sensu (ep. 57,5 CSEL 54, 508, Z. 12-13). Übersetzen hieße demnach, einen fremdspra-chigen Text mit aller Gastfreundschaft in der Zielsprache zu inkulturieren. M. a. W.: Anti-ke Texte sollen eine neue, gute Heimat in der deutschen Sprache finden!Als konkretes, beinahe banales Beispiel einer problematischen, ausgangssprachlich orien-tierten Übersetzungsmechanik diene hier der unterrichtliche Umgang mit AcI-Überset-zung(en).Schon in der Grammatik-Bibel deutschspra-chiger Latinistik-Studierender, Rubenbauer, H. / Hofmann, J. B. / Heine, R.: Lateinische Grammatik. Bamberg: C. C. Buchner 101977 u. ö., 198f. (§ 171), werden sechs Überset-zungsmöglichkeiten für einen AcI angeboten, davon drei Varianten, bei denen der AcI – konsequent als satzwertige Konstruktion ver-standen – im Deutschen auch als Hauptsatz erscheint: 1. Konjunktionalsatz mit „Dass“, 2. Infinitiv (nur bei gleichem Subjekt), 3. Neben-satz ohne Einleitung, 4. Hauptverbum als Ver-gleichssatz eingeschoben, 5. Hauptverbum als Präpositionalausdruck, 6. Infinitiv substan-tiviert. Bayer, K. / Lindauer, J.: Lateinische Grammatik. München: Lindauer / Olden-bourg 1974 u. ö., 179 (§ 160.3; der „dass-Satz“ gilt hier als – Zitat – „Rohübersetzung“!) füh-ren immerhin fünf verschiedene Möglichkei-ten der Wiedergabe des AcI an, ebenso Fink, G. / Maier, F.: System-Grammatik Latein. München: C. C. Buchner 1997, 148 (§ 77).Aber was wird aus diesem universitär ver-fügbaren AcI-Übersetzungswissen? In der gewöhnlichen, Lehrplan-geleiteten Praxis des Lateinunterrichts wird den Schüler*innen diese (mutter-)sprachbereichernde Varianz vorenthalten oder ihnen zumindest davon abgeraten, diese Möglichkeiten zu ergreifen. So heißt es sogar in dem ansonsten überaus lobenswerten Pontes. Begleitbuch. Stuttgart: Klett 2016, 41: „Meistens funktioniert aber nur die Übersetzung mit einem dass-Satz.“ Viel zu selten werden in Schulbüchern für Schü-ler*innen geeignete Übungen angeboten, um der „dass-Satz“-Monotonie zu entkommen. Übles Resultat solcher „Empfehlungen für sicheres Übersetzen“ ist eine überhohe „dass-Satz“-Produktion, die umgekehrt proportional zu Empfehlungen von Stilratgebern für gutes Deutsch steht. Wenn gutes Übersetzen „gast-freundliches Beheimaten“ im Sinne  P. Ri-coeurs sein will, sollte dies anders aussehen!1. Jahrgang, Ausgabe 2/2020Seite 53Aporien der Leistungsbeurteilung: zielsprachen-gerechtes Übersetzen – contra1  Vgl. etwa Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Latein. Düsseldorf 2019 [= G9], 33-34 gegenüber Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Lateinisch. Düsseldorf 2013, 44; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Latein. Frechen 2008 [= G8], 66 und (noch) Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Latein. Frechen 2008 [= G9], 62.von Johannes Maximilian NießenStädtisches Kaiser-Karls-Gymnasium Aachen niessen@ph-heidelberg.deAktuelle alternative Beurteilungsmodelle für Übersetzungsleistungen von Schüler*innen setzen dem traditionellen quantifizierenden Zugriff (wie etwa dem Zählen von Fehlern oder Punkten bei der Negativ- bzw. Positiv-korrektur) einen qualifizierenden Zugriff (wie etwa die Textsinnerfassung über das „Text-verständnis-ABC“ beim Duisburger Modell) entgegen. Zudem vermögen sie diesen Zugriff unter Bezugnahme auf das Paradigma der Kompetenzorientierung sogar – wenn auch indirekt – bildungspolitisch einzufordern.1 Al-lerdings ist die Standardisierung einer solchen Qualifizierung bisher bei noch keinem Modell