Wald, Martin C.

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196 I Buchbesprechungen Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsã-tze über patriotischen Aktionismus, Geschlchtskultur und totalen Krieg (= Pallas Athene, Band 21), Stutt-gart: Franz Steiner Verlag 2007, 3S7 Seiten. Rezensiert von Martin C. Wa1d, Berlin 1--------------------------· Dieser Sammelband ist ein Glücksfall, gibt er doch nicht nur dem Studenten luzide Analysen ausgewãhlter Problembereiche der deutschcn Geschichte um 1900, son-dem auch jenen, die nach mehr verlangen, Einblicke in die intellektuelle Biographie eines der profundesten amerikanischen Kenner mitteleuropãischer Geschichte, Roger Chick.ering (*1942), sowie im Zuge dessen in die transatlantische Historiogra-phiegeschichte der letzten 30 Jahre. Ver-sammelt sind zum Teil nachtrãglich für diese Verõffentlichung ins Deutsche über-set:zte Vor- und Nachstudien zu grõ&ren Monographien des Historikers - umso lõblicher, ais diese selbst damals nicht auf Deutsch erschienen waren. ,,Patriotischer Aktionismus" bezieht sich dabei auf sei-ne Forschungen in den Achtziger Jahren zum Verbandswesen iro Wilhelminischen Deutschland, speziell zum Alldeutschen Verband, 1 ,,Geschichtskultur" auf seine ,,intellectual history" des akademischen AuBcnseiters und kulturgeschichtlichen Vordenkers Karl Lamprecht, die Chi-dcering in den Neunziger Jahren be-schaftigte.2 Unter dem Stichwort ,,totaler Krieg" schliefüich werden hier einige Auf-sãtze subsumiert, die zuletzt im weiteren Vorlauf einer - für einen Nestor vielleicht überraschenden - lokalgeschichtlichen Studie über den Alltag in Freiburg im Breisgau wãhrend des Ersten Welcktieges, die 2008 auch auf Deutsch erscheinen wird, entstanden sind. 3 Zwischen 1976 und 1981 entspann sich in der Kaiserreichsforschung ein deutsch-eng-lischer Disput, den ein früher Beobachter in die trefrende Formei fasste: Manipula-tion von obcn odcr Selbstorganisation an der Basis?4 Hans-Ulrich Wehler und Wolf-gang Mommsen hatten in der Nachfolge Eckart Kehrs die einflussreiche Auffassung vertreten, die Verbandsorganisationen des Wilhelminismus seien ais Erfüllungsge-hilfen des (Sozial-)Imperialismus und des industriell-agrarischen Komplexes zu be-trachten. Dagegen argumentierten jüngere englischsprachige Historiker wie Geoff Eley und David Blackboum, die ,,soziale Mobilisierung" (Anthony Oberschall) im Kaiserreich sei nicht nur unabhãngig von Elitenkontrolle vonstatten gegangen, son-dem babe sich immer starker gegen die Politik gewendet, die Definirionsmacht über den Nationalismus beansprucht und damit die Machtstrukturen im Kai-serreich destabilisiert. Chickerings erste Aufsãtze zum ,,pauiotischen Aktionismus" von 1979 gehõren in diesen Diskurs und stützen die zweite These. Die plebiszitaren Methoden des ,,deutschen Wehrvereins" (1912-1914) schürten Emotionen, ,,die nicht nur nicht mehr mit dem politischen Kalkül der Regierung zu koordinieren wa-ren, sondem auch gcradezu gegen dieses Kalkül zu wirken drohten" (S. 61). Sodann arbeitete Chick.ering die von der deutschen Forschung vemachlãssigten enormen Un-terschiede zwischen der regierungstreuen und wirtschafunahen Deutschen Koloni-algesellschaft, dem hesonders unkontrol-lierharen Alldeutschen Verband und dem Deucschen Flottenverein, dessen Grund-satzkonflikt mit der Reichsregierung letzt-lich nur mühsarn gezügelt werden konnte, heraus. Der radikalnationalistische Akti-vismus ihrer Mitglieder rnachte alle diese Verhãnde ,,potentiell zu Zauherlehrlingen" (S. 83). Nachdem Rezensenten auf einige Wider-sprüche zwischen These und Ergehnis-sen hingewiesen hatten,5 argumentierte Chickering 1988 vorsichtiger, dass ,,heide Seiten in der Dehatte in unterschiedlicher Hinsicht Recht hahen ": Zwar fand die Mo-hilisierung õffentlicher Meinung jenseits des staaclichen Zugriffs statt, doch wur-den die Konflikte ,,mit einem hegriffiichen Vokahular ausgetragen, das die staaclichen lnstanzen systernatisch gefórdert hatten, um die autoritare Gesellschafcsordnung zu stützen" (S. 148). 1993 schlieBlich ergriff Chickering in der Theoriedehatte eher ge-gen Eleys selhstrechtfertigende Neuauflage seines Buches üher den deutschen Radi-kalnationalismus das Wort. 6 lm Rahmen einer Analyse der Sprachpolitik im All-gemeinen Deucschen Sprachverein (seit 1886) hestritt er die von Eley auf der Basis von Theorien der ,,linguistischen Wen-de" hehauptete ,,historische Autonomie der Sprache"; vielmehr sei diese nur ,,eine kontingente und konstituierende Facette der sozialen Erfuhrung" (S. 223). Eine weitere Wende in der akademischen Entwicklung Chickerings hetrifft seine zunehmend kritische Haltung zur ,,Psy-chohistorie". lm Vorwort schildert der Historiker selhst, wie ihn hereits als jun-ger Doktorand in den Sechziger Jahren ein Vomag Richard Hofstadters üher den Buchbesprechungen l 197 ,,paranoiden Stil" in der arnerikanischen Politik auf den Gedanken hrachte, die Verhandsideologie im Deutschen Kaiser-reich mit diesem lnstrument zu untersu-chen.7 Noch lange Jahre hlieh die ,,Angst" ein Schlüsselhegriff Chickerings. ln einem Aufsatz von 1988 üher verschiedene patri-otische Frauenvereine zum Beispiel hetont er die ,,üherzogenen Ãngste" des Deut-schen Bundes zur Bekampfung der Frau-enemanzipation (S. 108). Die Grenzen des Konzepts zeichneten sich zu diesem Zeit-punkt allerdings schon deuclich ah, denn zur Differenzierung zwischen den verschie-denen Verhãnden, die alle gleichermaBen ,,angstheladene" Sprachhilder nutzten, taugte es nicht. AuBerdem: ,,Schon von einem ,paranoiden Stil' zu reden, hieB unvermeidlich, eine Art analytischer Ka-tegorien anzuführen, die an der Behand-lung tiefliegender Psychopathologien aus-gerichtet war, deren Erklarung [ ... ] in der menschlichen Triehstruktur - wenn üher-haupt - nur durch die durchgreifende Psy-choanalyse des Einzelsuhjekcs zugãnglich gemacht werden konnte" (S. 11). Folgerichtig wandte sich Chickering des-halh dem Erkenntnismittel der Biographie zu. Ein Buch üher Erich Ludendorff kam - der Charakter stõBt eher ah als dass er fasziniert - nicht zustande, dafür aher spater ein kleinerer im vorliegenden Band wieder ahgedruckter Aufsatz. ln einer Be-urteilung des ,,Flottenprofessors" Dietrich Schafer von 1988, die im Gewand eines Vergleichs mit Max Wehers Nationalismus daherkommt, ist noch viel vom Konzept des ,,paranoiden Stils" zu spüren: Schafer war so etwas wie ein ,,gema.Bigter Alldeut-scher", der gleichwohl unter den Fachkol-legen oh seines aktiven Engagements für den Verhand als ,,Extremist" galt und für 198 I Buchbesprechungen Weber nichts weniger als den "T ypus eines alldeutschen Wirrkopfes" verkõrperte (S. 103). Auch zu Karl Lamprecht war Chi-ckering über seine Beschãftigung mit den Alldeutschen gekommen. Der Lamprecht-Streit hatte als die klassische Historiker-kontroverse auf deutschem Boden bereits das Interesse jüngerer deutscher Kultur-historiker erregt,8und seine interessante Parias-Stellung innerhalb der Zunft zu aufschlussreichen Qualifikationsarbeiten angeregt.9 Nicht zuletzt begannen Lam-prechts Name und Geschichtskonzept zur selben Zeit, als Chickering seine Biogra-phie vorlegte, zum Zweck einer Selbstbe-sinnung der Leipziger Geschichtswissen-schafc eingesetzt zu werden. 