Diesener, Gerald

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Comparativ (E-Journal)

Buchbesprechungen Georg W. Oesterdiekhoff, Tradi-tionales Denken und Modernisie-rung, Jean Piaget und die Theorie der sozialen Evolution, Westdeut-scher Verlag, Opladen 1992, 435 S. Zentrales Anliegen der vorliegen-den Untersuchung Oesterdiekhoffs ist die konsequente Anwendung und partielle Weiterführung der sozial-psychologischen Entwicklungstheo-rie Jean Piagets, wobei die Analyse der kognitiven, sozialen und mora-lisch-rechtlichen Phänomene in pri-mitiven, traditionalen und in westli-chen, modernen Gesellschaften ih-ren engeren Gegenstand ausmacht. Selbstbewußt wird an den Genann-ten angeknüpft: Dessen schon vor mehr als einem halben Jahrhundert ausgearbeitetes Oeuvre widmete sich der menschlichen Entwicklung von der Geburt bis zum Verlassen des Kindesalters eingangs des zweiten Lebensdezenniums. Die Weltaneig-nung von Heranwachsenden wurde dabei in einander ablösenden Etap-pen (im wesentlichen die sensomo-torische, die präoperationale, die konkret-operationale und schließlich die formal-operationale Stufe) be-schrieben, die Piaget kulturunab-hängig, mithin universal begriff. Das stärkste Argument des Au-tors für die nachdrückliche Bezug-nahme auf Jean Piaget besteht im Hinweis auf mittlerweile weltweit vielhundertfach durchgeführte Ver-suchsreihen, die sämtlich dessen Hypothesen bestätigt hätten. Wäh-rend sich also die Menschen aller-orten zunächst nach gleichem Muster entfalteten, verharrten traditionale Völker auf einer präformalen Stufe, nur in der modernen westlichen Zi-vilisation gelinge der Übergang in die formal-operationalen Qualitäten des Umgangs mit der Welt. Dieser Kernthese sind nach einer umfang-reichen Einführung in Piagets Theo-rie die drei folgenden Kapitel des Buches zugeordnet. Der Verfasser zeigt sich dabei als Diskutant, der auch versteht, andere Lehrmeinungen kräftig zu attak-kieren. Sosehr seine völkerpsycho-logischen Erörterungen denn auch über große Strecken überzeugen, viele Details schlüssig erklärt und interpretiert werden, gelegentlich direkt spannend zu lesen sind und fraglos eine disziplinübergreifende Diskussion befördern, bleibt vor al-lem Skepsis gegenüber der wortreich entwickelten Folgerung, nunmehr sei ein „Paradigmawechsel" geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorie-bildung überfällig: „Indem die Sta-dientheorie die grundlegenden Strukturen der menschlichen Ent-wicklung aufzeigt, das Verhältnis von primitiven und zivilisierten Erwach-senen strukturell erläutert, wird sie zur Grundlagenwissenschaft der Sozialwissenschaft." (S. 403) So sehr es das gute Recht eines Verfasser ist, eine Lanze für das von ihm favorisierte Schema zu brechen, schießt diese Behauptung weit über 245 Buchbesprechungen das Ziel hinaus. Denn die Festlegung auf ein bestimmendes Denkmodell birgt immer die Gefahr der Übertrei-bung: diese Erfahrung haben auch schon andere Wissenschaftler mit dem Anspruch gesammelt, das zen-trale und damit alles weitere erklä-rende Moment beim Schopf gepackt zu haben. Nun will der Historiker nicht leichtfertig dilettierend in fremdem Revieren wildem, gerade unter dem Gesichtspunkt des Vergleichs öffnet ihm der Blick Oesterdiekhoffs in manch entlegenen Winkel unseres Planeten anregende und aufschluß-reiche Einsichten. Die Vielgestal-tigkeit des geistigen Lebens auf der Erde ist allemal ein spannendes Thema, das die genaue Analyse lohnt. Doch scheint das Gmndanliegen der hier versuchten Transformation von genuin kinderpsychologischen For-schungsergebnissen auf unsere mo-derne, gerade seit Piaget in bis dahin unvorstellbarem Tempo zusam-menwachsende Welt jede Katego-risierung in Völker neben der leicht einsehbaren Problematik hieraus ableitbarer Werturteile insgesamt wenig überzeugend: Gehen nicht die auf dem hier betrachteten Gebiet gewiß vorhandenen tiefen Unter-schiede eher durch die Völker? Wel-ches Volk ist heute noch relativ ab-geschlossen, in sich homogen, also auch befangen in einem wirklich „hausgemachten" Kosmos? Es dürfte auch nach grobem Überblick eine Minderheit sein. Die so ungeheuer spannende Frage der