restlos zufriedenstellend gelungen, sondern bleibt nach wie vor Desiderat. Ob es aber überhaupt wünschenswert oder sinnvoll ist, qualifizierende Beurteilungsver-fahren zu standardisieren, bleibt zu bezwei-feln, da sie sich, insofern auch sie Messver-fahren darstellen, mit der unvermeidlichen Aporie konfrontiert sehen müssen, wiederum auf eine wie auch immer geartete, bestenfalls nicht-willkürliche Quantifizierung zurückzu-greifen. Dies liegt daran, dass auch im Falle von Schülerübersetzungsleistungen – bei al-ler zu Recht kritisierten Subjektivität – em-pirische Daten (seien es im Einzelnen Fehler, Punkte, Äquivalenzen, Grade der Sinnentstel-lung oder -erfassung, …) letztlich zu Ziffern-noten verarbeitet werden. Als empirisches Messverfahren unterliegt die qualifizierende wie quantifizierende Bewertung somit aber gleichermaßen in allerletzter Konsequenz der – denn auch „halbe“ Fehler oder Punkte setzen diese voraus – Binarität von „richtig“ und „falsch“. Bereits der durch die Abituro-bligatorik seit 2020 „geheiligte“ Kirchenvater Augustinus inszenierte sich als ein Fürspre-cher dieser Binarität bei der Sinnermittlung: „Wenn Wörter vorgebracht werden, wissen wir entweder, was sie bezeichnen, oder wir wissen es nicht“ (cum verba proferuntur, aut scire nos, quid significent, aut nescire; De magistro 11,36 = Mojsisch, Übers. 101).Der Versuch, diese logische Voraussetzung – so problematisch sie auch immer sein mag, wenn Schüler*innen in ihren Übersetzungs-klausuren nur „Zeichen von Zeichen“ (segni di segni; Umberto Eco, Il nome della rosa) wie-dergeben – ernsthaft infrage zu stellen oder gar aufzugeben, indem man sich mit einem qualifizierenden Verfahren in offenen Wider-spruch zu ihr zu begeben versucht, scheitert schließlich weniger an dem (von Kritiker*in-nen vielfach ins Feld geführten) Mangel an Praktikabilität bei der Korrektur oder dem Optimierungsbedarf der dieser Korrektur zu-grundeliegenden Modellen, als vielmehr an schulrechtlichen Vorgaben: Diese verpflichten sich nämlich explizit auf die binäre Logik von „richtig“ und „falsch“, und zwar angesichts des in Form der Notengebung moderierten ge-sellschaftlichen Sachzwangs zur Vergabe von Zugangsberechtigungen. „So wörtlich wie möglich, so frei wie nötig“ ist somit nicht bloß regulative Idee, sondern in ihrer letztlich ge-sellschaftlichen Notwendigkeit zu erkennen!Angesichts dieser Notwendigkeit braucht sich ein quantifizierendes Verfahren (z. B. die Negativkorrektur mit Fehlerquotient) von der Forderung nach einer wissenschaftlichen Begründung oder Aufarbeitung noch nicht einmal betroffen fühlen und kann diesen Le-gitimationsdruck jederzeit in Richtung der qualifizierenden Beurteilungsverfahren ver-schieben.Die unentrinnbare Aporie, in die sich qua-lifizierende Beurteilungsverfahren begeben, lässt sich nicht vermeiden, wenn man nicht zugleich auch das Verfahren der Notenge-bung preiszugeben bereit ist. Einen bestimm-ten Fehlerquotienten kritisch zu diskutieren, bleibt dabei – insofern jeder Absicherungs-versuch dieses gegenüber anderen Fächern vermeintlich „harten“ Kriteriums letztlich ebenfalls in die skizzierte Aporie führt – nach wie vor möglich, sinnvoll und vielleicht sogar wünschenswert.

Konfliktfeld Leistungsbewertung: zielsprachengerechtes Übersetzen: Pro und Contra

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Konfliktfeld Leistungsbewertung: zielsprachengerechtes Übersetzen: Pro und Contra

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