1° Chickering hingegen ging es in englischsprachiger Bi-ographie-Tradition durchaus auch um den Bildungsweg des Menschen Lamprecht. Traumatisierungen in der Kindheit gaben dem Historiker ein ,,grundlegendes Iden-titatsproblem" (S. 156) mit auf den Weg. Diese Herleitung ermõglichte es Chicke-ring, in Lamprecht einen klassischen Tra-gõdienhelden zu erkennen: ,,Lamprechts Hybris ruft den Zorn der Patriarchen der historischen Zunft hervor, die ihre Jün-ger mobil machen, um die Schwachen des Helden auszukundschafcen und den Karnpf gegen ihn zu führen. Am Ende werden die jungen Sieger mit Auszeich-nungen belohnt, der besiegte Abtrünnige mit Verbannung bestrafc. ln keiner Hin-sicht übertreibt dieses Bild den Ausgang des Dramas" (S. 199). Nach Selbstbe-kenntnis des Biographen war ,,der Krafc dieses merkwürdigen, geistreichen, krafti-gen, narrischen, tragischen Helden" nicht zu entkommen (S. 205). Lamprechts Vision einer ,,histoire totale" setzte Chickering in den folgenden 15 Jah-ren auch auf die eigene Tagesordnung. 11 Er verlangte sich selber nicht weniger als eine ,,alies umfassende Kulturgeschichte des to-talen Krieges" ab (S. 12). Diesem Zweck cliente auch eine schlüssige Dekonstruk-tion der alteren inflationar gebrauchten milltarhistorischen Meistererzahlung vom ,,totalen Krieg". Chickering pladierte für die Beibehaltung des Begriffs als heuri-stisches Denkmodell, als Idealtypus, beo-bachtete in der Geschichte allerdings nur eine quantitative ,,Extensivierung", keine qualitative ,,lntensivierung" des Krieges. Ob nun Speere oder Maschinengewehre: Kriegführung sei ,,ihrem Wesen nach ein intensives Geschaft" (S. 254). Lecztlich sei ,,die Vorstellung, dass Krieg und Ge-sellschafc je als getrennte Spharen funkti-onieren, [ ... ] pragendes aber trügerisches Merkmal der konventionellen Erzahlung des totalen Krieges" (S. 256). Aus seiner Lokalstudie über den ,,totalen Krieg" in Freiburg liegen hier zwei ausgekoppelte Aufsatze vor. Todesanzeigen in der Stadt-presse folgten zwar konventionellen und verordneten Leitlinien, spiegeln aber doch - besonders in der sozialistischen, aber auch in der liberalen und katholischen Presse - den ,,verblassenden Glanz des Krieges" und ,,die wachsende Verzweiflung" der Bevõlkerung (S. 331). Der Luftkrieg über Freiburg - beim folgenschwersten Angriff am 14. April 1917 starben zwõlf Men-schen, und es entstand ein Drittel aller Kriegssachschaden - sorgte in Fragen wie der Aufrechterhaltung der nachtlichen Str:illenbeleuchtungen für wachsende Unzufriedenheit mit der staatlichen und militarischen Obrigkeit, die zunehmend vom Stadtrat geteilt wurde. Auch zeigte sich, dass sich die technische Entwicklung dieses neuartigen Krieges meistens zum Vorteil der Angreifer auswirkte. Die Luft-abwehr war ineffektiv, und bis Kriegsende verwirrten widersprüchliche Gegenma.B-nahmen die Bevõlkerung eher, als dass sie sie in Abwehrbereitschaft versetzt hatten. Dieser Befund erganzt sehr gut Chicke-rings breitere Überlegungen zur britischen und deutschen Kriegsorganisation 1914-1915. Die Deutschen waren besser auf einen Krieg vorbereitet, hatten dann aber, als die Extensitat des Krieges alie Vorher-sagen und Prazedenzfãlle obsolet machte, weniger Freiheit zur Improvisation als die