Transforma-tionsprozesse hat zudem seit Piaget einen enormen Bedeutungszuwachs erlebt. Angesicht heutiger Zuord-nungsprobleme warnen manche Er-fahmngeneindringHch: Hatnichtz.B. die bekannte Kategorisierung in Er-ste, Zweite und Dritte und gelegent-lich auch Vierte Welt gezeigt, daß derlei Skalen in aller Regel wegen ihres pauschalen Charakters eher hinderlich sind? Oesterdiekhoff hat früheren Wi-derstand gegen Piagets Theorie als oft unehrlich charakterisiert, da in Wirküchkeit zumeist wissenschafts-externe - etwa ideologische - Grün-de zu dessen Ablehnung geführt hätten. Das mag tatsächlich so gewe-sen sein, aber es war gewiß nicht die alleinige Ursache. Denn auch man-che dieser Untersuchung zugrunde-liegenden Prämissen fordern Wider-spruch heraus: Etwa läßt sich gegen apodiktische Sätze wie „Armut und Reichtum einer Nation hängen im wesentlichen vom Wissen und von den Fertigkeiten der in ihr lebenden Bevölkerung ab", wohl manches einwenden, das nicht nur auf einer anderen Ideologie oder einer von der des Autors unterschiedenen Weltan-schauung basiert. Ganz abgesehen davon regen solche Feststellungen heute mehr denn je dazu an, über das mögliche und wünschbare Maß von Armut und Reichtum auf unserem Planeten nachzudenken. Unbenommen von dieser Kritik verdienen auch die hier vorgelegten Buchbesprechungen Arbeitsergebnisse dennoch den wis-senschaftsinternen Diskurs, auch und gerade aus disziplinübergreifender Sicht. Vielleicht ist der abschließende zustimmungsfähige Appell, dem „menschlichen Faktor" im Entstehen von Industriegesellschaften stärkere Beachtung als bislang zu schenken, die anregendere Aufforderung als der Ruf nach dem Paradigmawechsel. Gerald Diesener Antonio Gramsci, Gefangnishefte. Kritische Gesamtausgabe, auf der Grundlage der von Valentino Gerratana im Auftrag des Gram-sci-Instituts besorgten Edition, hrsg. von Deutschen Gramsci-Projekt unter der wissenschaftli-chen Leitung von Klaus Boch-mann und Wolfgang Fritz Haug, Bd. 1-3 (Hefte 1 bis 5), Argument-Verlag, Hamburg/ Berlin 1991-1992,703 u. 317 S. Sabine Kebir, Antonio Gramscis Zivilgesellschaft. Alltag-Ökono-mie-Kultur-Politik, VSA-Verlag, Hamburg 1991,255 S. Nach den Erschütterungen des Jah-res 1989 konnte man für einen kur-zen Moment eine Gramsci-Renais-sance erwarten: Der intensiveren Begegnung von Ost- und West-Lin-ken hätte ja Neugier auf die theoreti-schen Bezugsgrößen der jeweils an-deren erwachsen können. Die Suche nach Akzeptanz einer marxistischen Tradition, die nach dem Zusammen-bruch einer sich gerade auf Marx berufenden staatgewordenen politi-schen Bewegung nicht mit dem Vorwurf des Dogmatismus stigma-tisiert wurde, legte den Griff zu Ita-liens unkonventionellem Linksden-ker der zwanziger und dreißiger J ahre nahe. Und schließlich weniger vor-dergründig: Der Zusammenprall von Zivilgesellschaft und (real-)soziali-stischer Bewegung, aus dem offen-kundig eine neue Stellungskrieg-Situation hervorging, ruft bis heute nach Kategorien des Verstehens und Erklärens. Der 100. Geburtstag Gramscis mochte zusätzlichen Anreiz bieten. Eine 1989 in Formia und später v.a. in den USA initiierte International Gramsci Society veröffentlicht in Herausgeberschaft des Gramsci-Übersetzers Joseph A. Buttigieg seit März 1992 ein Bulletin1, seit De-zember 1991 existiert eine katala-nische und schon seit Februar 1990 eine sardinische Gramsci-Gesell-schaft. 4 223 Einträge kennt John Commetts Bibliografia Gramsciana (1922-1988)2 und belegt, daß vieles über den sardischen Kulturtheore-tiker geschrieben worden ist: 61% davon in italienischer Sprache, 13% in englischer, worauf in der Häufig-keit französische, deutsche und griechische Texte folgen. Während in den meisten westlichen Ländern 247 

Georg W. Oesterdiekhoff, Traditionales Denken und Modernisierung, Jean Piaget und die Theorie der sozialen Evolution, Westdeutscher Verlag, Opladen: 1992, 435 S.

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Georg W. Oesterdiekhoff, Traditionales Denken und Modernisierung, Jean Piaget und die Theorie der sozialen Evolution, Westdeutscher Verlag, Opladen: 1992, 435 S.

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