Briten. Chickering legt mit dieser Auffas-sung wohl zurecht nahe, dass das Konzept des ,,totalen Krieges" nicht über den ,,Gre-at War" hinaus in die Vergangenheit über-dehnt werden sollte. Roger Chickering wird sich voraussicht-lich im Jahr 2010 zur Ruhe setzen. Der vorliegende Band ist bereits ein Vorbote und ein Geschenk an die deutsche Fach-õffentlichkeit. Es ware zu wiinschen, dass der Historiker neue Projekte auf den Weg bringt, die eine der groísen intel!ektuellen Biographien zwischen Deutschland und den USA fortzuschreiben vermõgen. Anmerkungen: We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914, London 1985. 2 K. Lamprecht, A German Academic Life (1856-1915), New Jersey 1993. 3 lhe Gn:at War an Urban Life in Gerrnany. Frei-burg 1914-1918, Cambridge 2006; deutsch in Vorbereitung ais: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und stãdtischer Allt:ag 1914-1918, Paderborn 2008. Buchbesprechungen l 199 4 W. Mock, ,,'Manipulation von oben' oder Selbst-organisation an der Basis? Einige neuere Ansãtze in der englischen Historiographie zur Geschich-te des deutschen Kaiserreichs", in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 358-375; von Chi-ckering knapp rekapituliert auf S. 132. 5 Vgl. D. K. Buse, Rezensionzu .We Men ... ", in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 27 (1987), S. 775-779. Letztlich müsse Chickering anerken-nen: ,, ... the League was the propaganda arm of the most reactionary and aggressive segment of German society". 6 G. Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bis-marck, 2. Aufl. AnnArbor 1991, neues Vorw. S. xiii-xxvi. 7 ln Schriftform erstmals ais: R. Hofstadter, "The Paranoid Style in American Politics", in: Harper's Magazine, November 1964, S. 77-86. 8 L. Raphael: .Historikerkontroversen im Span-nungsfeld zwischen Beru&habitus, Fãcherkon-kurrenz und sozialen Deutungsmustern. Lam-precht-Streit und franzõsischer Methodenstreit der Jahrhundertwende der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive", in: Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 325-363. 9 L. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturge-schichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Gõttingen 1984; C. Devulder, l'.histoire en Allemagne au 19e siecle. Méthode et pensée historique chez Leopold von Ranke, Johann Gu-stav Droysen, Karl Lamprecht, Paris Univ. Diss. 1987. 1 O G. Diesener, Karl Lamprecht weiterdenken. Universal- und Kulturgeschichte heute, Leipzig 1993. 11 V gl. auch die dichte Folge der mit Stig Fõrster herausgegebenen Tagungsbãnde (aus denen auch die hier abgedruckten Au&ãtze zum Thema stammen): AnticipatingTotal War. The German and American Experiences, 1871-1914, Cam-bridge 1999; Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000; The Shadows of Totat War. Europe, East Asia, and the United States 1919-1939, Cambridge 2002; A World at Total War: Global Conflict and the Politics of Destruction, 1939-1945, Cambridge 2005. 

Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsätze über patriotischen Aktionismus, Geschichtskultur und totalen Krieg (= Pallas Athene, Band 21), Stuttgart:: Franz Steiner Verlag 2007, 357 Seiten.

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Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsätze über patriotischen Aktionismus, Geschichtskultur und totalen Krieg (= Pallas Athene, Band 21), Stuttgart:: Franz Steiner Verlag 2007, 357 Seiten.

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